OGH 11Os121/02

OGH11Os121/021.10.2002

Der Oberste Gerichtshof hat am 1. Oktober 2002 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Kuch als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Ebner, Dr. Habl, Dr. Zehetner und Dr. Danek als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Teffer als Schriftführerin, in der Strafsache gegen Ernst T***** wegen des Verbrechens des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB und weiterer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom 5. Juli 2002, GZ 031 Hv 72/02m-41, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Nichtigkeitsbeschwerde wird Folge gegeben, das angefochtene Urteil - das in seinem freisprechenden Teil unberührt bleibt - im Übrigen aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht verwiesen.

Mit seiner Berufung wird der Angeklagte auf diese Entscheidung verwiesen.

Text

Gründe:

Mit dem angefochtenen Urteil - das auch einen rechtskräftigen Teilfreispruch enthält - wurde Ernst T***** der Verbrechen (zu I./) des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB, (zu II./) der gleichgeschlechtlichen Unzucht mit Personen unter 18 Jahren nach § 209 StGB, sowie (zu III./) des Vergehens des Missbrauchs eines Autoritätsverhältnisses nach § 212 Abs 1 StGB schuldig erkannt.

Danach hat er in Wien

I./ wiederholt mit Unmündigen dem Beischlaf gleichzusetzende geschlechtliche Handlungen, nämlich Oral- und Analverkehr, vorgenommen, und zwar von Ende 1998 bis 20. November 1999 mit dem am 21. November 1985 geborenen Gerhard W***** und von Ende 1998 bis 12. November 2000 mit dem am 13. November 1986 geborenen Michael W*****; II./ wiederholt mit den Genannten durch Anal-, Oral- und Handverkehr gleichgeschlechtliche Unzucht getrieben, und zwar von 21. November 1999 bis Anfang März 2002 mit Gerhard W***** und von 13. November 2000 bis Anfang März (gemeint:) 2002 mit Michael W*****; III./ durch die zu I./ und II./ genannten Handlungen unter Ausnützung seiner Stellung gegenüber seiner Aufsicht unterstehenden Minderjährigen Gerhard und Michael W***** zur Unzucht missbraucht, um sich geschlechtlich zu befriedigen.

Dagegen richtet sich die auf § 281 Abs 1 Z 3 StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten.

Rechtliche Beurteilung

Der Verfahrensrüge nach Z 3 kommt Berechtigung zu. Denn das Schöffengericht hat das schriftliche Gutachten der Sachverständigen Dr. Göttling in der Hauptverhandlung verlesen, ohne dass eine der hiefür erforderlichen Voraussetzungen des § 252 Abs 1 StPO vorgelegen wäre. Zum einen wurde die Sachverständige zur Hauptverhandlung trotz bestehender Möglichkeit nicht geladen (§ 252 Abs 1 Z 1 StPO), zum anderen lag aber nach dem Inhalt des Hauptverhandlungsprotokolls (S 371, 375) auch kein Einverständnis der Parteien zur Verlesung vor (§ 252 Abs 1 Z 4 StPO). Dazu reicht nämlich in der Regel das widerspruchslose Hinnehmen einer nach § 252 Abs 1 StPO unzulässigen Verlesung allein (selbst durch einen anwaltlich vertretenen Angeklagten) noch nicht aus, ist doch der Beschwerdeführer - anders als nach § 281 Abs 1 Z 2 StPO - nach § 252 Abs 1, § 281 Abs 1 Z 3 StPO nicht verpflichtet, sich durch ausdrückliche Verwahrung gegen die Verlesung erst die formelle Legitimation für die Geltendmachung des Nichtigkeitsgrundes zu verschaffen. Zwar ist, da § 252 Abs 1 Z 4 StPO eine ausdrückliche Einverständniserklärung nicht verlangt, auch eine konkludente Zustimmung zur Verlesung an sich möglich (vgl EvBl 1994/138 und JBl 1995, 537), doch ist dazu erforderlich, dass über das bloße Unterbleiben eines Widerspruches hinaus noch weitere konkrete Anhaltspunkte (wie zB der ausdrückliche Verzicht auf die Vernehmung des Sachverständigen) dafür vorliegen müssen, die unzweideutig auf ein Verlesungseinverständnis schließen lassen. Das im konkreten Fall vorliegende bloße Unterbleiben eines Widerspruches gegen die Verlesung erfüllt demnach die Kriterien für die Annahme einer konkludenten Zustimmung nicht (vgl JBl 1997, 800; 13 Os 202/96; 15 Os 101/00).

Weil nicht auszuschließen ist, dass die Formverletzung auf die Entscheidung einen für den Angeklagten nachteiligen Einfluss geübt hatte (s insb US 8 f), war das angefochtene Urteil daher bereits in nichtöffentlicher Sitzung aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zu verweisen (§ 285e StPO).

Stichworte