OGH 10ObS354/00g

OGH10ObS354/00g30.1.2001

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Steinbauer und Dr. Fellinger sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Johann Meisterhofer (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Hans Herold (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Elisabeth S*****, Pensionistin, *****, vertreten durch Philipp & Partner, Rechtsanwälte und Strafverteidiger OEG in Mattersburg, gegen die beklagte Partei Land Burgenland, vertreten durch das Amt der Burgenländischen Landesregierung, 7001 Eisenstadt, Europaplatz 1, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen Pflegegeld, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 25. September 2000, GZ 8 Rs 229/00f-27, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Eisenstadt als Arbeits- und Sozialgericht vom 5. Juni 2000, GZ 17 Cgs 328/99t-21, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen, die hinsichtlich des Zuspruches von Pflegegeld der Stufe 3 als unbekämpft unberührt bleiben, werden im Übrigen im Umfang des Differenzbetrages zwischen den Pflegegeldstufen 3 und 4 aufgehoben und die Sozialrechtssache insoweit zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Mit Bescheid vom 12. 7. 1999 gewährte die beklagte Partei der Klägerin aufgrund deren Antrages vom 22. 1. 1999 Pflegegeld in Höhe der Stufe 3 von monatlich S 5.690,-- ab dem 1. 2. 1999.

Am 3. 8. 1999 beantragte die Klägerin unter Verwendung eines offensichtlich von der beklagten Partei stammenden Formulars eine "Erhöhung des Pflegegeldes". Mit Schreiben vom 10. 8. 1999 ersuchte die beklagte Partei die Klägerin um Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung zum Nachweis über die Erhöhung ihres Pflegebedarfes. Nach Vorlage eines Befundberichtes des Hausarztes der Klägerin vom 16. 8. 1999 wies die beklagte Partei mit Bescheid vom 15. 9. 1999 den Antrag der Klägerin auf Erhöhung des Pflegegeldes vom 3. 8. 1999 mangels Zulässigkeit des Rechtsweges (fehlende Bescheinigung über eine wesentliche Änderung der Anspruchsvoraussetzungen) zurück.

Mit der am 7. 10. 1999 beim Erstgericht eingelangten Klage begehrt die Klägerin zuletzt die Zuerkennung des Pflegegeldes der Stufe 4 ab 1. 2. 1999.

Die beklagte Partei beantragt die Zurückweisung der Klage wegen Unzulässigkeit des Rechtsweges mit der Begründung, dass von der Klägerin der Eintritt einer wesentlichen Änderung in den Anspruchsvoraussetzungen nicht glaubhaft gemacht worden sei.

Die Klägerin erwiderte hierauf, dass ihr "Erhöhungsantrag" vom 3. 8. 1999 als Klage gegen den Bescheid vom 12. 7. 1999 zu werten sei.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren im ersten Rechtsgang statt und erkannte die beklagte Partei schuldig, der Klägerin ab 1. 2. 1999 Pflegegeld in Höhe der Stufe 4 von S 8.535,-- monatlich abzüglich der bereits geleisteten Beträge zu bezahlen.

Das Berufungsgericht verwarf die von der beklagten Partei dagegen erhobene Berufung wegen Nichtigkeit mit der Begründung, die von der beklagten Partei geltend gemachte Unzulässigkeit des Rechtsweges liege nicht vor, weil der "Erhöhungsantrag" der Klägerin vom 3. 8. 1999 als - rechtzeitig erhobene - Klage gegen den Bescheid vom 12. 7. 1999 zu werten sei. Im Übrigen hob das Berufungsgericht das Ersturteil auf und verwies die Sozialrechtssache zur näheren Klärung des Pflegebedarfes der Klägerin zum Stichtag 1. 2. 1999 zur weiteren Verhandlung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurück.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren auch im zweiten Rechtsgang statt. Es stellte fest, dass die Klägerin mit ihrem Ehemann in einem über einige Stufen erreichbaren Haus wohne. Die Räume im Haus seien alle ebenerdig gelegen. Es gebe einen Elektroherd, einen Kühlschrank, ein WC mit Haltegriffen, ein Badezimmer mit Dusche und eine Ölzentralheizung. Die Klägerin leide an Harninkontinenz, Zustand nach einer Oberschenkelamputation links, Diabetes mellitus, einer gut eingestellten arteriellen Hypertonie, degenerativen Wirbelsäulenerkrankungen und einer Depression. Seit 22. 1. 1999 bestehe folgender Pflegeaufwand: tägliche Körperpflege, Zubereitung der Mahlzeiten, An- und Auskleiden, Einnahme von Medikamenten, Herbeischaffung von Nahrungsmitteln und Medikamenten, Pflege der Leib- und Bettwäsche, Reinigung der Wohnung und der persönlichen Gebrauchsgegenstände, Beischaffung von Heizmaterial (Ölofen), Mobilitätshilfe im engeren und weiteren Sinn und Verrichtung der Notdurft. Mit einer Besserung sei nicht zu rechnen.

