OGH 10ObS435/97m

OGH10ObS435/97m13.1.1998

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Ehmayr und Dr.Danzl als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Mag.Dr.Gerhard Fuchs (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr.Anton Wladar (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Dobrivoje S*****, vertreten durch Dr.Hannelore Kettl-Gassner, Rechtsanwältin in Salzburg, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, 1092 Wien, Roßauer Lände 3, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 11. September 1997, GZ 12 Rs 207/97s-31, womit infolge Berufung des Klägers das Urteil des Landesgerichtes Salzburg als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 28.April 1997, GZ 20 Cgs 159/95w-22, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben.

Die Sozialrechtssache wird zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten erster Instanz.

Text

Begründung

Der am 5.9.1943 im ehemaligen Jugoslawien geborene Kläger arbeitete nach achtjährigem Schulbesuch zunächst in der Landwirtschaft und kam - nach Ableistung des Militärdienstes in seiner Heimat - 1970 nach Österreich, wo er zunächst als Hilfsarbeiter beschäftigt war. In dieser Zeit erwarb er die Führerscheinklassen A, B, C und E. Seit 1975 war er im Fernverkehr als Kraftfahrer tätig, von 1981 bis 1992 bei einer internationalen Transportfirma, daran anschließend bis Ende 1994 als Kraft- und Fernfahrer. Der Kläger hat allerdings keine Berufskraftfahrerausbildung absolviert. Als Fernfahrer mußte er laden und abladen, die Planen des Lkw in die Höhe geben, diese aufmachen und dann wieder heruntergeben. Im internationalen Fernverkehr war er hauptsächlich zwischen Österreich und Italien, aber auch in Deutschland, den Niederlanden und der Schweiz eingesetzt. Auch führte auch Fahrtenbücher, war im wesentlichen über die Beladevorschriften seiner Fahrzeuge (die überwiegend im Metalltransport eingesetzt waren) informiert, hatte jedoch keine spezifischen Kenntnisse über die Ladung gefährlicher Güter oder anderer Transportgüter. Der Kläger war auch in der Lage, Zollpapiere selbst auszufüllen. Größere Reparaturen an Lastwagen, wie zB Motor- oder Getriebereparaturen, mußte er nicht verrichten. Er hatte auch keine Kenntnis in der Metallverarbeitung. Kleinere Reparaturarbeiten, zB Ölwechsel und Abschmieren wurden vom Kläger jedoch durchgeführt. Reifenwechsel, Einsetzen von Dichtungen, Wechsel des Keilriemens, Beheben von Defekten in der elektronischen oder optischen Ausrüstung, Erneuerungen der Bremsbeläge wurden von ihm nicht durchgeführt. Der Kläger war schließlich auch in der Lage, die Strecken- und Terminplanung vorzunehmen. Spezifische Kenntnisse des Handels- und Transportrechtes bestanden bei ihm nicht.

Zufolge seines Leidenszustandes (insbesondere ausgehend von diskreten Ischiasnervenwurzel-Ausfällen beiderseits bei L 5 und einer chronischen Lumbalgie/ Adipositas) ist der Kläger nur mehr in der Lage, körperlich leichte bis fallweise mittelschwere Arbeiten zu verrichten, was bedeutet, daß drei Viertel der Arbeit als leicht definierbar sein muß. Die Arbeiten können im Gehen, Stehen und Sitzen verrichtet werden, wobei ein häufiger Haltungswechsel zu fordern ist. Nach einstündiger Arbeit in einer gewissen Körperhaltung benötigt der Kläger 15 Minuten, um in einer anderen Körperhaltung weiterarbeiten zu können. Ein Wechsel zwischen Sitzen und Stehen ist ausreichend. Er kann in geschlossenen Räumen ohne Kälte, Zugluft- und Nässeexposition tätig werden. Ein Acht-Stunden-Tag ohne über das physiologische Ausmaß hinausgehende Pausen ist nur bei Arbeiten ohne Anforderung auf Tempo, Konzentration und Auffassungsvermögen zu fordern. Stoßzeiten kann er nur kurzfristig standhalten. Heben und Tragen ist bis 5 kg, fallweise bis 10 kg zumutbar. Häufiges Bücken, Treppensteigen, Arbeiten auf Leitern oder Gerüsten sowie auf Maschinen oder am Fließband sind zu vermeiden. Der Anmarschweg unterliegt keinen Einschränkungen.

Mit Bescheid vom 8.6.1995 lehnte die beklagte Partei den Antrag des Klägers auf Zuerkennung der Invaliditätspension ab.

