OGH 10ObS149/02p

OGH10ObS149/02p27.8.2002

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Schramm sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Martin Gleitsmann (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Walter Benesch (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Virgil H*****, vertreten durch Dr. Gerald Kreuzberger, Rechtsanwalt in Graz, gegen die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, 1200 Wien, Adalbert-Stifter-Straße 65, vertreten durch Dr. Vera Kremslehner, Dr. Josef Milchram, Dr. Anton Ehm und Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Versehrtenrente, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 24. Jänner 2002, GZ 7 Rs 298/01z-26, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Graz als Arbeits- und Sozialgericht vom 4. Oktober 2001, GZ 32 Cgs 216/99z-22, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass die Entscheidung zu lauten hat:

"Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei für die Folgen des Arbeitsunfalls vom 25. 8. 1997 ab 1. 10. 1999 bis 13. 7. 2000 eine Versehrtenrente im Ausmaß von 55 vH der Vollrente und eine Zusatzrente in Höhe von 20 vH der Versehrtenrente sowie ab 14. 7. 2000 eine Versehrtenrente im Ausmaß von 50 vH der Vollrente und eine Zusatzrente in Höhe von 20 vH der Versehrtenrente im gesetzlichen Ausmaß zu leisten und binnen 14 Tagen die mit 439,53 EUR (darin enthalten 73,25 EUR Umsatzsteuer) bestimmten Verfahrenskosten zu ersetzen."

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 485,66 EUR (darin 80,84 EUR Umsatzsteuer) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Die klagende Partei hat die Kosten ihrer Revisionsbeantwortung selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Mit Bescheid der Beklagten vom 10. 3. 1998 wurde der Unfall, den der Kläger am 25. 8. 1997 im Betrieb seines Dienstgebers als Spenglergehilfe erlitt, gemäß § 175 Abs 1 ASVG als Arbeitsunfall anerkannt. Gemäß § 209 Abs 1 ASVG wurde ihm eine vorläufige Versehrtenrente von 50 vH der Vollrente sowie eine Zusatzrente von 20 vH der Versehrtenrente ab 2. 2. 1998 zuerkannt. Dieser Bescheid erwuchs in Rechtskraft.

Mit Bescheid der Beklagten vom 17. 8. 1999 wurde anstelle der vorläufigen Versehrtenrente gemäß § 209 Abs 1 ASVG eine Dauerrente von 30 vH der Vollrente festgestellt, die monatlich 4.315,10 S (313,59 EUR) betrage.

Das Erstgericht gab der dagegen erhobenen Klage statt und erkannte die Beklagte schuldig, dem Kläger ab 1. 10. 1999 eine Dauerrente von 55 vH der Vollrente sowie eine 20 %-ige Zusatzrente jeweils im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren und die mit 6.048 S bestimmten Verfahrenskosten zu ersetzen. Es stellte fest, dass die unfallskausale Minderung der Erwerbsfähigkeit vom 1. 10. 1999 bis 13. 7. 2000 55 vH und ab 14. 7. 2000 noch 50 vH betrage. Aus diesem Grund sei dem Kläger die Versehrtenrente ab 1. 10. 1999 im Ausmaß von 55 vH der Vollrente zu gewähren. Die Reduzierung der Minderung der Erwerbsfähigkeit um 5 vH bedeute keine wesentliche Änderung im Sinn des § 183 Abs 1 ASVG, weil das Mindestausmaß von 10 vH nicht erreicht werde und auch ein Rentenanspruch oder die Schwerversehrtheit weder entstehe noch wegfalle.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten gegen dieses Urteil nicht Folge. Es übernahm die Feststellungen des Erstgerichts und billigte auch dessen Rechtsansicht. Die erstmalige Dauerrentenfeststellung setze eine Änderung der Verhältnisse im Sinn des § 183 Abs 1 ASVG nicht voraus. Das Verfahren zur Feststellung der Dauerrente sei naturgemäß als Einheit aufzufassen, ohne dass es auf die Dauer des gerichtlichen Verfahrens über den außer Kraft gesetzten Bescheid ankäme. Daraus folge, dass das Erstgericht, das eine erstmalige Dauerrentenfeststellung mit 1. 10. 1999 vorzunehmen gehabt hätte, gar nicht berechtigt gewesen wäre, diese bereits mit 14. 7. 2000 (also innerhalb der einjährigen Sperrfrist des § 183 Abs 2 Satz 1 ASVG) um 5 vH auf 50 vH herabzusetzen. Diese Änderung im Ausmaß entspreche im Übrigen auch nicht den Kriterien, die § 183 Abs 1 ASVG für eine wesentliche Änderung der Verhältnisse voraussetze. Gegen das Urteil des Berufungsgerichtes richtet sich die Revision der beklagten Partei aus dem Grund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung der Sache, mit dem Antrag, es dahin abzuändern, dass eine Dauerrente im Ausmaß von 55 vH der Vollrente zuzüglich einer 20 %-igen Zusatzrente im gesetzlichen Ausmaß nur vom 1. 10. 1999 bis 13. 7. 2000 und ab 14. 7. 2000 eine Dauerrente im Ausmaß von 50 vH zuzüglich einer 20 %-igen Zusatzrente im gesetzlichen Ausmaß zuerkannt werde.

