OGH 10ObS135/00a

OGH10ObS135/00a6.6.2000

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Ehmayr und Dr. Fellinger sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Heinz Paul und MR Dr. Robert Göstl (beide aus dem Kreis der Arbeitgeber) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Josefine L*****, Pensionistin, ***** vertreten durch Dr. Alfred Hawel und Dr. Ernst Eypeltauer, Rechtsanwälte in Linz, gegen die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der Bauern, 1031 Wien, Ghegastraße 1, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen Pflegegeld, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 3. Februar 2000, GZ 11 Rs 4/00p-15, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Linz als Arbeits- und Sozialgericht vom 26. August 1999, GZ 6 Cgs 269/98x-10, mit einer Maßgabe bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die Klägerin hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Mit Bescheid vom 24. 4. 1998 erhöhte die beklagte Partei das Pflegegeld der Klägerin auf Stufe 4 ab 1. 5. 1998.

Die Klägerin begehrte mit ihrer Klage die Erhöhung des Pflegegeldes über die Stufe 4 hinaus.

Das Erstgericht verpflichtete die beklagte Partei zur Zahlung des Pflegegeldes der Stufe 5 ab 1. 5. 1998.

Nur gegen die Nichtzuerkennung eines Pflegegeldes der Stufe 6 ab 1. 1. 1999 erhob die Klägerin Berufung. Das Berufungsgericht gab dieser Berufung keine Folge und bestätigte das Ersturteil mit der Maßgabe, dass das Mehrbegehren nach einem Pflegegeld der Stufe 6 im gesetzlichen Ausmaß ab 1. 1. 1999 abgewiesen wird. In der allein noch strittigen Frage, ob bei der Klägerin zu dem Pflegebedarf von durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich und dem Vorliegen eines außergewöhnlichen Pflegeaufwandes ab 1. 1. 1999 noch das Erfordernis einer dauernden Beaufsichtigung oder eines gleichzuachtenden Pflegeaufwandes hinzukommt, vertrat das Berufungsgericht die Ansicht, der festgestellte Gesundheitszustand der Klägerin biete dafür keinen Anhaltspunkt. Es sei nicht ersichtlich, warum die weitgehend permanente Anwesenheit einer Pflegeperson im Wohnbereich oder in unmittelbarer Nähe der Klägerin erforderlich sein soll, andererseits bestehe auf Grund der getroffenen Feststellungen auch kein Anlass zur Annahme, dass intensive zeitlich unkoordinierbare Pflegeleistungen erbracht werden müssten. Bei der Klägerin bestehe keine Gefahr selbstgefährdender Handlungen - nach dem Sachverständigengutachten sei die Klägerin psychisch verlangsamt, jedoch voll orientiert und könne sich mit Mühe verbal verständlich machen; die erforderlichen Betreuungsmaßnahmen wie Wechseln und Prüfen der Inkontinenzwindeln sowie Umlagern (alle zwei Stunden pro Tag oder alle vier Stunden pro Nacht) stellten keine Maßnahmen einer zeitlich unkoordinierbaren Pflegeleistung dar. Die Ansicht des Erstgerichtes, die Klägerin benötige unter Berücksichtigung der erforderlichen Betreuungsleistungen und unter Bedachtnahme auf ihre Fähigkeit, mit Hilfe einer Rufvorrichtung eine Betreuungsperson herbeizurufen, zwar die dauernde Bereitschaft, nicht jedoch die dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson, sei daher zutreffend. Die vom Erstgericht in seinem Urteilsspruch unterlassene Abweisung des Begehrens nach Zuspruch des höheren Pflegegeldes der Stufe 6 sei durch eine Maßgabebestätigung nachzuholen.

Diese Entscheidung bekämpft die Klägerin in ihrer Revision wiederum insoweit, als ihr ab 1. 1. 1999 nicht das Pflegegeld der Stufe 6 zuerkannt wurde. Die Klägerin beantragt, die angefochtene Entscheidung entsprechend abzuändern, hilfsweise auch aufzuheben und die Rechtssache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht oder das Erstgericht zurückzuverweisen.

Die beklagte Partei hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nicht berechtigt.

Während im Hinblick auf die am 1. 1. 1999 in Kraft getretene Novelle zum BPGG BGBl I 1998/111 und das zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossene gerichtliche Verfahren gemäß dessen § 48 Abs 1 für die Zeit bis zum 31. 12. 1998 für die Beurteilung des Anspruches der Klägerin die Bestimmungen des § 4 BPGG vor der Novelle samt EinstV BGBl 1993/314 zugrundezulegen waren, ist ihr Anspruch für den noch strittigen Zeitraum ab 1. 1. 1999 nach der neuen Rechtslage zu beurteilen, wobei allerdings die zitierte EinstV erst mit Wirksamkeit vom 31. 1. 1999 aufgehoben und durch die neue EinstV BGBl II 1999/37 ersetzt wurde (§ 9 EinstV nF).

Nach § 4 Abs 2 BPGG nF besteht Anspruch auf Pflegegeld in Höhe der Stufe 6 für Personen, deren Pflegebedarf nach Abs 1 durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich beträgt, wenn

1. zeitlich unkoordinierbare Betreuungsmaßnah- men erforderlich sind und diese regelmäßig während des Tages und der Nacht zu erbringen sind oder

2. die dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson während des Tages und der Nacht erforderlich ist, weil die Wahrscheinlichkeit einer Eigen- oder Fremdgefährdung gegeben ist.

