OGH 1Ob56/00t

OGH1Ob56/00t25.7.2000

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schlosser als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schiemer, Dr. Gerstenecker, Dr. Rohrer und Dr. Zechner als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Luise W*****, vertreten durch Dr. Klement Hohenberger, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Johann B*****, vertreten durch Dr. Markus Tesar, Rechtsanwalt in Baden, als Sachwalter, wegen Räumung eines Grundstücks (Streitwert 24.000 S) infolge außerordentlicher Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Berufungsgericht vom 10. Februar 1999, GZ 40 R 23/99z-28, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Bezirksgerichts Hernals vom 10. Juli 1998, GZ 17 C 172/97d-21, bestätigt wurde, folgenden

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen und das ihnen vorangegangene Verfahren werden als nichtig aufgehoben.

Die Kosten des nichtigen Verfahrens werden gegenseitig aufgehoben.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Kosten des Verfahrens erster Instanz.

Text

Begründung

Das Erstgericht gab dem auf titellose Benützung gestützten Klagebegehren auf Räumung eines Teils eines bestimmten Grundstücks statt.

Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil und sprach aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands 260.000 S übersteige und die ordentliche Revision nicht zulässig sei.

Der Beklagte erhob eine außerordentliche Revision und brachte darin erstmals vor, bereits "zum Zeitpunkt der Einleitung des Verfahrens" nicht prozessfähig gewesen zu sein. Er sei mit Beschluss des Bezirksgerichts Hernals vom 2. Februar 1951 wegen Geistesschwäche beschränkt entmündigt worden. Die Urteile der Vorinstanzen und das ihnen vorangegangene Verfahren seien daher gemäß § 477 Abs 1 Z 5 ZPO nichtig.

Mit Beschluss des Bezirksgerichts Hernals vom 23. Dezember 1999, GZ 1 P 180/99p-16, wurde der bisherige Verfahrenshelfer zum Sachwalter des Beklagten bestellt und ihm dessen Vertretung im Räumungsprozess aufgetragen.

Der Beklagte hat "eine primäre Minderbegabung mit höhergradigen intellektuellen Defiziten", weshalb eine "entsprechende Schul- und Berufsausbildung" unterblieb. Mittlerweile leidet der Beklagte auch an einem altersbedingten sekundären Abbau seiner geistigen Leistungsfähigkeit, wodurch für ihn vor allem Gedächtnisleistungen, die Kritikfähigkeit, die Überblicksverschaffung und der Weitblick in komplexen abstrakt-logischen Sinnzusammenhängen nicht verfügbar sind. Er ist in der Lage, seinen bescheidenen Alltag selbst zu organisieren und sich seine Pension einzuteilen. Er ist dagegen nicht fähig, "sich im anhängigen Verfahren ... ohne Gefahr eines Nachteils für sich selbst zu vertreten" (ON 16 des Aktes 1 P 180/99p). Der Beklagte war bereits einmal kraft des Beschlusses des Bezirksgerichts Hernals vom 2. 2. 1951 wegen einer höhergradigen Geistesschwäche beschränkt entmündigt (Beilage im Akt 1 P 180/99p). Er "dürfte" schon im Zeitpunkt der Verfahrenseinleitung (Klageeinbringung 21. 2. 1997) an jener Beeinträchtigung seiner geistigen Leistungsfähigkeit gelitten haben, die Ursache für die Sachwalterbestellung war.

Der Sachwalter des Beklagten teilte dem Erstgericht im Zuge eines Sanierungsversuchs gemäß § 6a letzter Satz ZPO im Schriftsatz vom 7. April 2000 mit, den in der außerordentlichen Revision gestellten "Antrag auf Nichtigerklärung des Verfahrens ... voll aufrechtzuerhalten".

