OGH 1Ob275/01z

OGH1Ob275/01z27.11.2001

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schlosser als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schiemer, Dr. Gerstenecker, Dr. Rohrer und Dr. Zechner als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Andreas K*, vertreten durch Dr. Stefan Hämmerle, Mag. Johannes Häusle und Mag. Gernot Schwendinger, Rechtsanwälte in Dornbirn, wider die beklagten Parteien 1) Brigitte B*, vertreten durch Dr. Otmar Simma, Rechtsanwalt in Dornbirn, und 2) Waltraud H*, vertreten durch Dr. Robert Schneider, Rechtsanwalt in Dornbirn, wegen 271.938 S sA und Feststellung (Streitwert 60.000 S) infolge ordentlicher Revision der zweitbeklagten Partei (Revisionsinteresse 311.938 S sA) gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom 2. Juli 2001, GZ 3 R 97/01s‑29, womit infolge Berufung der zweitbeklagten Partei das Urteil des Landesgerichts Feldkirch vom 20. Oktober 2000, GZ 7 Cg 1/00t‑17, bestätigt wurde, folgenden

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2001:E63949

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 16.363,80 S (darin 2.727,30 S Umsatzsteuer) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu bezahlen.

 

Begründung:

 

Das Erstgericht erkannte die Beklagten zur ungeteilten Hand schuldig, dem Kläger 251.938 S sA zu zahlen. Es stellte ferner fest, dass die Beklagten dem Kläger zur ungeteilten Hand für alle künftigen Schäden aus dem der Klage zugrunde liegenden Vorfall vom 31. 12. 1996 in Hohenems hafteten. Das Klagemehrbegehren von 20.000 S wies es hingegen ab.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Zweitbeklagten nicht Folge. Es sprach aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands 260.000 S übersteige und die ordentliche Revision zulässig sei. Nach dessen Ansicht ist § 1309 ABGB auf die Haftung des Erziehungsberechtigten für einen mündigen Minderjährigen nicht anzuwenden. Der Erziehungsberechtigte könne jedoch aufgrund einer vorwerfbaren Vernachlässigung seiner Aufsichtspflicht gemäß § 146 ABGB schadenersatzpflichtig werden, weil die elterliche Pflicht zur Beaufsichtigung eines Minderjährigen nicht mit dem Eintritt dessen Mündigkeit ende. An die Erfüllung der Aufsichtspflicht sei ein strenger Maßstab anzulegen, ohne deren Umfang zu überspannen. Bedeutsam seien das Alter, die Entwicklung und die Eigenarten des Kindes, die Vorhersehbarkeit eines schädigenden Verhaltens des Kindes sowie die Art und Wahrscheinlichkeit der vom Kind ausgehenden Gefährdung Dritter. Vor diesem Hintergrund sei maßgebend, was dem Aufsichtspflichtigen nach den jeweiligen Verhältnissen zumutbar sei. Abzustellen sei darauf, welche Maßnahmen verständige Eltern nach vernünftigen Anforderungen im konkreten Fall ergreifen müssten, um die Schädigung eines Dritten durch ihr Kind hintanzuhalten. Liege die Verletzung gesetzlicher Bestimmungen durch den Minderjährigen und eine daraus folgende Gefährdung der Rechtsgüter Dritter nahe, hätten die Eltern für den Schaden aus der schuldhaften Unterlassung zumutbarer Maßnahmen einzustehen. Der Sohn der Zweitbeklagten sei zum Tatzeitpunkt 15 Jahre und 3 Monate alt gewesen. Er habe den Kläger durch die Verwendung einer Schreckschusspistole - einer Waffe im Sinne des § 1 WaffenG - am Körper verletzt. Die Eltern hätten den Wunsch ihres Sohnes, eine solche Pistole zu besitzen, gekannt, sie hätten ihm jedoch den Erwerb einer solchen Waffe vor Vollendung seines 18. Lebensjahrs verboten. Der Mutter sei jedoch bewusst gewesen, dass sich ihr Sohn dennoch "eine solche Waffe zur tatsächlichen Verwendung anschaffen wolle". Sie habe am 31. 12. 1996 erfahren, dass sich ihr Sohn die Waffe - entgegen dem elterlichen Verbot - beschafft habe. Daraufhin habe sie ihren Sohn zwar erfolglos zur Herausgabe der Waffe aufgefordert, ihm verboten, mit der Waffe aus dem Haus zu gehen, und ihn beim Verlassen der Wohnung nach der Waffe abgetastet, sie habe es jedoch unterlassen, ihrem Sohn das Verlassen der Wohnung ohne die vorherige Herausgabe der Waffe zu verbieten und ihren Ehegatten, der sich in der Wohnung aufgehalten habe und von dem - nach den getroffenen Feststellungen - Abhilfe zu erwarten gewesen wäre, zu verständigen. Durch die Unterlassung dieser zumutbaren Maßnahmen habe die Zweitbeklagte ihre Aufsichtspflicht verletzt, habe sie doch gewusst, dass sich ihr Sohn die Waffe ‑ entgegen dem elterlichen Verbot - zur Verwendung am Silvesterabend beschafft habe. Die ordentliche Revision sei zulässig, weil die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Anwendbarkeit des § 1309 ABGB auf die Haftung eines Erziehungsberechtigten für die Schädigung eines Dritten durch einen mündigen Minderjährigen uneinheitlich sei und es ferner an einer gesicherten höchstgerichtlichen Rechtsprechung aus jüngerer Zeit zur Schadenersatzpflicht eines Erziehungsberechtigten infolge "Verletzung der Aufsichtspflicht über einen mündigen Minderjährigen" mangle.

