OGH 10ObS267/02s

OGH10ObS267/02s22.10.2002

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Hoch sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Johannes Pflug (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Gottfried Winkler (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Josef N*****, ohne Beschäftigung, *****, vertreten durch Dr. Manfred Ainedter und Dr. Friedrich Trappel, Rechtsanwälte in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, 1092 Wien, Roßauer Lände 3, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 17. April 2002, GZ 10 Rs 94/02w-47, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 21. November 2001, GZ 22 Cgs 32/00g-43, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Unbestritten steht fest, dass der am 15. 7. 1948 geborene Kläger keinen Beruf, insbesondere auch nicht jenen des Berufskraftfahrers, erlernt hat. Er übte nach den Feststellungen während der letzten 15 Jahre von dem Stichtag hauptsächlich eine Tätigkeit als LKW-Chauffeur aus, wobei er auch mit Fahrten in das Ausland betraut war. Er erledigte Zollformalitäten, be- und entlud den LKW und nahm kleinere Reparaturarbeiten wie beispielsweise die Reinigung des Treibstofftanks bei schlechtem Treibstoff, die Entlüftung der Treibstoffanlage und dergleichen vor. Der Kläger weist keine spezifischen Kenntnisse des Gefahrenguttransportes auf; er besitzt auch keine Berechtigung zum Transport von Gefahrengut. Der Kläger ist aufgrund der im Einzelnen festgestellten gesundheitlichen Leiden nur mehr in der Lage, leichte Arbeiten im Wechsel von Sitzen und Stehen zu verrichten. Ausgeschlossen sind Tätigkeiten mit der linken oberen Extremität über Schulterniveau sowie vermehrt gebeugte oder gebückte Arbeiten unter Tischniveau. Nicht mehr zumutbar sind Arbeiten unter dauerndem besonderem Zeitdruck (Band- und Akkordarbeiten), sofern es sich nicht um gewohnte Tätigkeiten handelt. Der Kläger ist unterweisbar und kann eingeordnet werden, die Fingerfertigkeit ist erhalten. Das Zurücklegen der Anmarschwege ist gewährleistet. Krankenstände sind bei Kalkülseinhaltung nicht zu erwarten. Nach einer zumutbaren Heilbehandlung wäre der Kläger auch wieder für Arbeiten mit Höhenexposition geeignet.

Der Kläger ist auf Grund seines medizinischen Leistungskalküls nicht mehr in der Lage, die Tätigkeit eines Berufskraftfahrers auszuüben. Er könnte aber auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt jedenfalls noch die Tätigkeit eines Tagportiers in Ämtern sowie größeren Industrie- und Gewerbebetrieben verrichten.

Mit Bescheid vom 30. 11. 1999 lehnte die beklagte Partei den Antrag des Klägers vom 30. 7. 1999 auf Zuerkennung der Invaliditätspension mit der Begründung ab, dass er nicht invalid sei. Der Kläger, der keinen Berufsschutz genieße, sei noch im Stande, eine auf dem Arbeitsmarkt bewertete Tätigkeit auszuüben.

Dagegen richtet sich die Klage auf Gewährung der Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß ab dem Stichtag. Der Kläger genieße Berufsschutz als (angelernter) Berufskraftfahrer und sei nicht mehr im Stande, diese Tätigkeit weiterhin auszuüben.

Die beklagte Partei beantragt die Abweisung des Klagebegehrens mit der Begründung, dass der Kläger, der in den letzten 15 Jahren von dem Stichtag als Chauffeur (ohne Berufsschutz) gearbeitet hat, noch im Stande sei, verschiedene Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verrichten.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren unter Zugrundelegung der eingangs wiedergegebenen Feststellungen ab. Dabei vertrat es die Rechtsauffassung, dass der Kläger die Qualifikation eines angelernten Berufskraftfahrers nicht aufweise. Seine Kenntnisse über den Transport gefährlicher Güter auf Straßen entsprächen bestenfalls jenen eines durchschnittlichen Autofahrers, was dem Fehlen von Kenntnissen gleichgesetzt werden könne. Somit komme dem Kläger kein Berufsschutz als Berufskraftfahrer zu. Der Kläger müsse sich daher auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisen lassen. Das medizinische Leistungskalkül erlaube ihm noch die Verrichtung verschiedener Verweisungstätigkeiten.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Es verneinte das Vorliegen der geltend gemachten Verfahrensmängel, hielt die Tatsachen- und Beweisrüge für nicht berechtigt und schloss sich auch der rechtlichen Beurteilung des Erstgerichtes an. Der Kläger verfüge nicht über die Kenntnisse und Fähigkeiten, welche der Erlernung oder Anlernung des Berufes eines Berufskraftfahrers gleichzuhalten seien; insbesondere verfüge er nicht über spezifische Kenntnisse aus dem Bereich des Gefahrenguttransportes. Dagegen richtet sich die Revision des Klägers aus den Gründen der Mangelhaftigkeit des Verfahrens und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung im Sinne der Stattgebung des Klagebegehrens abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei hat keine Revisionsbeantwortung erstattet.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist im Sinne des gestellten Aufhebungsantrages berechtigt.

