OGH 13Os109/00 (13Os110/00)

OGH13Os109/00 (13Os110/00)11.10.2000

Der Oberste Gerichtshof hat am 11. Oktober 2000 durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofes Hon. Prof. Dr. Brustbauer als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Rouschal, Dr. Schmucker, Dr. Habl und Dr. Ratz als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Koenig als Schriftführer, in der Strafsache gegen Houssan Mahmoud E***** wegen des Verbrechens nach § 28 Abs 2 und 4 SMG über die vom Generalprokurator erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes gegen I. den Beschluss

1. des Untersuchungsrichters des Landesgerichtes für Strafsachen Graz vom 14. April 2000, GZ 18 Vr 230/00-3b in Verbindung mit ON 10,

2. der Ratskammer des Landesgerichtes für Strafsachen Graz vom 10. Mai 2000, GZ 18 Vr 230/00-11,

II. den Vorgang, dass die Erklärung der Zeugin S***** nicht aussagen zu wollen, keiner näheren Überprüfung des Entschlagungsrechtes unterzogen wurde,

nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters des Generalprokurators, Generalanwalt Dr. Tiegs, jedoch in Abwesenheit des Verurteilten, zu Recht erkannt:

 

Spruch:

1) Der Beschluss der Ratskammer des Landesgerichtes für Strafsachen Graz vom 10. Mai 2000, GZ 18 Vr 230/00-11, verletzt (teilweise in der Begründung) § 152 Abs 1 Z 1 StPO.

2) Im Übrigen wird die Nichtigkeitsbeschwerde verworfen.

Text

Gründe:

Nach dem Inhalt einer an die Staatsanwaltschaft Graz erstatteten Strafanzeige des Landesgendarmeriekommandos für Steiermark vom 20. Jänner 2000 soll Houssan Mahmoud E***** unter anderem im Mai 1999 in wiederholten Angriffen insgesamt etwa 90 Gramm Kokain an Kerstin Sch***** verkauft haben. Dieser Tatverdacht stützt sich auf eine entsprechende Aussage der Kerstin Sch*****, die, als Verdächtige vernommen, vor Beamten der Kriminalabteilung des Landesgendarmeriekommandos für Steiermark zugegeben hatte, in der Zeit von Anfang bis Ende Mai 1999 nahezu täglich etwa 3 Gramm Kokain von "S*****" (= Houssan Mahmoud E*****) gekauft zu haben (S 35, 37 und 47 im Verfahren zum AZ 8 E Vr 776/00 sowie S 19 im Verfahren zum AZ 18 Vr 230/00, jeweils des Landesgerichtes für Strafsachen Graz). Im Verfahren zum AZ 18 Vr 230/00 beantragte die Staatsanwaltschaft Graz am 25. Jänner 2000 die Durchführung von Vorerhebungen gegen Houssan Mahmoud E*****, wobei unter anderem die "zeugenschaftliche Einvernahme der Kerstin Sch***** als Zeugin unter Belehrung des § 152 Abs 1 Z 1 StPO" begehrt wurde. Bei der für 29. Februar 2000 festgesetzten Zeugenvernehmung erklärte Kerstin Sch***** nach Vorhalt der zitierten Gesetzesstelle, nicht aussagen zu wollen (ON 5 in AZ 18 Vr 230/00 des Landesgerichtes für Strafsachen Graz). Am 14. März 2000 brachte die Staatsanwaltschaft beim Einzelrichter des Landesgerichtes für Strafsachen Graz gegen Sch***** einen unter anderen den geschilderten Sachverhalt erfassenden Strafantrag ein (AZ 8 E Vr 776/00), zu welchem diese am 9. Mai 2000 in ihrer Hauptverhandlung als Beschuldigte vernommen und auf Grund ihres Geständnisses auch an diesem Tag rechtskräftig verurteilt wurde (ON 6).

Bereits am 28. März 2000 beantragte die Staatsanwaltschaft unter Hinweis auf den eingebrachten Strafantrag - und nicht etwa auf eine geständige Verantwortung Sch***** im Zuge dieses gerichtlichen Verfahrens - die neuerliche Vernehmung dieser Zeugin mit der Begründung, dieser komme angesichts ihrer eingangs erwähnten Angaben vor Beamten der Kriminalabteilung ein in § 152 Abs 1 Z 1 StPO begründetes Entschlagungsrecht nicht zu (S 3a verso des AV-Bogens in 18 Vr 230/00).

