OGH 10ObS95/02x

OGH10ObS95/02x17.9.2002

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Schramm sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Gustav Liebhart (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Peter Schönhofer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Paul S*****, vertreten durch Dr. Alfred Richter, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Land Wien, vertreten durch den Magistrat der Stadt Wien, Schottenring 24, 1010 Wien, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen Pflegegeld, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 29. November 2001, GZ 7 Rs 397/01f-18, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 2. Juli 2001, GZ 13 Cgs 103/01h-9, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen und zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Die Revision wegen Nichtigkeit wird zurückgewiesen. Im Übrigen wird der Revision nicht Folge gegeben.

Der Kläger hat die Kosten seines Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Dem 1970 geborenen Kläger wurde mit Bescheid der Oberösterreichischen Landesregierung vom 8. 9. 1997 ab Juni 1997 unter Anrechnung der Hälfte des Erhöhungsbetrags zur Familienbeihilfe für erheblich behinderte Kinder von monatlich 825 S ein Pflegegeld der Stufe 3 in Höhe von monatlich 4.865 S im Hinblick auf seine schwere Sehbehinderung gewährt.

Weil der Kläger am 31. 1. 2000 seinen Wohnsitz von Oberösterreich nach Wien verlegte, wurde ihm mit Bescheid der Oberösterreichischen Landesregierung vom 2. 2. 2000 das Pflegegeld mit Ablauf des Monats Jänner 2000 entzogen.

Unter Übermittlung des Zuerkennungsbescheids, des Entziehungsbescheids sowie der ärztlichen Sachverständigengutachten ersuchte die Oberösterreichische Landesregierung mit Schreiben vom 2. 2. 2000 den Magistrat der Stadt Wien um Übernahme der Pflegegeldgewährung ab 1. 2. 2000, weil der Kläger am 31. 1. 2000 seinen Wohnsitz nach Wien verlegt habe.

Am 7. 2. 2000 beantragte der Kläger beim Magistrat der Stadt Wien die Gewährung eines Pflegegelds nach dem WPGG. In diesem Antrag gab er an, dass erhöhte Familienbeihilfe bezogen werde.

Mit Bescheid des Magistrats der Stadt Wien vom 14. 2. 2000 wurde dem Kläger ab 1. 2. 2000 Pflegegeld in Höhe der Stufe 3 von monatlich 4.865 S (353,55 EUR) gewährt und gleichzeitig ausgesprochen, dass vom Erhöhungsbetrag der Familienbeihilfe für erheblich behinderte Kinder ein Betrag von 825 S (59,96 EUR) monatlich anzurechnen ist. Gemäß § 8 Abs 3 WPGG gebühre das Pflegegeld bei Verlegung des Hauptwohnsitzes von einem anderen Bundesland nach Wien unter der Voraussetzung der Gegenseitigkeit dem Anspruchsberechtigten bei Erfüllung der Anzeigepflicht ab Beginn des auf die Verlegung folgenden Monats, das sei der 1. 2. 2000. Werde von der Behörde, die dem Anspruchsberechtigten vor der Verlegung des ordentlichen Wohnsitzes gewährt habe, eine Information nach § 8 Abs 1 zweiter Satz WPGG gegeben, sei das Pflegegeld ohne Durchführung eines eigenen Ermittlungsverfahrens in gleicher Höhe zuzuerkennen. Daher werde mit diesem Bescheid das Pflegegeld der Stufe 3, das seien 4.865 S (353,55 EUR) monatlich, zuerkannt.

Mit Bescheid des Magistrats der Stadt Wien vom 1. 2. 2001 wurde dem Kläger mit Ablauf des März 2001 das Pflegegeld der Stufe 3 entzogen, weil nunmehr ein Pflegebedarf von monatlich 10 Stunden vorliege.

