OGH 9Ob194/00w

OGH9Ob194/00w20.9.2000

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Maier als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Steinbauer, Dr. Spenling, Dr. Hradil und Dr. Hopf als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj. Lenny W*****, geb. 25. Februar 1994, in Obsorge der Mutter Grit W*****, diese vertreten durch Radel Stampf Supper Rechtsanwälte OEG in Mattersburg, über den außerordentlichen Revisionsrekurs des Vaters Kurt H*****, Angestellter, *****, vertreten durch Dr. Walter Mardetschläger ua, Rechtsanwälte in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichtes Eisenstadt als Rekursgericht vom 22. Februar 2000, GZ 20 R 50/00b-52, womit über Rekurs des Vaters der Beschluss des Bezirksgerichtes Mattersburg vom 14. März 2000, GZ 4 P 132/98v-46, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem außerordentlichen Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Pflegschaftssache zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Revisionsrekursbeantwortung der Mutter wird zurückgewiesen.

Text

Begründung

Der am 25. 2. 1994 geborene Lenny befindet sich in der Obsorge der Mutter.

Bereits am 29. 9. 1998 beantragte der ae. Vater, die Obsorge der Mutter zu entziehen und ihm zu übertragen, weil der Minderjährige seit der Trennung der Lebensgemeinschaft der Eltern bei ihm leben wolle. Die Mutter hatte sich dagegen ausgesprochen und angegeben, dass ein Verbleib des Kindes in ihrer nunmehrigen Familie einer Erziehung durch den Vater, bei dem es als Einzelkind leben müsse, vorzuziehen sei.

Ein vom Erstgericht eingeholtes Sachverständigengutachten ergab, dass der Minderjährige die intensivere Beziehung zu seinem Vater habe, dass er aber auch die Mutter nicht ablehne. Eine Beeinträchtigung der Förderung und Entwicklung des Kindes drohe bei keinem der Elternteile.

Aus einem Bericht der Bezirkshauptmannschaft Mattersburg geht hervor, dass der Minderjährige bei der Mutter, dem Stiefvater und zwei Halbgeschwistern lebe und in einem festen Familiengefüge aufwachse. Für seinen allein lebenden Vater sei er der absolute Lebensmittelpunkt und fast schon Partnerersatz; er beginne, sich für das Wohlbefinden seines Vaters verantwortlich zu fühlen, was eine psychische Überforderung darstelle. Zu ähnlichen Ergebnissen gelangte auch die Jugendabteilung des Magistrats der Stadt Wien, die sich trotz Anerkennung der Fähigkeit des Vaters, die Obsorge zu übernehmen, gegen einen "grundlosen" Obsorgewechsel aussprach.

Mit Beschluss vom 7. 6. 1999 hatte das Erstgericht daraufhin den Antrag des Vaters, ihm die Obsorge zu übertragen, abgewiesen und dabei unter Hinweis auf die wiedergegebenen Verfahrensergebnisse den Standpunkt vertreten, dass das Aufwachsen des Minderjährigen in einer Familie für diesen vorteilhafter sei, als in einer Zweierbeziehung mit dem Vater, für den er der absolute Lebensmittelpunkt wäre. Ein ausgewogenes Besuchsrecht entspreche dem Wohl des Kindes besser.

Am 24. 1. 2000 beantragte der Vater neuerlich, ihm die Obsorge zu übertragen. Die Umstände hätten sich wesentlich geändert, zumal die Mutter seit Herbst 1999 eine Militärausbildung absolviere und daher nur mehr an den Wochenenden zu Hause sei. Dies habe dazu geführt, dass das Kind, das ganztägig einen Kindergarten besuche, ihn dränge, die Obsorge anzustreben. Die Beziehung zwischen Vater und Kind habe sich noch intensiviert. Das Besuchsrecht funktioniere im Wesentlichen klaglos und werde von der Mutter großzügig gehandhabt. 1999 sei das Kind etwa 200 Tage bei seinem Vater gewesen. Allerdings weine der Minderjährige am Ende des jeweiligen Besuchs des Vaters und beschwere sich darüber, dass sich an seinem Wohnort - also bei der Mutter - niemand genug um ihn kümmere.

