OGH 1Ob153/01h

OGH1Ob153/01h26.6.2001

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schlosser als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schiemer, Dr. Gerstenecker, Dr. Rohrer und Dr. Zechner als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj. Johannes H*****, geboren am 2. Februar 1990, infolge außerordentlichen Revisionsrekurses der Mutter Sieglinde B*****, vertreten durch Prof. Dipl. Ing. Mag. Andreas O. Rippel, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts St. Pölten als Rekursgericht vom 21. Februar 2001, GZ 37 R 103/00y-143, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird zurückgewiesen.

Text

Begründung

Rechtliche Beurteilung

1. Die Mutter behauptet, der angefochtene Beschluss sei nichtig, weil ein gemäß § 20 Z 5 JN ausgeschlossener bzw zumindest befangener Richter Mitglied des Rekurssenats gewesen sei. Dazu ist bloß auf den Beschluss des Landesgerichts St. Pölten vom 4. 4. 2001, GZ 10 Nc 25/01i-3, zu verweisen, wonach der in den Schriftsatz über den außerordentlichen Revisionrekurs aufgenommene "Ablehnungsantrag" rechtskräftig zurückgewiesen wurde (ON 151 des P-Akts).

2. Eine Nichtigkeit soll dem angefochtenen Beschluss ferner deshalb anhaften, weil "der das Pflegschaftsverfahren beherrschende Grundsatz der Wahrung der Interessen des Pflegebefohlenen durch einen die Ermittlungsanträge der Mutter nicht berücksichtigenden Beschluss verletzt" worden sei. Die Rechtsmittelwerberin bezieht sich dabei auf ihren schon im Verfahren erster Instanz gestellten Antrag, ein "neues psychologisches Gutachten" einzuholen (ON 121), dem aber nicht entsprochen wurde, und auf die Ansicht des Rekursgerichts, die Übertragung der Obsorge an den Vater sei auch wegen eines "PAS-Syndroms" beim Minderjährigen erforderlich, und führt dazu aus, ein solches Syndrom sei von keinem Sachverständigen diagnostiziert worden.

2. 1. Für die Eigenschaft eines Stoffsammlungsmangels als Nichtigkeit beruft sich die Mutter auf die Entscheidung 7 Ob 108/74 (= EFSlg 23.510). Dort wurde ausgesprochen, dass eine Provisorialentscheidung "ohne Berücksichtigung der Ermittlungsanträge des Vaters" nur im Falle einer ernsthaften Gefährdung des Kindeswohls nichtig sein könnte. Diese Entscheidung ist vor dem Hintergrund des § 16 Abs 1 AußStrG aF ergangen. Damals wurde eine schwerwiegende Verletzungen des Verfahrensrechts einer Nichtigkeit gleichgehalten, um den Rechtszug zum Obersten Gerichtshof zu eröffnen (siehe etwa die Rechtssatzkette zu RIS-Justiz RS0007398). Ein Stoffsammlungsmangel im Pflegschaftsverfahren wurde nur dann als Nichtigkeit qualifiziert, wenn er von einschneidender Bedeutung war (EFSlg 61.562; EFSlg 49.981), also eine gravierend mangelhafte Stoffsammlung als Verletzung eines tragenden Verfahrensgrundsatzes (EFSlg 49.982) eine Gefährdung des Kindeswohls (dringend) nahelegte (EFSlg 61.564). Nichtigkeitsgründe im Verfahren außer Streitsachen sind überdies nur von relativer Bedeutung, weil ihr Einfluss auf die Sacherledigung nach den Umständen des Einzelfalls genau abzuwägen ist (EFSlg 49.983; SZ 51/140).

Hier muss nicht beurteilt werden, ob die soeben erörterte Rechtsprechung zu Stoffsammlungsmängeln als Nichtigkeitsgrund im Pflegschaftsverfahren auch nach dem geltenden Revisionsrekursrecht weiterhin aufrechtzuerhalten ist, weil eine gravierend mangelhafte Stoffsammlung, der im Lichte der zuvor wiedergegebenen älteren Rechtsprechung das Gewicht einer Nichtigkeit zukommen könnte, nicht erkennbar ist, wurden doch die für einen Obsorgewechsel bedeutsamen Tatfragen auf der Grundlage eines umfassenden Beweisverfahrens geklärt.

