Spruch:
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit S 2.029,44 bestimmten halben Kosten des Revisionsverfahrens (darin enthalten S 338,42 Umsatzsteuer) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Der am 30. 4. 1942 geborene Kläger bezog seit 1989 den Erhöhungsbetrag der Familienbeihilfe nach § 8 Abs 4 FamLAG und seit 1. 4. 1992 vom beklagten Land auf Grund eines Bescheides vom 31. 7. 1992 ein Pflegegeld nach dem Wiener Behindertengesetz von S 2.149,-
monatlich. Nach der Übergangsbestimmung des § 26 Wiener Pflegegeldgesetz (kurz WPGG) war dem Kläger daher von Amts wegen mit Wirkung vom 1. 7. 1993 nach den Vorschriften dieses Gesetzes ein Pflegegeld in Höhe der Stufe 2 zu gewähren; ihm galt ein Pflegegeld in Höhe dieser Stufe als rechtskräftig zuerkannt. Dieses betrug 1993 S 3.500,-, 1994 S 3.588,- und seit 1995 S 3.688,- monatlich.
Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid der beklagten Partei vom 23. 7. 1996 wurde der dem Kläger als Pflegegeld der Stufe 2 auszuzahlende Betrag ab 1. 9. 1996 in Anrechnung (§ 6 WPGG) des halben Erhöhungsbetrages der Familienbeihilfe für erheblich behinderte Kinder von S 825,- auf S 2.863,- herabgesetzt. In der Begründung wurde darauf verwiesen, daß auf Grund eines behördlichen Versehens diese Anrechnung nach § 6 WPGG bisher unterblieben sei und daß die Änderung nicht rückwirkend erfolge.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Klage mit dem Begehren, das Pflegegeld ohne Anrechnung des Betrages von S 825,-, also in voller Höhe der Stufe 2 von S 3.688,- monatlich auszuzahlen. Zur Begründung führte der Kläger aus, eine Neubemessung sei nach § 7 Abs 2 WPGG nur dann vorzunehmen, wenn eine für die Höhe des Pflegegeldes wesentliche Veränderung eintrete; eine solche liegen aber nicht vor. Die beklagte Partei sei daher an die materielle Rechtskraft des "Gewährungsbescheides" weiterhin gebunden. Sie habe die Tatsache des Bezuges einer erhöhten Familienbeihilfe auch seit Jahren gekannt.
Die beklagte Partei beantragte die Abweisung des Klagebegehrens. Sie sei zur Herabsetzung des Pflegegeldbetrages um den halben Erhöhungsbetrag der Familienbeihilfe berechtigt gewesen, weil auch die Voraussetzungen für eine Rückforderung dieses Betrages nach § 10 WPGG vorliegen würden: Der Sachwalter des Klägers habe erkennen müssen, daß das Pflegegeld nicht in diesem Ausmaß gebührte.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es schloß sich dem Standpunkt der beklagten Partei an, daß sie im Juli 1997 (richtig 1996) zur Rückforderung gemäß § 10 Abs 2 WPGG berechtigt gewesen sei, weil dem Sachwalter des Klägers bekannt sein mußte, daß ein infolge Nichtanrechnung der halben Familienbeihilfe erhöhtes Pflegegeld ausgezahlt werde. Hingegen sei ihr selbst als Entscheidungsträger die Kenntnis eines für Pflegegeldsachen nicht zuständigen Sozialreferates der Magistratsabteilung 12 vom Bezug der erhöhten Familienbeihilfe nicht zurechenbar. Sie habe daher das Pflegegeld - unter Abstandnahme von der Rückforderung - für die Zukunft durch die nach § 6 WPGG vorgesehene Anrechnung neu bemessen können.
Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung unter Hinweis auf die zutreffende rechtliche Beurteilung des Erstgerichtes. Als eigenständige Begründung fügte es lediglich an, die "Kenntnis eines dezentralisierten Sozialreferates" bedeute noch nicht, daß "die Kenntnis dieser Tatsache auch dem Entscheidungsträger der betreffenden Magistratsabteilung bekannt" sei. Nur darauf könne es jedoch bei Voraussetzung einer "positiven Kenntnis des Magistrates vom Ersatzgrund" ankommen.