In seiner dagegen erhobenen Klage stellte er das Begehren, ihm diese ab Stichtag im gesetzlichen Höchstausmaß zu gewähren.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es beurteilte den eingangs - zusammengefaßt - wiedergegebenen Sachverhalt rechtlich dahin, daß der Kläger keinen Berufsschutz nach § 255 Abs 2 ASVG in Anspruch nehmen könne, weil seine festgestellten Kenntnisse nur unwesentlich über jene, die von jedem Lenker eines Schwerfahrzeuges anläßlich der Führerscheinprüfung verlangt würden, hinausgingen. Seine Invalidität sei daher nach § 255 Abs 3 ASVG zu beurteilen. Am allgemeinen Arbeitsmarkt stünden ihm - ausgehend vom Leistungskalkül - insbesondere die Verweisungsberufe eines Portiers oder Parkgaragenkassiers offen.

Das Berufungsgericht gab der vom Kläger gegen dieses Urteil erhobenen Berufung nicht Folge. Es pflichtete dem Erstgericht bei, daß dem Kläger insgesamt Berufsschutz als angelernter Berufskraftfahrer nicht zukomme.

Gegen dieses Urteil richtet sich die auf die Revisionsgründe der Mangelhaftigkeit des Verfahrens, der Aktenwidrigkeit und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung gestützte Revision des Klägers mit dem Antrag, die Urteile der Vorinstanzen im Sinne einer Klagestattgebung abzuändern; hilfsweise wird auch ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Revision ist gemäß § 46 Abs 3 ASGG auch ohne Vorliegen der Voraussetzungen des Abs 1 leg cit zulässig und im Sinne des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrages auch berechtigt. Die beklagte Partei hat keine Revisionsbeantwortung erstattet.

Rechtliche Beurteilung

Den Schwerpunkt des Rechtsmittels bilden dessen Ausführungen (vorrangig eingebettet in den Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung) zum von den Vorinstanzen verneinten, vom Revisionswerber hingegen für sich bejahten Berufsschutz als angelernter Berufskraftfahrer. Nach § 255 Abs 2 ASVG liegt ein angelernter Beruf im Sinne des Abs 1 dieser Gesetzesstelle vor, wenn der Versicherte eine Tätigkeit ausübt, für die es erforderlich ist, durch praktische Arbeit qualifizierte Kenntnisse und Fähigkeiten zu erwerben, welche jenen in einem erlernten Beruf gleichzuhalten sind. Nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes ist der Berufsschutz nicht erst dann zu bejahen, wenn der Versicherte alle Kenntnisse und Fähigkeiten besitzt, die nach den Ausbildungsvorschriften (hier: Ausbildungsverordnung BGBl 1995/902; gleichermaßen auch die hiedurch aufgehobenen Verordnungen BGBl 1987/396 und 1992/508) zum Berufsbild des Lehrberufes zählen und daher einem Lehrling während der Lehrzeit zu vermitteln sind. Es kommt vielmehr darauf an, daß er über die Kenntnisse und Fähigkeiten verfügt, die üblicherweise von Ausgelernten (etwa Facharbeitern) des jeweiligen Berufes in dessen auf dem Arbeitsmarkt gefragten Varianten (Berufsgruppe) unter Berücksichtigung einer betrieblichen Einschulungszeit verlangt werden. Es reicht allerdings nicht aus, wenn sich die Kenntnisse und Fähigkeiten nur auf ein Teilgebiet oder mehrere Teilgebiete eines Tätigkeitsbereiches beschränken, der von Ausgelernten (Facharbeitern) allgemein in viel weiterem Umfang beherrscht werden (SSV-NF 2/78, 3/70, 10 ObS 301/97f). Das Fehlen von einzelnen, nicht zentralen Kenntnissen und Fähigkeiten eines Lehrberufes steht dagegen der Annahme des Berufsschutzes nicht entgegen (10 ObS 301/97f). An die Feststellung der Tatsacheninstanzen, daß ein Kläger in seiner bisherigen Berufstätigkeit keine qualifizierten Kenntnisse (eines bestimmten Lehrberufes) erworben hat, ist der Oberste Gerichtshof grundsätzlich gebunden (SSV-NF 4/166, 7/88, 8/21, 10 ObS 2388/96s).

Der Oberste Gerichtshof hat sich mit dem Berufsbild eines Berufskraftfahrers in den letzten Jahren bereits in zahlreichen Entscheidungen zu befassen gehabt (SSV-NF 2/66 = SZ 61/147, SSV-NF 4/80, 8/17, 9/35, 9/63; des weiteren [unveröffentlicht] 10 ObS 124/93, 10 ObS 257/93, 10 ObS 57/95, 10 ObS 130/97h). Danach genießt ein Versicherter dann keinen Berufsschutz als angelernter Berufskraftfahrer, wenn er die am Berufsbild des Lehrberufes eines Berufskraftfahrers entsprechend der in Geltung stehenden und bereits zitierten Ausbildungs- verordnung zu messenden, üblicherweise und allgemein beherrschten Kenntnisse und Fähigkeiten nicht zu erfüllen vermag (SSV-NF 8/103, 10 ObS 124/93, 10 ObS 130/97h).

