OGH 10ObS106/01p

OGH10ObS106/01p22.5.2001

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Steinbauer und Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Martin Gleitsmann (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Ulrike Legner (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Anna F*****, vertreten durch Dr. Jörg Hobmeier, Rechtsanwalt in Innsbruck, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, Roßauer Lände 3, 1092 Wien, vertreten durch Dr. Andreas Grundei, Rechtsanwalt in Wien, wegen Pflegegeld, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 16. Februar 2001, GZ 25 Rs 16/01s-14, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Innsbruck als Arbeits- und Sozialgericht vom 21. November 2000, GZ 48 Cgs 124/00x-9, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, daß das Urteil des Erstgerichtes mit der Maßgabe wiederhergestellt wird, dass es zu lauten hat:

"Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei ab 1. 3. 2000 Pflegegeld der Stufe 2 von S 3.688,-- monatlich zu zahlen.

Das Mehrbegehren auf Zahlung eines höheren Pflegegeldes wird abgewiesen."

Die klagende Partei hat ihre Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die am 7. 11. 1922 geborene Klägerin lebt seit 22. 2. 2000 in einem Pflegeheim. Bei ihr liegt ein dementielles Syndrom vom Alzheimertyp in schwerer Ausprägung mit zeitweise vollständiger Verwirrtheit vor. Der Gesundheitszustand ist von einer zunehmenden Orientierungslosigkeit geprägt.

Die Klägerin leidet nicht an Inkontinenz und kann die Notdurft selbstständig verrichten. Sie muss aber in regelmäßigen Abständen vom Pflegepersonal zum WC geführt werden, da eine diesbezügliche Aufforderung und Anleitung notwendig ist. Der deraus resultierende Zeitaufwand beträgt monatlich 5 Stunden. Abgesehen von der Hilfestellung im Zusammenhang mit den WC-Gängen ist es der Klägerin möglich, sich selbstständig im Bereich des Pflegeheimes fortzubewegen.

Mit Bescheid vom 20. 4. 2000 hat die beklagte Partei der Klägerin ab 1. 3. 2000 Pflegegeld der Stufe 2 gewährt.

Das Erstgericht wies die dagegen erhobene, auf Zuerkennung von Pflegegeld der Stufe 5 gerichtete Klage zur Gänze ab. In rechtlicher Hinsicht führte das Erstgericht aus, die Klägerin habe folgenden monatlichen Pflegebedarf im Gesamtausmaß von 113 Stunden: für die Hilfe beim An- und Auskleiden 10 Stunden, für die Körperpflege 25 Stunden, für die Zubereitung der Mahlzeiten 30 Stunden, für die Einnahme von Medikamenten 3 Stunden, für die Aufforderung des Pflegepersonals und die Anleitung im Zusammenhang mit der Verrichtung der Notdurft 5 Stunden und für die übrigen Verrichtungen (Herbeischaffung von Nahrungsmitteln und Medikamenten; Wohnungsreinigung; Wäschereinigung; Mobilitätshilfe im weiteren Sinn) jeweils 10 Stunden.

Das Berufungsgericht gab der dagegen erhobenen Berufung der Klägerin Folge und änderte das angefochtene Urteil im Sinne eines Zuspruchs von Pflegegeld der Stufe 3 ab. Auf Grund der Rechtsrüge gelangte das Berufungsgericht zur Ansicht, dass in Bezug auf die Verrichtung der Notdurft von dem in § 1 Abs 4 EinstV festgesetzten Mindestwert von monatlich 30 Stunden auszugehen sei, da die Klägerin nicht nur für einzelne bei der Notdurftverrichtung anfallende, im Verhältnis zum Gesamtaufwand unbedeutende Handgriffe der Hilfe einer anderen Person bedürfe, sondern dass die notwendigen Betreuungsmaßnahmen, die im Hinführen der Klägerin zum WC und in der damit einhergehenden Motivations- und Anleitungstätigkeit bestünden (§ 4 Abs 1 EinstV), wesentliche Kriterien für die Verrichtung der Notdurft umfassten. Bei Addition von weiteren 25 Stunden an Pflegeaufwand für die Verrichtung der Notdurft errechne sich ein monatlicher Pflegebedarf von insgesamt 137 Stunden.

Gegen dieses Urteil richtet sich die auf den Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung gestützte Revision der beklagten Partei mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im Sinne des Zuspruchs von Pflegegeld der Stufe 2 abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

In ihrer Revisionsbeantwortung beantragt die klagende Partei, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist berechtigt.

Im Revisionsverfahren ist allein strittig, welcher zeitliche Aufwand für die Verrichtung der Notdurft anzusetzen ist. Die Einstufungsverordnung zum Bundespflegegeldgesetz, BGBl II 1999/37, sieht in § 1 Abs 4 für die Verrichtung der Notdurft einen zeitlichen Mindestwert von 4 x 15 Minuten vor; das entspricht einem monatlichen zeitlichen Aufwand von 30 Stunden.