Diesen Antrag lehnte der Untersuchungsrichter mit Beschluss vom 14. April 2000, GZ 18 Vr 230/00-3b in Verbindung mit ON 10 ab, wobei er davon ausging, dass die Zeugin lediglich "bei ihrer niederschriftlichen Einvernahme vor der Polizei ein Geständnis abgelegt habe", aber in dem gegen sie geführten Strafverfahren zum AZ 8 E Vr 776/00 noch nicht gerichtlich vernommen worden ist. Die von der Staatsanwaltschaft vertretene Rechtsauffassung, dass die Zeugin verpflichtet sei, ihre vor "der Polizei gewählte geständige Verantwortung" als Zeugin unter Wahrheitspflicht zu bestätigen, wäre eine krasse Umgehung des eigentlichen Schutzzwecks der Bestimmung des § 152 (im Beschluss irrig: § 251) Abs 1 Z 1 StPO; "dies käme einer Beraubung der wesentlichen Verteidigungsrechte" in ihrem gegen sie geführten Strafverfahren gleich. Der Untersuchungsrichter bezog sich dabei ausdrücklich auf die das Entschlagungsrecht einschränkende Entscheidung des Obersten Gerichtshofes 14 Os 82/94, wonach immer im besonderen Fall zu prüfen und zu entscheiden ist, ob der als Zeuge Einzuvernehmende tatsächlich Gefahr liefe sich selbst zu belasten. Er bejahte diese Voraussetzungen im vorliegenden Fall weil eben bisher nur eine selbstbelastende Aussage der Zeugin vor der Polizei vorlag. Eine dagegen von der Staatsanwaltschaft erhobene Beschwerde wies die Ratskammer des Landesgerichtes für Strafsachen Graz mit Beschluss vom 10. Mai 2000, GZ 18 Vr 230/00-11, als unbegründet zurück. Selbstbelastungsgefahr sei erst dann auszuschließen, wenn ein Zeuge in dem gegen ihn geführten Verfahren (auch) auf der Grundlage eines von ihm in seiner Eigenschaft als Beschuldigter abgelehnten Geständnisses rechtskräftig verurteilt worden sei (was vorliegend auch schon der Fall war; nämlich die rechtskräftige Verurteilung vom 9. Mai 2000).

Im Vorgehen von Untersuchungsrichter und Ratskammer erblickt der Generalprokurator einer Verletzung des § 152 Abs 1 Z 1 StPO, dies mit folgender Begründung:

Nach den vom Obersten Gerichtshof zur Problematik der Auslegung des § 152 Abs 1 Z 1 StPO entwickelten Grundsätzen tritt die Befreiung von der Verbindlichkeit zur Ablegung eines Zeugnisses nicht schon mit der bloßen Behauptung eines Zeugen ein, dass auf ihn ein Befreiungsgrund zutreffe; vielmehr hat das Gericht die Voraussetzungen für eine Entschlagungsberechtigung im Einzelfall zu prüfen. Der Umstand, dass gegen einen Zeugen wegen des Verdachtes einer gerichtlich strafbaren Handlung, die in einem rechtlichen oder sachlichen Konnex zu jener Tat steht, die dem Beschuldigten in dem Strafverfahren angelastet wird, in dem der Zeuge aussagen soll, sicherheitsbehördliche Erhebungen geführt werden oder bereits ein gerichtliches Strafverfahren anhängig ist, stellt zunächst bloß ein Indiz für die Möglichkeit einer Zeugnisbefreiung nach § 152 Abs 1 Z 1 StPO dar, das den Richter zur Belehrung des Zeugen über diese Möglichkeit verpflichtet. Ob der Zeuge tatsächlich durch seine Aussage im Zusammenhang mit dem gegen ihn geführten Verfahren Gefahr liefe, sich selbst zu bezichtigen oder zu belasten, sodass ihm daher das Entschlagungsrecht zuzubilligen wäre, hat das Gericht in jedem Fall einer sich darauf berufenen Entschlagungserklärung gesondert zu prüfen. Von einem Zeugen, der einen gegen ihn erhobenen Vorwurf als zu Recht bestehend bereits anerkannt hat, kann in der Regel nicht angenommen werden, dass er sich im Umfang seines Geständnisses durch eine inhaltsgleiche wahrheitsgemäße Aussage noch belasten, also ein zusätzliches Beweismittel (iwS) gegen sich schaffen könnte. Ohne die nähere Erklärung eines solchen Zeugen, weshalb für ihn trotz eines Geständnisses noch eine (weitere) Belastungsmöglichkeit bestünde, wird daher der Befreiungsgrund im Allgemeinen nicht angenommen werden können.