Die außerordentliche Revision ist, wie sogleich zu begründen sein wird, zulässig; sie ist auch berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

1. Nichtigkeiten, über deren Vorliegen oder Nichtvorliegen eine den Obersten Gerichtshof bindende Entscheidung der Vorinstanzen - wie hier - nicht vorliegt, sind nach herrschender Ansicht aus Anlass eines prozessual zulässigen außerordentlichen Rechtsmittels als erhebliche Rechtsfrage nach § 502 Abs 1 ZPO - gemäß § 510 Abs 2 ZPO in Verbindung mit § 6 Abs 1 ZPO auch von Amts wegen - wahrzunehmen (1 Ob 169/99f; SZ 68/220; Fasching, LB2 Rz 1891; Kodek in Rechberger, ZPO2 Rz 2 zu § 477 und Rz 4 zu § 502 mwN aus der Rsp).

2. Der Beklagte machte einen Vertretungsmangel gemäß § 477 Abs 1 Z 5 ZPO als Nichtigkeitsgrund geltend. Nach den Erhebungsergebnissen "dürfte" er die für die Bestellung eines Sachwalters ursächliche geistige Behinderung bereits im Zeitpunkt der Verfahrenseinleitung gehabt haben. Aus dem Gesamtzusammenhang aller Tatsachen ergibt sich jedoch mit prozesspraktischer Gewissheit, dass die intellektuellen Fähigkeiten des Beklagten bei Verfahrenseinleitung nicht größer als im Zeitpunkt der Sachwalterbestellung gewesen sein können. Dieser Sicht tritt auch die Klägerin nicht entgegen.

Aus den maßgebenden Tatsachen ist zu schließen, dass der Beklagte schon seit dem Zeitpunkt der Klagezustellung (6. 3. 1997) prozessunfähig ist, konnte er doch die Bedeutung und Tragweite prozessualen Verhaltens bereits damals nicht erfassen und demzufolge auch nicht rational handeln. Der unzutreffenden Ansicht der Klägerin, der Vertretungsmangel gelte bereits durch die Sachwalterbestellung als saniert, ist zu entgegnen, dass die Behebung des Mangels einen nachträglichen Genehmigungsakt des Sachwalters voraussetzt. Dieser erklärte im Sanierungsverfahren nach § 6a letzter Satz ZPO ausdrücklich, die Nichtigkeitsrevision "vollinhaltlich" aufrechtzuerhalten. Somit kann aber eine nachträgliche Genehmigung der Prozessführung im Sinne des § 477 Abs 2 ZPO nicht unterstellt werden.

Der Mangel der Prozessfähigkeit ohne nachträgliche prozessordnungsgemäße Genehmigung des bisherigen Verfahrens begründet Nichtigkeit gemäß § 477 Abs 1 Z 5 ZPO (Näheres bei Fucik in Rechberger aaO Rz 2 zu § 1, Rz 5 zu § 6a; Rz 1 zu § 7; Kodek aaO Rz 8 zu § 477). Die Nichtigkeit erfasst hier die Urteile der Vorinstanzen samt deren Verfahren. Der Räumungsprozess ist somit - beginnend ab der Klagezustellung an den Sachwalter des Beklagten - neu durchzuführen. Mangels nachträglicher Genehmigung der Prozessführung durch den Sachwalter kann daran gemäß § 7 Abs 1 in Verbindung mit § 477 Abs 1 Z 5 ZPO auch die Ansicht der Klägerin nichts ändern, der Beklagte habe die Notwendigkeit einer gesetzlichen Vertretung zunächst selbst nicht geltend gemacht und das Verfahren hätte auch im Falle dessen ordnungsgemäßen Vertretung kein anderes Ergebnis gezeitigt.

3. Die Kosten des nichtigen Verfahrens sind gemäß § 51 Abs 2 ZPO gegenseitig aufzuheben. Dem Akteninhalt sind keine Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, dass die Einleitung bzw Fortsetzung des Verfahrens trotz des vorhandenen Nichtigkeitsgrunds einer der Parteien als Verschulden zuzurechnen wäre. Es kann also auch dem prozessunfähigen Beklagten, der die Tragweite seines prozessualen Verhaltens gar nicht versteht, nicht angelastet werden, dass er nicht schon vor dem Revisionsverfahren auf seine geistige Behinderung hinwies. Der Ausspruch über die Kosten des Revisionsverfahrens gründet sich auf § 52 Abs 1 ZPO.

Stichworte