Die Mutter sprach sich gegen den Antrag des Vaters aus, gestand jedoch zu, dass sie derzeit aufgrund des von ihr absolvierten Vorbereitungssemesters an der Militärakademie beruflich ausgelastet sei. Der Minderjährige leide aber an dieser Situation nicht, weil sich ihr Ehemann und dessen Eltern sowie ihre Schwester um ihn kümmerten und sie dem Vater ein großzügiges Besuchsrecht einräume. Außerdem werde die derzeitige berufliche Auslastung nach der im Juli stattfindenden Aufnahmsprüfung für den Fachhochschullehrgang wegfallen.

Mit Beschluss vom 14. 3. 2000 wies das Erstgericht auch den neuerlichen Antrag des Vaters ab. Von einer wesentlichen Änderung der Umstände könne nicht gesprochen werden, weil die berufliche Belastung der Mutter mit Ende Juni wegfallen werde und dann wieder jene Verhältnisse gegeben seien, die dem vorangegangenen Beschluss zugrunde gelegen seien.

Mit dem angefochtenen Beschluss bestätigte das Rekursgericht diese Entscheidung und sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei.

Die Entziehung der Obsorge komme nur dann in Betracht, wenn der obsorgeberechtigte Elternteil durch sein Verhalten das Wohl des Kindes gefährde. Hingegen sei der Umstand, dass es dem Kind beim anderen Elternteil besser gehe, kein Anlass für eine Maßnahme nach § 176 Abs 1 ABGB. Auch solle der Wechsel des Erziehungsberechtigten möglichst vermieden werden, um die Stetigkeit und Dauer der Erziehung nicht zu gefährden. Ein Pflegeplatzwechsel könne daher nur dann vorgenommen werden, wenn eine wesentliche Verbesserung der Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten des Kindes zu erwarten sei. Auf den Wunsch des erst sechsjährigen Kindes komme es dabei nicht unbedingt an. Das vorübergehende berufliche Engagement der Mutter reiche daher - da für eine ausreichende Beaufsichtigung des Kindes gesorgt sei - für einen Obsorgewechsel nicht aus.

Der ordentliche Revisionsrekurs sei nicht zuzulassen, weil die Bedeutung der der ständigen Judikatur entsprechenden Entscheidung nicht über den Einzelfall hinausgehe.

Gegen diesen Beschluss richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs des Vaters mit dem Antrag, ihn im Sinne der Übertragung der Obsorge an den Vater abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Mutter erstattete eine Rekursbeantwortung mit dem Antrag, den Rekurs zurückzuweisen, hilfsweise, ihm nicht Folge zu geben.

Nach der Erlassung der Rekursentscheidung teilte der Vater dem Gericht mit, dass die Mutter aus der bisher mit ihrem Ehemann bewohnten Wohnung verschwunden sei. Der Minderjährige befinde sich derzeit bei ihm, wobei der Übernahme des Kindes wiederholte Äußerungen der Mutter vorangegangen seien, er könne den Minderjährigen abholen, sie wisse aber noch nicht wo, weil sie noch nicht sagen könne, wo sie sich befinden werde. Der Ehemann der Mutter habe dem Vater erklärt, dass die Mutter bereits seit Wochen einen Freund habe und sich nunmehr endgültig für diesen entschieden habe. Außerdem habe der Ehemann der Mutter dem Vater mitgeteilt, dass der Minderjährige in Pöttelsdorf immer verstört gewesen sei und öfters über zwei Tage nicht gesprochen habe. Überdies konkretisierte der Vater aus diesem Anlass seine schon früher erhobenen Behauptungen über Schwierigkeiten beim Besuchsrecht insofern, als er ausführte, dass sich das Kind nach den Besuchen beim Vater regelmäßig gewehrt habe, zur Mutter zu gehen; sie habe ihn mit Gewalt losreißen müssen.