Der Kläger beantragt in seiner Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist berechtigt.

Die Revisionswerberin führt zusammengefasst aus, aus § 209 Abs 1 ASVG sei nicht abzuleiten, dass eine abgestufte Zuerkennung einer Dauerrente unzulässig wäre, wenn zum Zeitpunkt der Feststellung ersichtlich sei, dass sich der Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit verändere, weil sich der Gesundheitszustand bessere.

§ 183 Abs 2 ASVG stehe dem nicht entgegen, weil die einjährige Schutzfrist nur den Sinn haben könne, eine getroffene bescheidmäßige Feststellung mit einer gewissen "Mindesthaltbarkeit" zum Schutz des Versicherten auszustatten. Auf die im § 183 Abs 1 ASVG genannten Voraussetzungen komme es nicht an, weil nach § 209 Abs 1 ASVG die erstmalige Feststellung der Dauerrente eine Änderung der Verhältnisse nicht voraussetze.

Hiezu wurde erwogen:

Die Versehrtenrente wird nach dem Grad der durch den Arbeitsunfall herbeigeführten Minderung der Erwerbsfähigkeit bemessen (§ 205 Abs 1 ASVG). Die Rente beträgt jährlich, solange der Versehrte infolge des Arbeitsunfalles teilweise erwerbsunfähig ist, den Teil der Vollrente, der dem Grad der Minderung der Erwerbsfähgkeit entspricht (§ 205 Abs 2 Z 2 ASVG). Versehrte, die Anspruch auf eine Versehrtenrente von mindestens 50 vH haben, gelten als Schwerversehrte (§ 205 Abs 4 ASVG). Schwerversehrten gebührt eine Zusatzrente in der Höhe von 20 vH ihrer Versehrtenrenten. Auf die Zusatzrente sind die Bestimmungen über die Versehrtenrenten entsprechend anzuwenden (§ 205a Abs 1 und 2 ASVG).

Kann die Versehrtenrente während der ersten zwei Jahre nach dem Eintritt des Versicherungsfalls wegen der noch nicht absehbaren Entwicklung der Folgen des Arbeitsunfalls ihrer Höhe nach noch nicht als Dauerrente festgestellt werden, so hat der Träger der Unfallversicherung die Versehrtenrente als vorläufige Rente zu gewähren. Spätestens mit Ablauf des zweijährigen Zeitraums ist die Versehrtenrente als Dauerrente festzustellen; diese Feststellung setzt eine Änderung der Verhältnisse (§ 183 Abs 1 ASVG) nicht voraus und ist an die Grundlagen für die Berechnung der vorläufigen Rente nicht gebunden (§ 209 Abs 1 ASVG).

Aus dem letzten Satz folgt, dass bei der erstmaligen Feststellung der Dauerrente der Grad der Minderung der Erwerbsfähgkeit völlig neu bestimmt werden kann (stRsp zB SSV-NF 3/18; 6/15; RIS-Justiz RS0084336).

Der im § 209 Abs 1 ASVG genannte Zeitraum von zwei Jahren, während dessen eine vorläufige Rente gewährt werden kann, dient dazu, die Konsolidierung der Unfallfolgen abzuwarten. Die Entscheidung über die endgültige Rentenleistung soll erst erfolgen, wenn die Folgen des Unfalls in ihren dauernden Auswirkungen endgültig abschätzbar sind (SSV-NF 8/125). Für diese Entscheidung hat der Gesetzgeber eine Frist von zwei Jahren gesetzt. Der Senat hat dazu ausgesprochen, dass dann, wenn der Versicherungsträger die zwingende gesetzliche Vorschrift des § 209 Abs 1 ASVG nicht eingehalten hat, die vorläufige Rente mit der Rechtsfolge des § 183 Abs 2 ASVG hinsichtlich der Neufeststellung in die Funktion der Dauerrente tritt (SSV-NF 6/76; 7/117; 8/125), für die Einhaltung der Frist ist die Erlassung des Bescheids über die Dauerrente maßgebend, nicht aber der Zeitpunkt, in dem diese Feststellung infolge des § 99 Abs 3 ASVG wirksam wird (10 ObS 302/00k).