Ein angelernter Beruf liegt nach § 255 Abs 2 ASVG vor, wenn der Versicherte eine Tätigkeit ausübt, für die es erforderlich ist, durch praktische Arbeit qualifizierte Kenntnisse und Fähigkeiten zu erwerben, welche jenen in einem erlernten Beruf gleichzuhalten sind. Nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes ist der Berufsschutz nicht erst dann zu bejahen, wenn der Versicherte alle Kenntnisse und Fähigkeiten besitzt, die nach den Ausbildungsvorschriften (hier: Berufskraftfahrer - Ausbildungsverordnung BGBl 1995/902; gleichermaßen auch die hiedurch aufgehobenen Verordnungen BGBl 1987/396 und BGBl 1992/508) zum Berufsbild des Lehrberufes zählen und daher einem Lehrling während der Lehrzeit zu vermitteln sind. Es kommt vielmehr darauf an, dass er über die Kenntnisse und Fähigkeiten verfügt, die üblicherweise von Ausgelernten (Facharbeitern) des jeweiligen Berufes in dessen auf dem Arbeitsmarkt gefragten Varianten (Berufsgruppe) unter Berücksichtigung einer betrieblichen Einschulungszeit verlangt werden. Es reicht allerdings nicht aus, wenn sich die Kenntnisse und Fähigkeiten nur auf ein Teilgebiet oder mehrere Teilgebiete eines Tätigkeitsbereiches beschränken, die von Ausgelernten (Facharbeitern) allgemein in viel weiterem Umfang beherrscht werden. Das Fehlen von einzelnen, nicht zentralen Kenntnissen und Fähigkeiten eines Lehrberufes steht dagegen der Annahme des Berufsschutzes nicht entgegen (SSV-NF 14/36; 12/5 mwN u.v.a).

Die Klärung der Frage, ob ein Versicherter Berufsschutz genießt, ist in allen Fällen, in denen - wie im vorliegenden Fall - ausgehend vom Bestehen eines Berufsschutzes die Verweisbarkeit in Frage gestellt ist, eine unabdingbare Entscheidungsvoraussetzung. Das Gericht hat in diesem Fall aufgrund der Bestimmung des § 87 Abs 1 ASGG die Frage des Berufsschutzes von Amtswegen zu überprüfen und hierüber Feststellungen zu treffen (SSV-NF 14/36 mwN u.a.;). Die Frage, ob ein angelernter Beruf vorliegt, ist keine von einem (berufskundlichen) Sachverständigen zu lösende Tatfrage, sondern eine Rechtsfrage. Grundlage für die Lösung dieser Rechtsfrage bilden Tatsachenfeststellungen einerseits über die Anforderungen, die an einen gelernten Arbeiter in diesem Beruf in der Praxis üblicherweise gestellt werden und andererseits über die Kenntnisse und Fähigkeiten, über die der Versicherte im konkreten Fall verfügt (SSV-NF 13/51; 6/69 mwN u.v.a; RIS-Justiz RS0084563).

Zutreffend macht der Revisionswerber geltend, dass für den von den Vorinstanzen angestellten Vergleich der von ihm angelernten und ausgeübten Kenntnisse und Fähigkeiten mit jenen, die üblicherweise am Arbeitsmarkt von einem gelernten Berufskraftfahrer verlangt werden, die notwendige Tatsachengrundlage fehlt. Das Erstgericht hat dazu neben der unstrittigen Tatsache, dass der Kläger während der letzten 15 Tage vor dem Stichtag hauptsächlich als LKW-Chauffeur tätig war, lediglich festgestellt, dass er dabei auch mit Fahrten in das Ausland betraut war, Zollformalitäten erledigte und Be- und Entladearbeiten sowie kleinere Reparaturarbeiten durchführte, jedoch über keine spezifischen Kenntnisse des Gefahrenguttransportes verfügt und auch keine Berechtigung zum Transport von Gefahrengut besitzt. Bei der weiteren "Feststellung", der Kläger weise nicht die Kenntnisse auf, die der Erlernung oder Anlernung eines Berufskraftfahrers gleichzuhalten wären, handelt es sich, wie bereits dargelegt, um eine vorweggenommene rechtliche Beurteilung, für die allerdings das erforderliche Tatsachensubstrat fehlt.