2. 2. Die Wertung des Rekursgerichts, die psychische Verfassung des Minderjährigen verwirkliche das im Schrifttum des Fachgebiets der Kinderpsychiatrie beschriebene "PAS-Syndrom", ist für die Richtigkeit der getroffenen Obsorgeentscheidung nicht ausschlaggebend, weil diese Wertung auch weggedacht werden könnte, ohne dass eine Änderung des Ergebnisses einträte.

3. Nach allen bisherigen Erwägungen liegen die behaupteten Nichtigkeiten nicht vor.

4. In Verfahren, in denen zu klären ist, welchem Elternteil die Obsorge über ein mj. Kind zukommen soll, kann ein vom Rekursgericht verneinter erstinstanzlicher Mangel auch noch in dritter Instanz zum Gegenstand einer Verfahrensrüge gemacht werden (1 Ob 268/97m). Die Rechtsmittelwerberin rügt die Unterlassung der Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens auch als wesentlichen Mangel des Rekursverfahrens. Sie behauptet die Unrichtigkeit des vom Erstgericht eingeholten Gutachtens einer Sachverständigen für Familien-, Jugend- und Kinderpsychologie. In diesem Gutachten wurde die derzeitige Betreuungssituation dahin zusammengefasst, dass die Erziehung des Minderjährigen im Haushalt der wiederverheirateten Mutter "als psychische Misshandlung" einzustufen sei. Die Ausführungen im Revisionsrekurs legen keine ernsthaften Zweifel an der Schlüssigkeit und Richtigkeit des Gutachtens nahe. Die gerichtliche Sachverständige befasste sich auch mit dem von der Mutter vorgelegten Privatgutachten und verwies vor allem auf dessen unzureichenden Befund (ON 125). Unzutreffend ist, dass die Vorinstanzen die Eignung der nunmehrigen Ehegattin des Vaters für Aufgaben der Kindererziehung nicht geprüft hätten, wurde sie doch von der gerichtlichen Sachverständigen in die Exploration des Erziehungsumfelds im Haushalt des Vaters einbezogen. Das führte zum Ergebnis, dass das Kindeswohl in der Familie des Vaters nicht gefährdet wäre. Im Übrigen hat bereits das Rekursgericht die mangelnde Stichhältigkeit der Kritik der Mutter am Gutachten der gerichtlichen Sachverständigen ausführlich und überzeugend begründet, sodass der Oberste Gerichtshof in der unterbliebenen Beiziehung eines weiteren Sachverständigen zur Erstattung eines Kontrollgutachtens keinen wesentlichen Verfahrensmangel zu erblicken vermag. Dabei ist auch von Bedeutung, dass der als "psychische Misshandlung" zu qualifizierenden Erziehung des Minderjährigen im Haushalt der Mutter bald abgeholfen werden muss und nicht durch die Einholung immer neuer Gutachten verschleppt werden darf.

Die Mutter beantragte im Rekursverfahren die Einvernahme des derzeitigen Lehrers des Minderjährigen als Zeugen, um "über das momentane Befinden" des Kindes nach Mitteilung des erstgerichtlichen Beschlusses Aufschluss zu erhalten (ON 135 S. 8). Sie erblickt in der unterbliebenen Durchführung dieses Beweisantrags einen wesentlichen Verfahrensmangel. Vom Rekursgericht wurde indes zumindest ohne grobe Fehlbeurteilung dargelegt, dass allein die momentanen, mit einem allfälligen Obsorgewechsel verknüpften Empfindungen des Minderjährigen das Ergebnis aus dem die Notwendigkeit des Wechsels indizierenden Gründen nicht ändern könnten.

5. Aus allen voranstehenden Erwägungen folgt zusammenfassend, dass es der Mutter nicht gelang, gravierende Fehler des angefochtenen Beschlusses, die vor dem Hintergrund des § 14 Abs 1 AußStrG einer Korrektur durch den Obersten Gerichtshof bedürften, aufzuzeigen. Der außerordentliche Revisionsrekurs ist somit zurückzuweisen, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer präjudiziellen Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung abhängt.

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