OGH 10ObS261/01g

OGH10ObS261/01g30.10.2001

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Steinbauer und Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Karlheinz Kux (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Walter Benesch (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Anna H*****, Pensionistin, ***** vertreten durch Dr. Thomas Kitzberger, Rechtsanwalt in Wels, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten, Friedrich Hillegeist-Straße 1, 1021 Wien, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Ausgleichszulage, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 19. April 2001, GZ 11 Rs 71/01t-22, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Wels als Arbeits- und Sozialgericht vom 20. Dezember 2000, GZ 17 Cgs 2/00y-14, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen und zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird teilweise Folge gegeben.

Hinsichtlich der Abweisung des Begehrens auf Gewährung einer Ausgleichszulage im gesetzlichen Ausmaß vom 1. Juli 1999 bis 24. April 2001 wird das angefochtene Urteil als Teilurteil bestätigt.

Hinsichtlich des weiteren Klagebegehrens auf Gewährung einer Ausgleichszulage für den Zeitraum ab 25. April 2001 werden die Urteile der Vorinstanzen aufgehoben und die Sozialrechtssache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Entscheidungsgründe:

Die Ehe der Klägerin mit Franz H***** wurde mit Urteil des Kreisgerichts Wels vom 29. 4. 1986 (rechtskräftig 9. 6. 1986) gemäß § 55 Abs 3 EheG geschieden. Gemäß § 61 Abs 3 EheG wurde ausgesprochen, dass Franz H***** das überwiegende Verschulden an der Zerrüttung der Ehe treffe. Ein Unterhaltsvergleich wurde nicht geschlossen. Franz H***** hatte etwa seit dem Jahr 1973 keinen Unterhalt mehr bezahlt; die Klägerin hatte allerdings seitdem während aufrechter Ehe auch nie Unterhaltsforderungen gestellt. Sie hatte lediglich einige Male betont, dass sie von ihrem Gatten kein Geld beanspruche, sondern nur "eine Ruhe haben möchte". Anlässlich der Ehescheidung vereinbarten die Klägerin und ihr geschiedener Gatte, dass sie als aufgrund des Urteilsausspruches Unterhaltsberechtigte in Hinkmunft auf Leistungen aus diesem Titel verzichten wolle. Dementsprechend leistete Franz H***** auch ab der Ehescheidung keine Unterhaltszahlungen.

Die Klägerin bezieht seit dem Stichtag 1. 7. 1993 von der beklagten Partei die Alterspension. Am 30. 6. 1999 beantragte sie die Zuerkennung einer Ausgleichszulage, nachdem eine zuvor bezogene Leibrente von monatlich S 3.000,-- weggefallen war.

Die monatliche Pension der Klägerin beträgt S 6.593,70 brutto seit 1. 1. 2000 (S 6.496,70 brutto per 1. 10. 1999). Das monatliche Nettoeinkommen ihres geschiedenen Gatten beträgt per 1. 1. 2000 insgesamt S 13.355,-- (S 13.306,60 per 1. 10. 1999).

Mit Bescheid vom 5. 10. 1999 hat die beklagte Partei den Antrag der Klägerin auf Zuerkennung der Ausgleichszulage mit der Begründung abgelehnt, dass die Pension zuzüglich der pauschal anzurechnenden Unterhaltsleistung gegenüber dem geschiedenen Ehegatten den in Betracht kommenden Richtsatz von monatlich S 8.112,-- übersteige.

Das Erstgericht wies die dagegen erhobene Klage auf Gewährung einer Ausgleichszulage ab 1. 7. 1999 ab. Da ein im Sinne des § 294 Abs 5 ASVG wirksamer, vor dem 1. 7. 1983 abgegebener Unterhaltsverzicht der Klägerin nicht feststellbar sei, stehe ihr kein Anspruch auf Ausgleichszulage zu.

Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil. In rechtlicher Hinsicht führte es aus, dass der Verfassungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 27. Februar 2001, G 104/00-9, über Antrag des Oberlandesgerichts Innsbruck die Wortfolgen "b) den geschiedenen Ehegatten (die geschiedene Ehegattin)" sowie "b und" in § 294 Abs 1