Dem Argument der Vorinstanzen, bereits das festgestellte Fehlen von speziellen Kenntnissen über den Transport gefährlicher Güter und das Fehlen einer Berechtigung zum Transport von Gefahrengut schließe eine Qualifikation des Klägers als angelernter Berufskraftfahrer aus, ist unter Hinweis auf die Ausführungen des Obersten Gerichtshofes in den Entscheidungen 10 ObS 435/97m (= SSV-NF 12/5) und 10 ObS 256/99s (= SSV-NF 14/36) entgegenzuhalten, dass das bloße Fehlen einer Bescheinigung über die Gefahrengutlenkerschulung der Annahme eines Berufsschutzes im Beruf des Berufskraftfahrers nicht entgegensteht. Es steht auch im vorliegenden Verfahren nicht fest, wie weit solche Kenntnisse bei gelernten Kraftfahrern in der Praxis überhaupt vorausgesetzt werden. Dies wird im weiteren Verfahren zu prüfen sein. Im Hinblick darauf, dass sehr verschiedene Arten von Gefahrgütern in Frage kommen (explosive bzw brennbare Stoffe, strahlendes Material, Säuren u.a.), die jeweils spezifische Kenntnisse erfordern, ist es nicht auszuschließen, dass hier zwar allenfalls gewisse Grundkenntnisse verlangt werden, die speziellen Kenntnisse über die im Einzelfall nach der Art des Betriebes transportierte Gütern aber im Rahmen einer betrieblichen Einschulung vermittelt werden (SSV-NF 14/36; 12/5). Der vom Erstgericht in diesem Zusammenhang zitierten Entscheidung SSV-NF 9/63 lag ein Sachverhalt zu Grunde, nach dem der damalige Kläger ausschließlich Viehtransporte im Inland durchgeführt hatte. Ihm fehlten Kenntnisse des internationalen Transportwesens, sodass schon aus diesem Grund die Annahme eines Anlernberufes nicht in Frage kam. Dem gegenüber führte der Kläger im vorliegenden Verfahren auch Auslandsfahrten durch und verfügt demnach ganz offenbar über weitergehende Kenntnisse als der in der Entscheidung SSV-NF 9/63 beurteilte Versicherte.

Im vorliegenden Verfahren fehlen insbesondere auch Feststellungen über die mit der Tätigkeit eines Berufskraftfahrers im Hinblick auf Grundkenntnisse für den grenzüberschreitenden Verkehr üblicherweise verbundenen Anforderungen (Grundkenntnisse der wichtigsten, auch fremdsprachigen Fachausdrücke für das Transportwesen, über Beförderungsverträge, über den einschlägigen Zahlungsverkehr, die in- und ausländischen Verkehrswege, über die für den Straßengüterverkehr wesentlichen, über das bloße Handhaben der für die Beförderung erforderlichen Papiere einschließlich der Zollformalitäten hinausgehenden Rechtsvorschriften usw). Zu den Kenntnissen, die im Rahmen des Lehrberufes eines Berufskraftfahrers zu vermitteln sind, gehört auch die Ausbildung im Handels- und Transportrecht, kaufmännischen Rechnen und Schriftverkehr etc., wobei allerdings der Mangel an Kenntnissen von im Rahmen der Berufsausbildung vermittelten theoretischen Fächern nur dann ins Gewicht fällt, wenn es sich um Kenntnisse handelt, die für die praktische Ausübung der Tätigkeit eines Berufskraftfahrers am Arbeitsmarkt erforderlich sind. Es ist daher festzustellen, wie weit solche Kenntnisse in der Praxis von gelernten Berufskraftfahrern tatsächlich verlangt werden sowie in welchem Umfang der Kläger über einschlägige Kenntnisse verfügt bzw ob und wieweit diese hinter den in der Praxis verlangten Kenntnissen zurückbleiben (SSV-NF 14/36; 12/5).

Sollte im fortgesetzten Verfahren auf Grund dieser ergänzend zu treffenden Feststellungen der Berufsschutz des Klägers bejaht werden, wird weiters zu prüfen sein, ob nicht auch noch andere einschlägige, wenn auch nicht unmittelbar mit dem Lenken von Kraftfahrzeugen verbundene Verweisungsberufe wie beispielsweise der Beruf eines Fuhrparkleiters für den Kläger in Betracht kämen. Allgemein ist für eine zulässige Verweisung entscheidend, dass sich die Tätigkeit, auf die der Versicherte mit Berufsschutz verwiesen werden soll, qualitativ hervorhebt und nicht bloß untergeordnet ist; die Teiltätigkeit muss noch als Ausübung des erlernten (angelernten) Berufes angesehen werden können (SSV-NF 14/36 mwN u.a.). Es zeigt sich somit, dass für die abschließende Beurteilung wesentliche Fragen ungeklärt blieben, weshalb die Entscheidungen der Vorinstanzen zur Ergänzung des Verfahrens in diesen Punkten aufzuheben und die Sozialrechtssache an das Erstgericht zur Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurückzuverweisen war. Die Beurteilung der Frage, welche Beweisaufnahmen für die aufgetragene Verfahrensergänzung notwendig sind, obliegt den Tatsacheninstanzen. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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