Gemäß § 183 Abs 2 ASVG kann die Dauerrente immer nur in Zeiträumen von mindestens einem Jahr nach der letzten Feststellung neu festgestellt werden, wenn zwei Jahre nach Eintritt des Versicherungsfalls abgelaufen sind oder innerhalb dieser Frist die Dauerrente (§ 209 ASVG) festgestellt worden ist. Die in Satz 2 dieser Bestimmung vorgesehenen Ausnahmen von dieser Einjahresfrist liegen im gegenwärtigen Fall nicht vor.

Im vorliegenden Fall ist die Beklagte ihrer Pflicht zur Feststellung der Dauerrente innerhalb der gesetzlichen Frist des § 209 Abs 1 ASVG nachgekommen. Der angefochtene, die Dauerrente erstmals feststellende Bescheid wurde dem Kläger am 18. 8. 1997 - daher innerhalb von zwei Jahren nach Eintritt des Versicherungsfalls - zugestellt. Mit der Zustellung an den Kläger wurde der keinem weiteren Rechtszug unterliegende Bescheid wirksam (SSV-NF 3/54). Tritt ein solcher Leistungsbescheid nicht durch eine rechtzeitige Klage außer Kraft (§ 71 Abs 1 ASGG), beginnt die Jahresfrist des § 183 Abs 2 Satz 1 ASVG mit der Zustellung des Leistungsbescheids (SSV-NF 3/54). Durch ihren Bescheid verhinderte die Beklagte, dass die vorläufige Rente in die Funktion der Dauerrente trat. Wenn es um die Beurteilung der fristgerechten Erlassung eines Bescheids geht, kann naturgemäß keine Rolle spielen, wielange das gerichtliche Verfahren über die den Bescheid außer Kraft setzende Klage dauert (SSV-NF 6/2). Durch die vorliegende Klage ist der Bescheid über die erstmalige Feststellung der Dauerrente außer Kraft getreten. Aus dem Vorgesagten folgt, dass die Vorinstanzen erstmals über einen Dauerrentenanspruch absprechen konnten, ohne an die Beschränkung des § 183 Abs 2 Satz 1 ASVG gebunden zu sein (SSV-NF 6/2).

Da es bei der erstmaligen Feststellung der Dauerrente nach der ausdrücklichen Vorschrift des § 209 Abs 1 ASVG nicht auf eine Änderung der Verhältnisse im Sinn des § 183 Abs 1 ASVG ankommt, sind - entgegen der Ansicht der Vorinstanzen - während des gerichtlichen Verfahrens, in dem erstmals über einen Dauerrentenanspruch zu erkennen ist, bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz eintretende relevante Änderungen der Minderung der Erwerbsfähigkeit zu berücksichtigen. Relevant ist eine Änderung der Minderung der Erwerbsfähigkeit, wenn sie mindestens 5 vH beträgt (Tomandl in Tomandl, SV-System, 13. ErgLfg 336) und mindestens drei Monate dauert (§ 203 Abs 1 ASVG). Die Bestimmung des § 183 Abs 1 ASVG bezieht sich auf Fälle, in denen die Dauerrente bereits wirksam festgestellt wurde. Die dort genannten Mindeständerungen der Minderung der Erwerbsfähigkeit als Voraussetzung für die Neufeststellung der Rente erklären sich daraus, dass in diesen Fällen in die Rechtskraft eines Bescheides eingegriffen wird, wofür der Gesetzgeber strengere Anforderungen normiert. Im Fall des Klägers liegt ein rechtskräftiger Dauerrentenbescheid nicht vor, so dass bei der Entscheidung auch Änderungen der Minderung der Erwerbsfähgikeit, die während des Verfahrens eingetreten sind, bei der Entscheidung selbst dann zu berücksichtigen sind, wenn sie unter den in § 183 Abs 1 ASVG genannten Grenzen liegen. Die Ansicht der Vorinstanzen würde auch zum Nachteil eines Versicherten ausschlagen, der den Leistungsbescheid über die erstmalige Feststellung der Dauerrente mit Klage bekämpft, wenn sich bei ihm durch die Folgen des Arbeitsunfalls während des gerichtlichen Verfahrens die Minderung der Erwerbsfähigkeit zwar (für mindestens drei Monate) erhöht, aber diese Änderung nicht 10 vH erreicht oder die Schwerversehrtheit entstehen lässt.

Aus diesen Gründen war der Revision stattzugeben und waren die Entscheidungen der Vorinstanzen entsprechend abzuändern. Die Entscheidung über die Kosten der I. und II. Instanz beruht auf § 77 Abs 2 ASGG. Die Entscheidung über die Kosten der Revisionsbeantwortung gründet sich auf § 77 Abs 1 lit b ASGG. Der Kläger ist im Revisionsverfahren zur Gänze unterlegen.

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