Bei den im § 1 Abs 4 EinstV genannten Mindestwerten ("verbindliche Mindestwerte" iSd § 4 Abs 4 Z 2 BPGG) ist - im Unterschied zu den Richtwerten im Sinne des § 1 Abs 3 EinstV - eine Unterschreitung ausgeschlossen. Der jeweilige Mindestwert ist allerdings nur dann zu berücksichtigen, wenn sich der tatsächliche Bedarf nicht bloß auf einen kleinen Teil der dort angeführten Betreuungsmaßnahmen bezieht:

Bei erheblicher Unterschreitung des betreffenden Wertes kann die Anerkennung des pauschalierten Mindestbedarfs nicht mehr in Betracht kommen (10 ObS 148/98g = SSV-NF 12/63; RIS-Justiz RS0109875).

Der erkennende Senat hat bereits wiederholt ausgesprochen, diese Voraussetzung sei dann erfüllt, wenn die einzelnen Verrichtungen lediglich einen Aufwand erfordern, der deutlich unter der Hälfte des normierten Mindestwertes liege (10 ObS 133/00g; 10 ObS 247/00x mwN). Weiters wurde zum Ausdruck gebracht, dass vom Mindestwert dann abgegangen werden kann, wenn sich der Betreuungsaufwand nur auf einen kleinen Teil der insgesamt unter diesem Titel subsumierten Betreuungsmaßnahmen beschränkte, sodass die Zugrundelegung des Mindestwertes unter diesen Umständen nicht gerechtfertigt gewesen wäre (SSV-NF 8/104 - Hilfe nur beim Wannenbad; SSV-NF 9/13 - Unterstützung nur bei der nicht täglich erforderlichen Reinigung der Rückenpartie; SSV-NF 9/84 - Hilfe nur beim Abtrocknen der Zehenzwischenräume; 10 ObS 247/00x - Unterstützung beim Kartoffelschälen). Zeitlich gesehen beschränkte sich der tatsächliche Betreuungsaufwand in diesen Fällen auf wenige Stunden und machte damit nur einen geringen Prozentsatz des vorgesehenen Mindestwertes aus.

Liegen diese Voraussetzungen für ein Abgehen vom Mindestwert vor, ist an seiner Stelle der tatsächliche Zeitaufwand - so weit er nicht gänzlich vernachlässigbar ist - für die erforderlichen Betreuungsleistungen in Anschlag zu bringen (10 ObS 289/00y).

Nun wurde zwar in der Entscheidung vom 30. 1. 2001, 10 ObS 354/00g, betreffend die Verrichtung der Notdurft unter Berufung auf Pfeil, BPGG 87 ausgeführt, dass ein wesentlich geringerer Bedarf als die in der EinstV vorgesehenen 4 x 15 Minuten selbst dann nicht angenommen werden kann, wenn der Pflegebedürftige nur ganz bestimmte Verrichtungen nicht allein ausführen kann. Der vorliegende Fall ist aber dadurch gekennzeichnet, dass die Klägerin die Notdurft selbst einschließlich der nachfolgenden Reinigung alleine verrichten kann. Sie ist auch in der Lage, sich selbstständig im Bereich des Pflegeheimes fortzubewegen. Eine Betreuung ist nur insoweit erforderlich, als sie laut dem Gutachten des medizinischen Sachverständigen bei jedem Gang zum WC aufgefordert werden muss, die Notdurft zu verrichten; außerdem ist eine Kontrolle dahingehend erforderlich, ob sie tatsächlich die Notdurft verrichtet hat. Der Zeitaufwand dafür ist mit täglich 10 Minuten oder monatlich 5 Stunden zu veranschlagen.

Die Ansicht des Berufungsgerichts, die Klägerin könne damit wesentliche Elemente bei der Verrichtung der Notdurft nicht mehr selbst verrichten, kann nicht geteilt werden. Vielmehr bezieht sich der notwendige Betreuungsaufwand sowohl sachlich als auch zeitlich nur auf einen kleinen Teil der insgesamt bei der Verrichtung der Notdurft zu verrichtenden Tätigkeiten, sodass es entsprechend der Ansicht des Erstgerichts gerechtfertigt ist, den Mindestwert nicht in Anschlag zu bringen. Dessen Urteil ist mit der Maßgabe wiederherzustellen, dass die im seinerzeitigen Bescheid enthaltene, gemäß § 71 Abs 2 ASGG als unwiderruflich anerkannt anzusehende Leistungsverpflichtung in den Urteilsspruch aufzunehmen ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Die Klägerin hat mit ihrer Klage nicht mehr erreicht, als die beklagte Partei in ihrem Bescheid zuerkannt hatte.

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