Die Revision ist unzulässig.

Rechtliche Beurteilung

1. Die vom Berufungsgericht angenommene Divergenz in der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs bei Anwendung des § 1309 ABGB auf das schädigende Verhalten mündiger Minderjähriger besteht nicht. In den Entscheidungen SZ 44/8 (= EFSlg 15.619) und EvBl 1964/124 wurde nur verdeutlicht, dass die elterliche Aufsichtspflicht einem Minderjährigen gegenüber (auch) im Interesse des Schutzes der Rechtsgüter Dritter nicht schon mit Eintritt dessen Mündigkeit endet, sondern nach Vollendung des 14. Lebensjahrs andauert. Das wurde aus der elterlichen Erziehungspflicht abgeleitet. In der Entscheidung SZ 44/8 wurde die Haftung des Vaters wegen Verletzung der Aufsichtspflicht schließlich nur deshalb auf § 1309 ABGB gestützt, weil der Minderjährige das 14. Lebensjahr im Zeitpunkt des schädigenden Ereignisses noch nicht vollendet hatte.

2. Nach § 146 Abs 1 ABGB gehört zur Pflege eines Minderjährigen auch die Ausübung der unmittelbaren Aufsicht. Angesichts dieser Rechtslage sieht sich der erkennende Senat nicht veranlasst, von dem schon in der älteren Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs geprägten Grundsatz abzugehen, dass die Eltern ein minderjähriges Kind im Rahmen ihrer Erziehungspflicht - unabhängig von seinem Alter - auch deshalb zu beaufsichtigen haben, um Dritte vor Schäden infolge eines vorhersehbaren schuldhaft rechtswidrigen Verhaltens des (mündigen) Minderjährigen zu bewahren (SZ 44/8 = EFSlg 15.619; EvBl 1964/124; idS schon SZ 11/210). Das Berufungsgericht erläuterte überdies zutreffend den Umfang der Aufsichtspflicht nach den sich aus der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs ergebenden Leitlinien.

3. Die Zweitbeklagte teilt die Ansicht des Berufungsgerichts, sie habe für das schädigende Verhalten ihres mündigen Sohnes jedenfalls nicht nach § 1309 ABGB einzustehen. Sie wendet sich im Grundsätzlichen ferner nicht dagegen, dass die Eltern eines mündigen Minderjährigen für den Schaden eines Dritten aus der schuldhaften Vernachlässigung deren Aufsichtspflicht gemäß § 146 Abs 1 ABGB einzustehen haben. Sie meint jedoch, eine solche Haftung komme nur "in besonders krassen Fällen mangelnder Erziehung und Aufsicht" zum Tragen, weil der primäre gesetzliche Schutzzweck die Wahrung des Kindeswohls und - anders als bei § 1309 ABGB - "nicht der im Bereich des Schadenersatzrechts verankerte Schutz geschädigter Dritter" sei. Im Übrigen bemüht sich die Zweitbeklagte um den Nachweis, sie habe durch die von ihr getroffenen Maßnahmen der Aufsichtspflicht ohnehin entsprochen.