Die gegen dieses Urteil von der klagenden Partei wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung erhobene Revision ist - im Ergebnis - nicht berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
Die Rechtsrüge wird dahin ausgeführt, daß die Voraussetzungen für die Rückforderung eines um S 825,- monatlich zu hoch ausgezahlten Pflegegeldes nicht erfüllt seien und daher die materielle Rechtskraft des "Gewährungsbescheides" nicht durchbrochen werden könne. Der beklagten Partei sei bereits im Jänner 1991 bekannt gewesen, daß der Kläger die erhöhte Familienbeihilfe beziehe.
Auf die damit vom Kläger, aber auch von den Vorinstanzen aufgeworfenen Fragen kommt es aus folgenden rechtlichen Überlegungen nicht an:
Es trifft zwar zu, daß das Pflegegeld nach § 9 Abs 2 BPGG oder dem gleichlautenden § 7 Abs 2 WPGG dann neu zu bemessen ist, wenn eine für die Höhe des Pflegegeldes wesentliche Veränderung eintritt, worunter etwa zu verstehen ist, daß sich der Pflegebedarf des Betroffenen in erheblicher Weise ändert, also die Gewährung einer anderen Pflegegeldstufe erforderlich macht (Pfeil, Neuregelung der Pflegevorsorge in Österreich, 265 f, 300 ff; derselbe, BPGG 128 f; Gruber/Pallinger, BPGG 63 Rz 8 zu § 9). Der Oberste Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang wiederholt betont, daß nur eine Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen einen Eingriff in die Rechtskraft einer vorausgegangenen Entscheidung rechtfertigt und daß diesbezüglich die gleichen Grundsätze zu gelten haben, die etwa auch bei der Entziehung sonstiger Leistungsansprüche nach § 99 ASVG oder bei der Neufeststellung einer Versehrtenrente nach § 183 ASVG angewendet werden (zum Pflegegeld: SSV-NF 9/52; 10 ObS 453/97h; 10 ObS 278/98z; zu sonstigen Ansprüchen etwa SSV-NF 3/86, 6/71 oder 10 ObS 2060/96f). Hingegen können Pflegegelder, die bis 30. 6. 1995 nicht durch eine rechtskräftige Entscheidung, sondern durch bloße "Mitteilung" über die Stufe 2 hinaus zuerkannt wurden, hinsichtlich des die Stufe 2 übersteigenden Ausmaßes auch ohne Änderung des bei der Zuerkennung vorgelegenen Zustands entzogen werden, weil damit nicht in die Rechtskraft einer Entscheidung eingegriffen wird (SSV-NF 10/110; vgl auch 10 ObS 278/98z, wonach ein ohne Bescheid zuerkanntes, bloß zum 1. 7. 1993 übergeleitetes Pflegegeld ohne Änderung der Verhältnisse herabgesetzt werden kann).
Im vorliegenden Fall geht es zunächst um die zur Vermeidung von Doppelleistungen erlassene Antikumulierungsnorm des § 6 WPGG (entsprechend dem § 7 BPGG), wonach Geldleistungen, die wegen Pflegebedürftigkeit nach anderen innerstaatlichen oder ausländischen Vorschriften gewährt werden, auf das Pflegegeld nach diesem Gesetz anzurechnen sind (Satz 1) und der Erhöhungsbetrag der Familienbeihilfe für erheblich behinderte Kinder gemäß § 8 Abs 4 FamLAG zur Hälfte anzurechnen ist (Satz 2). Eine solche gesetzlich gebotene Anrechnung beeinflußt zwar weder die Einstufung des Betroffenen in eine bestimmte Pflegegeldstufe oder auch nur seinen Pflegebedarf, wohl aber die Höhe des auszuzahlenden Betrages. Eine die Höhe des Pflegegeldes wesentliche Veränderung wird daher auch dann angenommen, wenn sich die nach den genannten Vorschriften anrechenbaren Geldleistungen ändern (Gruber/Pallinger aaO Rz 9; Pfeil, BPGG 129 unter Hinweis auf die Gesetzesmaterialien). Deshalb sind Anspruchsberechtigte, Anspruchswerber, gesetzliche Vertreter und Sachwalter nach § 10 BPGG bzw § 9 WPGG grundsätzlich verpflichtet, jede ihnen bekannte Veränderung in den Voraussetzungen für den Pflegegeldbezug, die den Verlust eine Minderung, das Ruhen des Anspruchs oder eine Anrechnung auf das Pflegegeld begründet, binnen vier Wochen dem Entscheidungsträger anzuzeigen.