1. Satz ASVG in der Fassung des Art IV Z 39 der 29. Novelle zum ASVG, BGBl 1973/31, des Art I Z 26 der 36. Novelle zum ASVG, BGBl 1981/282, und des Art IV Z 5 lit a der 48. Novelle zum ASVG, BGBl 1989/642, sowie die Worte "in den Fällen des Abs. 1 lit. b" in § 294 Abs 3 1. Satz ASVG in der Fassung des Art. IV Z 39 der 29. Novelle zum ASVG, BGBl 1973/31, als verfassungswidrig aufgehoben habe. Sei ein Gesetz wegen Verfassungswidrigkeit aufgehoben worden, seien alle Gerichte und Verwaltungsbehörden gemäß Art 140 Abs 7 B-VG an den Spruch des Verfassungsgerichtshofes gebunden; auf die vor der Aufhebung verwirklichten Tatbestände sei das Gesetz jedoch weiterhin anzuwenden, sofern der Verfassungsgerichtshof in seinem aufhebenden Erkenntnis nicht anderes ausgesprochen habe, was aber nicht geschehen sei. Somit sei im vorliegenden Fall § 294 Abs 1 lit b ASVG noch anzuwenden. Die Entscheidung habe aufgrund der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung erster Instanz zu erfolgen.

Nach dem mit der 51. ASVG-Novelle eingeführten § 294 Abs 5 ASVG habe eine pauschale Anrechung des gesetzlichen Unterhaltsanspruchs gemäß § 294 Abs 1 ASVG auf den Anspruch auf Ausgleichszulage nicht zu erfolgen, wenn die Ehe aus dem Verschulden des anderen Ehegatten geschieden worden sei, eine Unterhaltsleistung aus dieser Scheidung aufgrund eines Unterhaltsverzichts nicht erbracht werde und der Verzicht spätestens 10 Jahre vor dem Pensionsstichtag (hier: 1. 7. 1993) abgegeben worden sei. Somit sei im Fall der Klägerin ein spätestens am 30. 6. 1983 vereinbarter rechtswirksamer Unterhaltsverzicht zu beachten. Gemäß § 94 Abs 3 ABGB komme aber seit dem 1. 1. 1976 ein nach § 294 Abs 5 ASVG zu berücksichtigender Verzicht nicht mehr in Betracht, weil seitdem der Unterhaltsanspruch für die Zukunft dem Grunde nach unverzichtbar sei. Für den Zeitraum von 1973 bis 31. 12. 1975 sei nicht von einem stillschweigenden Verzicht auszugehen, zumal aus der bloßen Unterlassung der Geltendmachung eines Unterhaltsanspruchs auch über einen längeren Zeitraum hinweg noch kein Verzicht abgeleitet werden könne.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Klägerin aus den Revisionsgründen der Mangelhaftigkeit des Verfahrens und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im Sinne einer Klagsstattgebung abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist teilweise berechtigt.

Die gerügte Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens liegt nicht vor (§ 510 Abs 3 dritter Satz ZPO). Nach ständiger Rechtsprechung kann ein Mangel des erstgerichtlichen Verfahrens, der in der Berufung nicht beanstandet wurde, in der Revision nicht mehr geltend gemacht werden (SZ 23/352 uva; RIS-Justiz RS0043111). Dies gilt auch bei Verletzung des Amtswegigkeitsgrundsatzes der Beweisaufnahme (10 ObS 212/01a).

Im Hinblick auf das im Rechtsmittelverfahren in Sozialrechtssachen ausnahmslos geltende Neuerungsverbot des § 482 Abs 2 ZPO (SSV-NF 1/45, 4/148, 5/69 uva; RIS-Justiz RS0042049) ist von der in der Berufung nicht bekämpften Feststellung auszugehen, dass das monatliche Nettoeinkommen des geschiedenen Ehegatten der Klägerin per 1. 1. 2000 insgesamt S 13.355,-- (S 13.308,60 per 1. 10. 1999) beträgt.

Die rechtliche Beurteilung des Berufungsgerichts ist - soweit sich das Urteil auf die Gewährung der Ausgleichszulage für den Zeitraum von 1. 7. 1999 bis 24. 4. 2001 bezieht - zutreffend, sodass es genügt, auf deren Richtigkeit zu verweisen (§ 510 Abs 3 ZPO).

Die Versuche der Revisionswerberin, aus den Feststellungen einen konkludenten Verzicht auf Unterhaltsleistungen bereits vor dem 1. 1. 1976 zu abzuleiten, sind nicht überzeugend.