In rechtlicher Hinsicht führte das Erstgericht aus, die Klägerin habe folgenden monatlichen Pflegebedarf: Für die Körperpflege 25 Stunden, für die Zubereitung der Mahlzeiten 30 Stunden, für die Verrichtung der Notdurft 30 Stunden, für die Hilfe beim An- und Auskleiden 20 Stunden, für die Mobilitätshilfe im engeren Sinn 15 Stunden, für die Einnahme von Medikamenten 3 Stunden und für die Übrigen Verrichtungen (Herbeischaffung von Nahrungsmitteln, Medikamenten und sonstigen Bedarfsgütern des täglichen Lebens; die Pflege der Leib- und Bettwäsche; die Reinigung der Wohnung und der persönlichen Gebrauchsgegenstände; die Herbeischaffung von Heizmaterial und die Mobilitätshilfe im weiteren Sinn) jeweils 10 Stunden. Da zur Verrichtung der Notdurft auch das An- und Auskleiden gehöre, die Klägerin sich jedoch nicht selbständig ankleiden könne, sei davon auszugehen, dass die Klägerin auch für die Verrichtung der Notdurft fremder Hilfe bedürfe. Auch wenn der Betreffende bei der Verrichtung der Notdurft nur ganz bestimmte Verrichtungen nicht allein ausführen könne, könne dafür ein wesentlich geringerer Bedarf als der in der Einstufungsverordnung vorgesehene zeitliche Mindestwert von 4 x 15 Minuten pro Tag nicht angenommen werden. Es ergebe sich daher ein Pflegebedarf von durchschnittlich 163 (richtig: 173) Stunden monatlich, weshalb die Klägerin Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 4 habe.

Das Berufungsgericht gab der von der beklagten Partei erhobenen Berufung Folge und wies das auf Gewährung eines höheren Pflegegeldes als jenes der Stufe 3 gerichtete Klagebegehren ab. Es verneinte ohne Ergänzung des Beweisverfahrens und ohne Verbreiterung der Sachverhaltsgrundlage die Notwendigkeit eines Pflegeaufwandes für die Hilfe bei der Verrichtung der Notdurft. Das Erstgericht habe zwar eine gegenteilige Feststellung getroffen, doch handle es sich dabei in Wahrheit um eine rechtliche Beurteilung, weil das Erstgericht in unzutreffender Weise aus dem Umstand, dass der Sachverständige fremde Hilfe für das An- und Auskleiden der Klägerin als notwendig erachtet habe, die Notwendigkeit einer Hilfestellung auch bei der Verrichtung der Notdurft abgeleitet habe. Der Sachverständige habe demgegenüber jedoch im Zuge der mündlichen Gutachtenserörterung ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der Klägerin die Verrichtung der Notdurft (ohne fremde Hilfe) möglich sei, weil sie sich dazu aus dem Rollstuhl herausbewegen und wieder hinein bewegen und sich auch ordnungsgemäß reinigen könne. Die Klägerin habe dies bei der Untersuchung durch den Sachverständigen auch demonstriert. Der Sachverständige differenziere, dass im Gegensatz dazu beim Ankleiden Probleme auftreten könnten, da sie jemanden benötige, der ihr die Kleidung herrichte und sie sich infolge ihrer Immobilität auch mit einfachen Hilfsmitteln nicht behelfen könne. Auch auf den Vorhalt, dass Kleiderprobleme auftreten könnten bei Verrichtung der Notdurft, habe der Sachverständige eindeutig dargelegt, dass die Klägerin imstande sei, allein und selbständig die Hose hinunter zu ziehen und das Abstoppeln des Katheters deswegen nicht notwendig sei, weil der Schlauch so lang sei, dass man auch die Hose anstandslos hinunterziehen könne. Auch zur Sturzgefahr sei der Sachverständige befragt worden und er habe ausgeführt, dass in der Toilette Haltegriffe angebracht seien und die Klägerin auch imstande sei, diese zu benützen. Das Erstgericht habe daher zu Unrecht die Notwendigkeit eines Pflegeaufwandes von 30 Stunden monatlich als Hilfe für die Verrichtung der Notdurft angerechnet. Der Pflegebedarf der Klägerin liege daher tatsächlich unter 160 Stunden monatlich, weshalb ihr nur Pflegegeld in der auch von der beklagten Partei anerkannten Höhe der Stufe 3 gebühre.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Klägerin wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung dahin abzuändern, dass ihrem Klagebegehren vollinhaltlich stattgegeben werde. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist im Sinne des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrages berechtigt.