Mit seiner gegen diesen Bescheid gerichteten Klage begehrt der Kläger, die Beklagte sei schuldig, ihm Pflegegeld ab 1. 4. 2001 zu bezahlen. Sein Zustand habe sich nicht verbessert, er sei nach wie vor hochgradig sehbehindert, ihm stehe daher Pflegegeld der Stufe 3 weiterhin zu.

Die Beklagte beantragte die Klageabweisung, weil beim Kläger kein Pflegebedarf in einem Ausmaß bestehe, das die Gewährung von Pflegegeld ermögliche.

Das Erstgericht erkannte die Beklagte schuldig, dem Kläger Pflegegeld der Stufe 4 ab dem 1. 4. 2001 zu gewähren. Es ging dabei von folgenden Feststellungen aus:

Der Kläger leide an einer angeborenen Kleinheit beider Augäpfel und an einem Augenzittern. Beide Augen seien in der Kindheit wegen Grauen Stars operiert und nachoperiert worden. Auf dem rechten Auge bestehe die Sehschärfe für Lichtempfindung, Gläser besserten nicht. Das rechte Auge sei mit dem Erkennen von Lichtempfindungen praktisch erblindet. Das linke Auge habe mit einer Korrektur einer Linsenlosigkeit mit Kontaktlinse eine Sehschärfe von 0,05. Das Gesichtsfeld dieses Auges sei auf 25 Grad konzentrisch für die Marke III/4 eingeschränkt. Die Einschränkung entspreche in der Ausdehnung einer Hemianopsie. Wegen des beträchtlichen Augenzitterns sei auch diese Gesichtsfeldausdehnung nicht verwertbar. Der Kläger sei als blind zu bezeichnen. Der Zustand bestehe seit Antragstellung. Das Leiden sei nicht besserungsfähig.

In rechtlicher Hinsicht führte es aus, nach dem WPGG sei ein Pflegebedarf bei blinden Personen entsprechend der Stufe 4 anzunehmen. Als blind gelte unter anderem auch, wer am besseren Auge mit optimaler Korrektur eine Sehleistung mit einem Visus von kleiner oder gleich 0,06 in Verbindung mit einer Hemianopsie habe. Das Berufungsgericht wies die von der Beklagten gegen dieses Urteil erhobene Berufung wegen Nichtigkeit zurück, gab ihr im Übrigen teilweise Folge und änderte das angefochtene Urteil dahin ab, dass es die Beklagte schuldig erkannte, dem Kläger über den Ablauf des März 2001 hinaus laufend weiterhin Pflegegeld in der Höhe der Stufe 3 von monatlich 4.865 S (= 353,55 EUR) binnen 14 Tagen zu gewähren. Gleichzeitig sprach es aus, dass vom Erhöhungsbetrag der Familienbeihilfe für erheblich behinderte Kinder ein Betrag von 825 S (= 59,96 EUR) monatlich anzurechnen ist. Einen Mehrzuspruch auf Stufe 4 wies es ab. Es übernahm die Feststellungen des Erstgerichts als Ergebnis eines mängelfreien Beweisverfahrens und einer zutreffenden Beweiswürdigung. Im Rahmen der Entscheidung über die Herabsetzung einer Pflegegeldleistung seien nur die objektiven Grundlagen im Tatsächlichen für den seinerzeitigen Anspruch selbständig zu prüfen. Ob daraus ein diagnosebezogener Anspruch oder ein funktionsbezogener abzuleiten sei, sei nicht entscheidend. Nur eine Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen rechtfertige einen Eingriff in die Rechtskraft einer vorausgegangenen Entscheidung. Die tatsächlichen Verhältnisse hätten sich nicht geändert. Der Kläger sei zwar als blind im Sinn des § 4a Abs 5 WPGG einzustufen, sodass grundsätzlich die Voraussetzungen für ein Pflegegeld in Höhe der Stufe 4 gegeben wären. Der Kläger habe jedoch nur Pflegegeld der Stufe 3 begehrt. Mit dem Zuspruch von Pflegegeld der Stufe 4 habe das Erstgericht gegen § 405 ZPO verstoßen. Dieser Verfahrensmangel sei auf Grund der entsprechenden Rüge der Berufungswerberin wahrzunehmen. Da dem Kläger Pflegegeld der Stufe 3 gebühre, sei das angefochtene Urteil unter Berücksichtigung des gemäß § 6 WPGG anzurechnenden Erhöhungsbetrags der Familienbeihilfe für erheblich behinderte Kinder wie aus dem Spruch ersichtlich abzuändern gewesen.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers aus den Revisionsgründen der Nichtigkeit, der Mangelhaftigkeit des Verfahrens und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, es im Sinn des Zuspruchs von Pflegegeld der Stufe 4 in Höhe von 8.535 S abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt. Die Beklagte hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nicht berechtigt.