Fest steht, daß der Kläger keine Berufskraftfahrerausbildung absolviert hat, doch hat er nach den Feststellungen Tätigkeiten verrichtet, die maßgebliche Kenntnisse erfordern, die Gegenstand dieser Ausbildung sind. Er war im internationalen Güterverkehr tätig, kannte die wesentlichen Beladevorschriften, wickelte die Zollformalitäten selbständig ab und war auch in der Lage, die notwendige Routen- und Terminplanung vorzunehmen. Wie bereits ausgeführt, könnte dies jedoch nicht zur Bejahung des Berufsschutzes führen, wenn gelernte Kraftfahrer über viel weitergehende Kenntnisse verfügen, die in der Praxis von einschlägigen Facharbeitern auch verlangt werden.

Auszugehen ist davon, daß der Kläger keine Kenntnisse bezüglich Gefahrenguttransporten hat. Es steht aber nicht fest, wie weit solche Kenntnisse bei gelernten Kraftfahrern vorausgesetzt werden. Im Hinblick darauf, daß sehr verschiedene Arten von Gefahrengütern in Frage kommen (explosive bzw brennbare Stoffe, strahlendes Material, Säuren ua), die jeweils spezifische Kenntnisse erfordern, ist es nicht auszuschließen, daß hier zwar allenfalls gewisse Grundkenntnisse verlangt werden, die speziellen Kenntnisse über die im Einzelfall nach der Art des Betriebes transportierten Güter im Rahmen einer betrieblichen Einschulung vermittelt werden. Wie weit der Kläger über allfällig erforderliche Grundkenntnisse auf diesem Gebiet verfügte bzw welche Anforderungen diesbezüglich an einen Facharbeiter gestellt werden, wird im weiteren Verfahren zu prüfen sein.

Auch der Mangel an Kenntnissen von im Rahmen der Berufsausbildung vermittelten theoretischen Fächern fällt nur dann ins Gewicht, wenn es sich um Kenntnisse handelt, die für die praktische Ausübung der Tätigkeit eines Berufskraftfahrers am Arbeitsmarkt erforderlich sind. Nach der zitierten Rechtsprechung kommt es in erster Linie darauf an, was von gelernten Arbeitern am Arbeitsmarkt üblicherweise verlangt wird. Die Ausbildung im Handels- und Transportrecht, kaufmännischen Rechnen und Schriftverkehr, im einschlägigen Zahlungsverkehr, in Grundkenntnissen des Versicherungwesens, der Beförderungsverträge, des Handels- Straf- und Verwaltungsrechtes und Zollvorschriften sowie Warenkunde zählt zwar zu den Kenntnissen, die im Rahmen des Lehrberufes eines Berufskraftfahrers zu vermitteln sind, es steht aber nicht fest, wie weit sie in der Praxis von gelernten Arbeitern tatsächlich verlangt werden sowie in welchem Umfang der Kläger über einschlägige Kenntnisse verfügt bzw ob und wie weit diese hinter den in der Praxis verlangten Kenntnissen zurückbleiben.

Der Entscheidung SSV-NF 9/63 lag ein Sachverhalt zugrunde, nach dem der dortige Kläger ausschließlich Viehtransporte im Inland durchgeführt hatte. Ihm fehlten Kenntnisse des internationalen Transportwesens, sodaß schon aus diesem Grund die Annahme eines Anlernberufes nicht in Frage kam. Im Hinblick darauf, daß der Kläger im vorliegenden Verfahren über weitergehende Kenntnisse verfügt und daher die Voraussetzungen für den geltendgemachten Berufsschutz nicht von vornherein verneint werden können, erweist sich die Feststellungsgrundlage im aufgezeigten Sinn ergänzungsbedürftig. Dabei wird auch auf die in der Revision relevierten Fragen des Erfordernisses von Kenntnissen über vor allem größere Reparaturarbeiten als zum Berufsbild gehörig einzugehen sein. Aus den ergänzenden und in der Streitverhandlung vom 28.10.1996 mündlich erstatteten Gutachten des berufskundlichen Sachverständigen ist der - noch näher zu hinterfragende - Schluß jedenfalls nicht von vorneherein abzulehnen, daß insbesondere größere Reparaturarbeiten offenbar nicht zum (üblicherweise verlangten) Berufsbild gehören, wobei der Genannte auch ausführte, daß der Kläger "eigentlich alle wesentlichen Tätigkeiten aus dem Berufsbild des Berufskraftfahrers als Lehrberuf erfüllt mit Ausnahme der praktischen Tätigkeiten der Reparaturen am Lkw".

Es zeigt sich somit - zusammenfassend -, daß für die abschließende Beurteilung wesentliche Fragen ungeklärt blieben, weshalb die Entscheidungen der Vorinstanzen zur Ergänzung des Verfahrens in diesen Punkten aufzuheben und die Sozialrechtssache an das Erstgericht zur Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurückzuverweisen war.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO iVm § 2 Abs 1 ASGG.

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