Vorerst ist darauf hinzuweisen, dass auf die von der beklagten Partei eingewendete Unzulässigkeit des Rechtsweges nach § 73 ASGG nicht mehr einzugehen ist, weil eine bindende, das Vorliegen einer Nichtigkeit verneinende Entscheidung des Berufungsgerichtes vorliegt (§ 42 Abs 3 JN; Mayr in Rechberger, ZPO2 Rz 11 zu § 42 JN; Kodek in Rechberger, ZPO2 Rz 2 zu § 503 und Rz 1 zu § 510; RIS-Justiz RS0042925; 10 ObS 218/99b ua). Nach dieser bindenden Rechtsansicht richtet sich die vorliegende Klage (auch) gegen den Bescheid der beklagten Partei vom 12. 7. 1999, mit dem erstmals über den Antrag der Klägerin auf Gewährung eines Pflegegeldes abgesprochen wurde.

Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass sich nach den Rechtsausführungen des Erstgerichtes für die Klägerin ein tatsächlicher Pflegebedarf von 173 Stunden pro Monat ergeben würde. Die Richtigkeit der Rechtsansicht des Berufungsgerichtes, dass der vom Erstgericht für die Verrichtung der Notdurft angenommene Pflegebedarf von 30 Stunden monatlich nicht gerechtfertigt sei, weil die Klägerin diesbezüglich keiner fremden Hilfe bedürfe, der Pflegebedarf der Klägerin somit das für die Gewährung des Pflegegeldes der Stufe 4 erforderliche Ausmaß von durchschnittlich mehr als 160 Stunden monatlich (§ 4 Abs 2 BgldPGG idF LGBl 1999/8) nicht erreiche, lässt sich noch nicht abschließend beurteilen. Es hat das Berufungsgericht an sich zutreffend darauf hingewiesen, dass die vom Erstgericht dazu getroffene Feststellung, bei der Klägerin bestehe ein Pflegeaufwand unter anderem auch für die Verrichtung der Notdurft, eine vorweggenommene rechtliche Beurteilung darstellt, für die jedoch das erforderliche Sachverhaltssubstrat fehlt (vgl 10 ObS 216/00p ua). Aber auch die Rechtsausführungen des Berufungsgerichtes können sich nicht auf entsprechende Sachverhaltsfeststellungen stützen.