Dennoch kann im vorliegenden Fall - entgegen der Auffassung der Vorinstanzen - dahingestellt bleiben, ob und wann dem Kläger bzw seinem Sachwalter auffiel oder auffallen mußte, daß der halbe Erhöhungsbetrag der Familienbeihilfe entgegen § 6 WPGG nicht anrechnet wurde oder wann die beklagte Partei vom Bezug dieses Erhöhungsbetrages Kenntnis erlangte. Ausschlaggebend ist nämlich, daß der angefochtene Bescheid vom 23. 7. 1996 nicht in die Rechtskraft einer über die auszuzahlende Höhe des dem Kläger gebührenden Pflegegeldes absprechenden Entscheidung eingegriffen hat. Nach den Feststellungen wurde dem Kläger lediglich einmal das Pflegegeld zuerkannt, nämlich mit Bescheid vom 31. 7. 1992 nach dem Wiener Behindertengesetz 1986 in einer Höhe von S 2.149,- monatlich. Diese "bisherige pflegebezogene Geldleistung" wurde - ohne daß der Pflegebedarf neu zu prüfen oder über das Pflegegeld ein neuer Bescheid zu erlassen war - allein auf Grund des Übergangsrechtes (§ 26 WPGG, ähnlich § 38 BGPP) von Amts wegen mit Wirkung vom 1. 7. 1993 in ein Pflegegeld der Stufe 2 umgewandelt; dem Kläger galt nach dem Wortlaut des § 26 Satz 2 WPGG "ein Pflegegeld in Höhe der Stufe 2 als rechtskräftig zuerkannt". Daraus folgt, daß sich die Frage der Rechtskraft dieser Zuerkennung nur auf die Voraussetzungen der Pflegegeldstufe 2, nicht aber etwa auf allfällige Geldleistungen erstreckt, die nach § 6 WPGG anzurechnen waren. Eine der Rechtskraft fähige Entscheidung über die Anrechnung oder Nichtanrechnung des hier in Rede stehenden halben Erhöhungsbetrages der Familienbeihilfe ist - vor dem angefochtenen Bescheid - nie ergangen und wurde auch vom Übergangsrecht nicht substituiert. Die beklagte Partei konnte daher jederzeit die Anrechnung nach § 6 WPGG für die Zukunft vornehmen, ohne in die Rechtskraft einer Entscheidung über diese Anrechnung auf das Pflegegeld oder auch nur über die der Pflegegeldstufe 2 entsprechende ziffernmäßige Höhe des Auszahlungsbetrages einzugreifen. Daß sie dies nicht früher, sondern erst im Jahr 1996 tat, gereichte dem Kläger nicht zum Nachteil; eine Rückforderung der in der Vergangenheit möglicherweise zu Unrecht bezogenen Leistungen wurde von der beklagten Partei nie begehrt und ist daher nicht Gegenstand des Verfahrens.
Damit erweisen sich die Entscheidungen der Vorinstanzen im Ergebnis als richtig, weshalb der Revision ein Erfolg zu versagen war.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Mit Rücksicht auf die schwierige Rechtslage entspricht es der Billigkeit, dem Kläger die Hälfte seiner Kosten des Revisionsverfahrens zuzusprechen (SSV-NF 6/61, 7/80 ua).
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