Der Revisionswerber macht geltend, bis zum Ende der mündlichen Streitverhandlung wäre eine Klagsänderung hinsichtlich des Gesundheitszustands und Ausmaßes der Leistung zulässig gewesen. In gleicher Weise könne das Gericht ohne Klageänderung eine vom Antrag abweichende Entscheidung fällen. Daher habe das Erstgericht zu Recht Pflegegeld der Stufe 4 zugesprochen. Der Kläger sei vom Erstgericht nicht über eine zulässige Klagsänderung belehrt worden, sodass ein erheblicher Verfahrensmangel vorliege. Das Berufungsgericht habe ohne Gründe ausgesprochen, dass vom Erhöhungsbetrag der Familienbeihilfe für erheblich behinderte Kinder 825 S anzurechnen seien, obwohl der Bezug des Erhöhungsbetrags weder festgestellt noch erörtert worden sei. Es sei unklar, ob beim gewährten Pflegegeld von 4.865 S die 825 S schon angerechnet oder noch anzurechnen seien. Das Pflegegeld der Stufe 3 betrage monatlich 5.690 S. Die Anrechnung sei auch nicht begründet worden, sodass eine Nichtigkeit im Sinn des § 477 Abs 1 Z 9 ZPO vorliege.

Dem ist zu erwidern:

§ 7 Abs 4 WPGG (entsprechend § 9 Abs 4 BPGG) bestimmt, dass das Pflegegeld zu entziehen ist, wenn eine Voraussetzung für die Gewährung von Pflegegeld wegfällt, und das Pflegegeld neu zu bemessen ist, wenn eine für die Höhe des Pflegegelds wesentliche Veränderung eintritt. Diese Regelung entspricht bezüglich der (teilweisen) Entziehung der Regelung des § 99 Abs 1 ASVG. Danach setzt ein Leistungsentzug eine wesentliche, entscheidende Änderung in den Verhältnissen voraus, wobei für den anzustellenden Vergleich die Verhältnisse im Zeitpunkt der Leistungszuerkennung mit denen im Zeitpunkt des Leistungsentzugs in Beziehung zu setzen sind; nicht gerechtfertigt ist der Leistungsentzug, wenn nachträglich festgestellt wird, dass die Leistungsvoraussetzungen von Beginn an gefehlt haben. Haben die objektiven Grundlagen der Leistungszuerkennung keine wesentliche Änderung erfahren, so steht die Rechtskraft der Gewährungsentscheidung der Entziehung entgegen (SZ 71/16; SSV-NF 10/110; SSV-NF 14/51). Wer also beanspruchen kann, dass ihm eine regelmäßig gewährte Leistung nicht entzogen wird, hat damit nichts anderes als einen Anspruch auf Weitergewährung eben dieser Leistung (solange sich die Voraussetzungen nicht tatsächlich ändern; SSV-NF 10/110 mwN). Haben sich die tatsächlichen (oder rechtlichen) Verhältnisse nicht geändert, kommt weder eine Entziehung noch eine Neubemessung (Herabsetzung oder Erhöhung) des Pflegegelds in Betracht (vgl SSV-NF 12/143 mwN; 10 ObS 280/00z). Eine bloß abweichende rechtliche Beurteilung rechtfertigt einen Eingriff in die Rechtskraft einer Vorentscheidung nicht (SSV-NF 12/143 mwN; 10 ObS 280/00z) Wird der Entziehungs(Herabsetzungs)bescheid bekämpft und kommt im sozialgerichtlichen Verfahren hervor, dass die für die verfügte Entziehung (Herabsetzung) notwendige Änderung der Sach- oder Rechtslage nicht verwirklicht ist, so entfaltet die ursprüngliche Gewährungsentscheidung eine Bindungswirkung für das Gericht, das diesfalls somit den ursprünglichen Leistungsbefehl zu restituieren hat (Fink, Die sukzessive Zuständigkeit im Verfahren in Sozialrechtssachen 572).