Von der Klägerin wurde in der Tagsatzung vom 5. 6. 2000 ausdrücklich vorgebracht, dass sie bei Verrichtung der Notdurft auf fremde Hilfe angewiesen sei. In ihren Revisionsausführungen vertritt die Klägerin die Ansicht, dass die Verrichtung der Notdurft selbst und die anschließende Reinigung zwar möglich seien, sie jedoch für das ebenfalls notwendige Aus- und Ankleiden fremder Hilfe bedürfe. Die Klägerin verweist diesbezüglich auf die weitere Feststellung des Erstgerichtes, wonach sie für das An- und Auskleiden (im Sinn einer Betreuungsmaßnahme nach § 1 Abs 3 EinstV zum BgldPGG) fremder Hilfe bedürfe. Die beklagte Partei hat in diesem Zusammenhang in ihren Berufungsausführungen nicht in Abrede gestellt, dass eine für die Verrichtung der Notdurft notwendige Hilfe beim An- und Auskleiden zu berücksichtigen sei, sie hat jedoch mit Recht darauf hingewiesen, dass das im Zuge der Verrichtung der Notdurft notwendige An- und Auskleiden nicht der in § 1 Abs 3 EinstV zum BgldPGG vorgesehenen Hilfe beim An- und Auskleiden gleichgesetzt werden kann, wenn dafür nur Teilverrichtungen des An- und Auskleidens wie das Hinauf- und Hinunterziehen einer Hose erforderlich sind. Der vom Erstgericht gezogene Schluss, aus der Notwendigkeit der fremden Hilfe für das Ankleiden ergebe sich zwingend auch die Notwendigkeit einer fremden Hilfe bei der Verrichtung der Notdurft, ist daher nach zutreffender Rechtsansicht des Berufungsgerichtes nicht richtig. Es bedarf jedoch konkreter Feststellungen zu der zwischen den Parteien strittigen Frage, ob die Klägerin fremde Hilfe für das für die Verrichtung der Notdurft notwendige An- und Auskleiden bedarf. Sollte die Klägerin im Sinne der Ausführungen des Berufungsgerichtes diese Tätigkeiten noch allein verrichten können, wird ein Pflegebedarf für die Verrichtung der Notdurft nicht berücksichtigt werden können, wodurch der Pflegebedarf der Klägerin auf jeden Fall weniger als 160 Stunden pro Monat betragen würde. Benötigt hingegen die Klägerin bei der Verrichtung der Notdurft Betreuung, dann ergibt sich hiefür ein Pflegebedarf, der in § 1 Abs 4 EinstV zum BgldPGG mit einem zeitlichen Mindestwert von 4 x 15 Minuten täglich (= 30 Stunden monatlich) festgesetzt ist. Bei den in § 1 Abs 4 EinstV genannten Mindestwerten ist eine Unterschreitung ausgeschlossen. Der jeweilige Mindestwert ist allerdings nur dann zu berücksichtigen, wenn sich der tatsächliche Bedarf nicht bloß auf einen kleinen Teil der dort angeführten Betreuungsmaßnahmen bezieht (SSV-NF 12/63 mwN). Im Hinblick auf die Verrichtung der Notdurft wird ein wesentlich geringerer Bedarf als die in § 1 Abs 4 EinstV vorgesehenen 4 x 15 Minuten selbst dann nicht angenommen werden können, wenn der Betreffende nur ganz bestimmte Verrichtungen nicht alleine ausführen kann (Pfeil, BPGG 87).

In diesem Fall wird das Erstgericht im Sinne der Berufungsausführungen der beklagten Partei allerdings auch noch nähere Feststellungen darüber zu treffen haben, inwieweit die Klägerin im konkreten Fall einer Hilfe beim An- und Auskleiden sowie für die Beheizung des Wohnraumes einschließlich der Herbeischaffung von Heizmaterial tatsächlich bedarf (vgl zur Hilfe beim An- und Auskleiden: SSV-NF 8/55; 8/61; 9/13; 9/42; 10/97; 10 ObS 400/98s ua und bei der Beheizung des Wohnraumes: SSV-NF 9/83; 10/79; 10 ObS 321/99z; 10 ObS 13/00k ua).

Wegen der dargelegten Feststellungsmängel waren die Urteile der Vorinstanzen in dem noch strittigen Umfang, also hinsichtlich des Zuspruches bzw der Abweisung eines die Stufe 3 übersteigenden Pflegegeldes durch die Vorinstanzen, aufzuheben. Die Rechtssache war insoweit zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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