Rechtliche Beurteilung

Der außerordentliche Revisionsrekurs ist zulässig, weil vor allem angesichts der nach der Erlassung des angefochtenen Beschlusses hervorgekommenen Entwicklungen eine den beantragten Obsorgewechsel rechtfertigende Gefährdung des Kindeswohles nicht auszuschließen ist. Diese Entwicklungen sind zu beachten, weil das grundsätzlich im Rekursverfahren geltende Neuerungsverbot nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs dann nicht gilt, wenn Neuerungen wegen geänderter Verhältnisse im Interesse des Kindes zu beachten sind (RIS-Justiz RS0006893; zuletzt 10 Ob 25/00z; 9 Ob 43/99k; 9 Ob 177/00w). Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Kindeswohlgefährdung ist der Zeitpunkt der letztinstanzlichen Entscheidung, sodass alle während des Verfahrens eintretenden Änderungen zu berücksichtigen sind (RIS-Justiz RS0006893; 1 Ob 2078/96m mwN; 4 Ob 2288/96s; 9 Ob 43/99k ua;).

Der Rekurs ist im Sinne der Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen berechtigt.

Schon der den Entscheidungen der Vorinstanzen zugrunde liegende Akteninhalt enthielt Hinweise darauf, dass die oben beschriebene Gestaltung der Beziehungen zwischen den Eltern und dem Kind letzterem Probleme bereitete. Schon bisher war aktenkundig, dass die Beziehungen des Minderjährigen zum Vater die intensiveren waren und dass er sich den überwiegenden Teil des letzten Jahres beim Vater aufhielt, der sogar für die Möglichkeit eines Kindergartenbesuchs Sorge getragen hat. Auch Hinweise auf Betreuungsdefizite bei der Mutter und auf Schwierigkeiten bei der Rückkehr des Kindes zur Mutter nach Besuchen beim Vater waren bereits aktenkundig. Diesen (in ihren Entscheidungen auch erkannten und erörterten Umständen) stellten die Vorinstanzen aber die für das Kind vorteilhafte Einbindung in den Familienverband der Mutter, die Gefahr, dass der Minderjährige zum Partnerersatz werde, die voraussichtliche Verbesserung der zeitlichen Verfügbarkeit der Mutter und die aus dem eingeholten Sachverständigengutachten abgeleitete Erkenntnis entgegen, dass das Kindeswohl auch bei einem Verbleib der Mutter nicht gefährdet sei.

Die nunmehr vom Vater vorgebrachten Umstände würden aber im Falle ihrer Erweislichkeit zu einer stärkeren Gewichtung der schon bisher aktenkundigen Schwierigkeiten in der Beziehung des Kindes zur Mutter rechtfertigen; vor allem aber würden sie gegenüber der bisherigen Entscheidungsgrundlage eine wesentliche Änderung bedeuten, weil das Argument der Notwendigkeit der Aufrechterhaltung der Einbindung in einen stabilen Familienverband wegfiele, wenn die Mutter tatsächlich ihren Ehemann verlassen hätte und nach Übergabe des Kindes an den Vater mit einem neuen Freund "verschwunden" wäre. Zudem ist angesichts des schon bisher zeitlich überwiegenden Aufenthalts des Kindes beim Vater und der Tatsache, dass das Kind (möglicherweise) derzeit (überhaupt?) bei ihm ist, fraglich, ob noch davon gesprochen werden kann, dass aus Gründen der anzustrebenden Kontinuität in der Betreuung ein Obsorgewechsel zu vermeiden sei. Zudem geht aus einer Eingabe des Vaters vom 14. 3. 2000 hervor, dass dieser nunmehr eine vom Minderjährigen akzeptierte Freundin habe, sodass auch - sollte dies zutreffen - das Argument, der Minderjährige laufe Gefahr, für den alleinstehenden Vater Partnerersatz zu werden, zu relativieren wäre.

Es ist daher erforderlich, die vom Vater aufgezeigten Umstände zu überprüfen und die Entscheidungsgrundlage durch geeignete Erhebungen zu ergänzen. Aus diesem Grunde mussten die Entscheidungen der Vorinstanzen aufgehoben und die Sache an das Erstgericht zurückverwiesen werden.

Die Rekursbeantwortung der Mutter war zurückzuweisen, weil das Rekursverfahren im außerstreitigen Verfahren - von hier nicht interessierenden Ausnahmen abgesehen - nur einseitig ist.

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