Die von der Revisionswerberin dargestellten Bedenken gegen die Verfassungskonformität des § 294 Abs 5 ASVG hat bereits das Berufungsgericht zutreffend verneint. Es entspricht durchaus sachlichen Gesichtspunkten, wenn der Gesetzgeber verhindern möchte, dass zu Lasten der Ausgleichszulage auf gesetzlichen Unterhalt verzichtet wird (RIS-Justiz RS104874). Der mit der 51. ASVG-Novelle eingeführte § 294 Abs 5 ASVG bezweckt, dass spätestens 10 Jahre vor dem Stichtag abgegebene und daher typischerweise nicht mit Blick auf den Anspruch auf Ausgleichszulage abgegebene Verzichtserklärungen privilegiert werden sollen. Unter dem "Stichtag" ist dabei der durch den Pensionsantrag ausgelöste Stichtag zu verstehen (RIS-Justiz RS0113475). Eine sachlich nicht gerechtfertigte Schlechterbehandlung bestimmter Personenkreise ist damit nicht verbunden.

Aufhebende Erkenntnisse des Verfassungsgerichtshofes wirken außer in dem Rechtsfall, der den Anlass für das Gesetzesprüfungsverfahren gebildet hat, vom Tag des Wirksamkeitsbeginnes der Aufhebung an für die Zukunft. Auf die vor der Aufhebung verwirklichten Tatbestände - mit Ausnahme des Anlassfalls - ist jedoch kraft der ausdrücklichen Anordnung in Art 140 Abs 7 B-VG das Gesetz weiterhin anzuwenden, sofern der Verfassungsgerichtshof in seinem aufhebenden Erkenntnis nichts anderes ausspricht. Die vom Verfassungsgerichtshof aufgehobene Gesetzesbestimmung ist daher von den Gerichten - mit Ausnahme des Anlassfalls - auf alle jene Sachverhalte anzuwenden, die vor dem Wirksamkeitsbeginn der Aufhebung liegen (Öhlinger/Hiesel, Verfahren vor den Gerichtshöfen des öffentlichen Rechts I2 [2001], Art 140 B-VG E 344). Die Überprüfung eines bereits als verfassungswidrig aufgehobenen Gesetzes auf seine Verfassungsmäßigkeit ist ausgeschlossen (EvBl 1956/277); die vom VfGH aufgehobene Gesetzesstelle kann daher nicht neuerlich Gegenstand eines Gesetzesüberprüfungsverfahrens sein (VfSlg 7719, 6442, 5185).

Im vorliegenden Fall hat der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 27. 2. 2001, G 104/00-9, mit dem er ua Teile des § 294 Abs 1 1. Satz ASVG als verfassungswidrig aufgehoben hat, nicht ausgesprochen, dass das Gesetz auch auf vor der Aufhebung verwirklichte Tatbestände (mit Ausnahme des Anlassfalls) nicht mehr anzuwenden wäre. Die Aufhebung ist daher erst mit dem Tag der Kundmachung des Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofes im Bundesgesetzblatt (hier BGBl I 2001/37, ausgegeben am 24. 4. 2001) in Kraft getreten (Art 140 Abs 5 Satz 3 B-VG); für den Zeitraum bis 24. 4. 2001 ist die aufgehobene Norm auf die Klägerin weiterhin anzuwenden.

Insoweit ist die Klagsabweisung daher als Teilurteil zu bestätigen.

Zeitraum ab 25. 4. 2001:

Infolge Wirksamwerden der Aufhebung durch den Verfassungsgerichtshof mit Kundmachung des Erkenntnisses in dem am 24. 4. 2001 ausgegebenen Bundesgesetzblatt ist auf Sachverhalte, die ab dem 25. 4. 2001 verwirklicht wurden, die aufgehobene Bestimmung nicht mehr anzuwenden. Diese Änderung der Rechtslage ist in jeder Lage des Verfahrens, auch noch in dritter Instanz, zu beachten (in diesem Sinn RIS-Justiz RS0031419). Für den Anspruch der Klägerin auf Ausgleichszulage bedeutet dies, dass ab dem 25. 4. 2001 eine Hinzurechnung in Höhe von 12,5 % des Nettoeinkommens des geschiedenen Gatten nicht mehr vorgenommen werden darf.

Auf dieser geänderten Rechtsgrundlage, die von den Vorinstanzen noch nicht berücksichtigt werden konnte, sind nunmehr Feststellungen zu dem nach § 292 ASVG relevanten Einkommen der Klägerin zu treffen, um den von ihr behaupteten Anspruch auf Ausgleichszulage beurteilen zu können. Da es zu dieser Abklärung einer Verhandlung erster Instanz bedarf, um die Sache spruchreif zu machen, sind die Urteile der Vorinstanzen, soweit sie sich auf den Zeitraum ab 25. 4. 2001 beziehen, aufzuheben; die Sache ist an das Erstgericht zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO iVm § 2 Abs 1 ASGG.

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