Da sich seit der Gewährungsentscheidung durch die Beklagte weder die Rechtslage noch - nach den Feststellungen der Vorinstanzen - die objektiven Grundlagen der Leistungszuerkennung geändert haben, war dem Kläger Pflegegeld der Stufe 3 - nicht mehr und nicht weniger - zuzusprechen. Einer Heranziehung des § 405 ZPO bedurfte es gar nicht. Der in der Unterlassung einer Anleitung durch das Erstgericht erblickte Verfahrensmangel kann nicht gegeben sein. Gemäß § 5 WPGG beträgt das Pflegegeld in Höhe der Stufe 3 5.690 S (ab 1. 1. 2002 353,55 EUR). Gemäß § 6 Satz 2 WPGG ist vom Erhöhungsbetrag der Familienbeihilfe für erheblich behinderte Kinder ein Betrag von 825 S (ab 1. 1. 2002 59,96 EUR) monatlich anzurechnen. Eine solche gesetzlich gebotene Anrechnung beeinflusst zwar weder die Einstufung des Betroffenen in eine bestimmte Pflegegeldstufe oder auch nur seinen Pflegebedarf, wohl aber die Höhe des auszuzahlenden Betrags (10 ObS 381/98x). Eine für die Höhe des Pflegegelds wesentliche Veränderung wird daher auch dann angenommen, wenn sich die gemäß § 6 WPGG anrechenbaren Geldleistungen ändern (Gruber/Pallinger, BPGG § 9 Rz 9; Pfeil, BPGG 129 unter Hinweis auf die Gesetzesmaterialien). Würde umgekehrt der Erhöhungsbetrag der Familienbeihilfe für erheblich behinderte Kinder nicht mehr bezogen, dann ist eine für die Höhe des Pflegegelds wesentliche Veränderung eingetreten. Diese führt zu einer Erhöhung des Pflegegelds allerdings gemäß § 21 Abs 4 WPGG nur über Antrag, wobei der Antragsteller die wesentliche Änderung glaubhaft zu bescheinigen hat. Da der Kläger gar nicht behauptete, der Erhöhungsbetrag werde nicht mehr bezogen, musste es - mangels Behauptung einer Änderung der Sachlage - bei der im Gewährungsbescheid erfolgten Anrechnung und dem so ermittelten Auszahlungsbetrag bleiben. Das hat das Berufungsgericht zutreffend erkannt und zugesprochen. Von einer begründungslosen Anrechnung kann daher nicht die Rede sein, sodass die Revision, soweit sie Nichtigkeit geltend macht, zurückzuweisen war.

Die im angefochtenen Urteil ausgesprochene Anrechnung verdeutlicht nur, weshalb der urteilsmäßig auszuzahlende Betrag nicht die Höhe des für das zuerkannte Pflegegeld der Stufe 3 zustehenden Betrags erreicht.

In der Sache war daher der Revision der Erfolg zu versagen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.

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