3. 1. Soweit die Zweitbeklagte versucht, den durch die Erfüllung der Aufsichtspflicht zu gewährleistenden Schutz Dritter vor Schäden in den Hintergrund zu drängen bzw an eine "besonders krasse" Verletzung der Aufsichtspflicht anzuknüpfen, ist ihren Ausführungen nicht beizutreten. Die Erfüllung der Aufsichtspflicht soll nicht nur Dritte vor Schäden bewahren, sie dient vielmehr gleichzeitig auch dem Wohl des mündigen Minderjährigen, soll dieser doch auch gegen allfällige Schadenersatzansprüche Dritter infolge eines durch die Erfüllung der Aufsichtspflicht vermeidbaren Verhaltens geschützt werden.

Verfehlt ist auch deren Ansicht, "es käme einer nach § 146a ABGB untersagten Anwendung von Gewalt gleich, hätte sie den Sohn am Silvesterabend eingesperrt (oder über ihren Ehegatten für ein solches Einsperren gesorgt) und ihm den natürlichen Aufenthalt mit gleichaltrigen Jugendlichen im Freien untersagt". Minderjährige haben die Anordnungen ihrer Eltern gemäß § 146a ABGB zu befolgen. Die Eltern sind befugt, ihre Anordnungen auch durchzusetzen. So ist etwa ein temporäres Ausgehverbot ein nach dem Gesetz erlaubtes Mittel zur Durchsetzung eines gerechtfertigten elterlichen Anliegens (Stabentheiner in Rummel, ABGB2 § 146a Rz 4).

Angesichts dieser Rechtslage ist in der Ansicht des Berufungsgerichts, die Zweitbeklagte hätte ihrem Sohn - im Rahmen zumutbarer Aufsichtsmaßnahmen - das Verlassen der Wohnung nur gegen Herausgabe der Waffe gestatten dürfen oder wenigstens ihren in der Wohnung anwesenden Ehegatten, von dem Abhilfe zu erwarten war, über den Waffenbesitz des Sohnes informieren müssen, zumindest keine gravierende Fehlbeurteilung als Voraussetzung der Zulässigkeit der Revision zu erblicken. In diesem Kontext ist von besonderer Bedeutung, dass die Zweitbeklagte wusste, dass sich ihr Sohn - dem elterlichen Verbot zuwider - eine Waffe beschaffte, um sie gerade am Silvesterabend zu verwenden. Wegen dieser Umstände konnte ein Abtasten des Sohnes nach einer mitgeführten Waffe, ehe er die Wohnung verließ, nicht genügen, weil sie geradezu zwingend damit rechnen musste, dass er die Waffe irgendwo versteckte, um sie nach dem Verlassen der elterlichen Wohnung an sich zu nehmen.

3. Der Oberste Gerichtshof ist bei der Prüfung der Zulässigkeit der Revision gemäß § 508a Abs 1 ZPO an einen Ausspruch des Berufungsgerichts nach § 500 Abs 2 Z 3 ZPO nicht gebunden. Aus allen bisherigen Erwägungen folgt, dass die Bejahung der Schadenersatzhaftung der Zweitbeklagten durch die Vorinstanzen keine erhebliche Rechtsfrage im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO aufwirft. Die Revision ist somit gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückzuweisen.

4. Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 41 und § 50 Abs 1 ZPO. Der Kläger wies auf die Unzulässigkeit der Revision der Zweitbeklagten hin. Seine Revisionsbeantwortung diente daher der zweckentsprechenden Rechtsverfolgung, weshalb ihm deren Kosten zu ersetzen sind.

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