Die Gefahr, sich selbst zu belasten, ist dabei keinesfalls erst dann als ausgeschlossen anzusehen, wenn das gegen den Zeugen geführte Strafverfahren rechtskräftig abgeschlossen und dieser auf Grund seines Geständnisses (das er in seiner Eigenschaft als Beschuldigter vor Gericht abgelegt hat) verurteilt worden ist. Es macht vielmehr keinen Unterschied, in welchem Stadium sich das gegen den Zeugen geführte Strafverfahren befindet (vgl Mayerhofer StPO4 § 152 E 3 e und die dort zitierten Entscheidungen; 11 Os 145/94; 15 Os 204/98; 15 Os 111/99; Ratz, Probleme der Aussageentschlagung beim möglicher Selbstbezichtigung, JBl 2000, 291 [298 f]).

Es kann demnach auch nicht entscheidend sein, ob der Zeuge das Geständnis (wie hier) als Verdächtiger vor der Sicherheitsbehörde oder als Beschuldigter vor Gericht abgelegt hat.

Ausgehend von diesen Erwägungen hätten sich Untersuchungsrichter und Ratskammer nicht mit der Entschlagungserklärung der Zeugin begnügen und dieser im Hinblick auf das gegen sie geführte Verfahren ein Entschlagungsrecht zubilligen dürfen. Vielmehr wäre der Untersuchungsrichter verhalten gewesen, die Berechtigung zur Zeugnisentschlagung durch Herbeiführung ergänzender Angaben der Zeugin zu klären; die (auf Grund der Beschwerde der Staatsanwaltschaft entscheidende) Ratskammer wieder wäre dementsprechend verpflichtet gewesen, den Untersuchungsrichter zu einer entsprechenden Vorgangsweise zu veranlassen. Sowohl der Untersuchungsrichter als auch die Ratskammer haben demnach gegen die Bestimmung des § 152 Abs 1 Z 1 StPO verstoßen.

Der Oberste Gerichtshof hat hiezu erwogen:

Rechtliche Beurteilung

Personen, die im Zusammenhang mit einem gegen sie geführten Strafverfahren Gefahr liefen, sich selbst zu belasten, sind nach § 152 Abs 1 Z 1 zweiter Fall StPO von der Ablegung eines Zeugnisses befreit. Das Gesetz billigt also das Entschlagungsrecht keineswegs allen Zeugen zu, die sich im Zusammenhang mit einem gegen sie geführten Strafverfahren der Möglichkeit ausgesetzt haben, sich selbst zu belasten; vielmehr verlangt es zudem ausdrücklich eine Gefahr, vor der solche Zeugen geschützt werden sollen. Ist die Selbstbezichtigung im Rahmen einer vor Gericht abgelegten Aussage - sei es als Zeuge oder als Beschuldigter (§ 38 Abs 3 StPO) - bereits geschehen, ist mit deren bloßer Wiederholung grundsätzlich keine Gefahr mehr verbunden; weil in seinem Verfahren ohnehin die Garantien der MRK eingehalten werden müssen (insbesondere auch in Bezug auf § 245 StPO).

Anders aber, wenn die selbstbelastenden Angaben (noch) nicht vor einem Richter gemacht wurden, weil sonst das Entschlagungsrecht in seinem Kern unterlaufen würde (vgl auch 14 Os 107/99). Die vom Generalprokurator für seinen Standpunkt in Anspruch genommenen Entscheidungen stellen im Übrigen allesamt auf gerichtliche Verfahren ab, ohne die weiters angesprochene Problematik der Vernehmung vor der Sicherheitsbehörde zu berühren. Im Sinne obiger Erwägungen erweist sich die in der Begründung des Beschlusses der Ratskammer des Landesgerichtes für Strafsachen Graz vom 10. Mai 2000, GZ 18 Vr 230/00-11 des Landesgerichtes für Strafsachen Graz vertretene Meinung, die Selbstbelastungsgefahr könne erst nach rechtskräftiger Beendigung des gegen den geständigen Beschuldigten geführten Verfahrens wegfallen, als verfehlt und damit die vom Generalprokurator erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes in diesem Umfang als zutreffend.

Insoferne aber die Begründung des bezeichneten Ratskammerbeschlusses auf Angaben abstellt, die ein Zeuge noch nicht vor einem Richter deponiert hat, kann in der diesbezüglich vertretenen Rechtsauffassung - ebenso wie in derjenigen, die der Vorgangsweise bzw dem Beschluss des Untersuchungsrichters vom 14. April 2000 zugrundeliegt - keine Verletzung des § 152 Abs 1 Z 1 StPO erblickt werden. Deshalb war im bezüglichen Umfang die Wahrungsbeschwerde zu verwerfen.

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