Während die Z 1 im § 4 Abs 2 Stufe 6 BPGG nF nach bereits mehrfach geäußerter Auffassung des erkennenden Senates (vgl 10 ObS 405/98a; 10 ObS 370/98d) eine Ausweitung gegenüber der alten Rechtslage darstellt, entspricht die Z 2 trotz anderer Wortwahl dem Fall der "dauernden Beaufsichtigung oder einem gleichzuachtenden Pflegeaufwand" nach der alten Rechtslage. Die Voraussetzungen dafür liegen nach ständiger Rechtsprechung des erkennenden Senates dann vor, wenn die weitgehend permanente Anwesenheit einer Pflegeperson im Wohnbereich bzw in unmittelbarer Nähe des Pflegebedürftigen notwendig ist. Dies wird vor allem dann erforderlich sein, wenn im Einzelfall besonders häufig und/oder besonders dringend (zB wegen sonstiger Selbstgefährdung) ein Bedarf nach fremder Hilfe auftritt (vgl RIS-Justiz RS0107442; RS0106362 mwN). Ob das Erfordernis einer dauernden Beaufsichtigung oder eines gleichzuachtenden Pflegeaufwandes besteht, ist keine Tat-, sondern eine Rechtsfrage, die ausgehend von den Feststellungen über die Bedürfnisse des Betroffenen im konkreten Fall zu beurteilen ist (vgl 10 ObS 64/99f ua).

Der erkennende Senat hat erst jüngst in der Entscheidung 10 ObS 218/99b vom 18. 4. 2000 unter Hinweis auf die Gesetzesmaterialien dargelegt, dass die BPGG-Novelle 1998 vom ausdrücklichen Bestreben des Gesetzgebers getragen war, insbesondere Unklarheiten beim Begriff der "dauernden Beaufsichtigung" zu beseitigen und die Abgrenzungskriterien - weitgehend in Anlehnung an die bisher hiezu ergangene Judikatur des Obersten Gerichtshofes - zur Klarstellung und aus Gründen der Rechtssicherheit deutlicher zu definieren. Bei der dauernden Beaufsichtigung "handelt es sich auch um einen umgangssprachlichen Begriff, der in vielen Fällen von den pflegenden Angehörigen anders als vom Gesetzgeber beabsichtigt interpretiert wird. Diese fühlen sich verständlicherweise verpflichtet, einen Pflegebedürftigen nicht alleine zu lassen, auch wenn ihm de facto keine unmittelbare Gefahr droht, d.h. keine Notwendigkeit der dauernden Beaufsichtigung im Sinne des Gesetzes vorliegt. Die Pflegepersonen können daher die Einstufung in eine niedrigere Pflegegeldstufe oftmals nicht akzeptieren ... Für die Zuordnung in die Stufe 6 sollen neben dem zeitlichen Ausmaß von mehr als durchschnittlich 180 Stunden pro Monat entweder zusätzliche unkoordinierbare Pflegemaßnahmen oder die dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson wegen Eigen- oder Fremdgefährdung notwendig sein. Zeitlich unkoordinierbare Pflegemaßnahmen liegen dann vor, wenn ein im Vorhinein festgelegter Pflegeplan nicht eingehalten werden kann und auch regelmäßig während der Nachtstunden, d.h. nahezu jede Nacht, tatsächlich (unkoordinierbare) Betreuungsmaßnahmen erbracht werden müssen. Zeitlich unkoordinierbare Pflegemaßnahmen sind etwa dann zu erbringen, wenn wegen einer Schlucklähmung regelmäßiges Absaugen oder Aufsetzen des Pflegebedürftigen erforderlich ist. Auch das Beruhigen oder Zurückbringen bei nächtlicher Verwirrtheit und Umtriebigkeit wird darunter zu verstehen sein. Die dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson im unmittelbaren Wohnbereich kann bei Menschen mit geistiger Behinderung oder einer psychischen Erkrankung auch dann notwendig sein, wenn die Gesundheit des Pflegebedürftigen selbst oder einer anderen Person gefährdet ist (RV 1186 BlgNR 20. GP, 11; § 7 EinstV nF; Fürstl-Grasser/Pallinger in SozSi 1999, 282 [287]; vgl auch §§ 15, 16 Z 3 der - die Gerichte nicht bindenden [§ 2] - Richtlinien des Hauptverbandes für die einheitliche Anwendung des BPGG nach § 31 Abs 5 Z 23 ASVG, SozSi 1999, 360 - Amtl. Verlautbarung 41/1999; Rudda/Türk in SozSi 1999, 271 ff).

Das Berufungsgericht hat im Sinne dieser Ausführungen zutreffend dargelegt, dass bei der Klägerin die Voraussetzungen für ein höheres Pflegegeld als das der Stufe 5 auch nach neuem Recht nicht erfüllt sind. Bei der Klägerin besteht keine Gefahr selbst- oder fremdgefährdender Handlungen. Die Feststellungen bieten aber auch keinen Anhaltspunkt für das Erfordernis zeitlich unkoordinierbarer Betreuungsmaßnahmen. Der Umstand, dass die Klägerin bettlägrig ist, für Lagewechsel fremder Hilfe bedarf und eine Stuhl- und Harninkontinenz besteht, rechtfertigt für sich allein nicht die Annahme des Erfordernisses zeitlich unkoordinierbarer Betreuungsmaßnahmen und damit der Notwendigkeit der dauernden Anwesenheit einer Pflegeperson, zumal die Klägerin in der Lage ist, bei Bedarf mit Hilfe einer Rufvorrichtung eine Betreuungsperson herbeizurufen und das (regelmäßige) Umbetten der Klägerin gegen Wundliegen nicht unkoordinierbar ist (vgl 10 ObS 218/99b; 10 ObS 364/98x ua). Auch das weitere Vorbringen der Klägerin in ihrer Revision, wonach sie auch für das Abwischen des Gesichts, Schnäuzen, Benetzen der Lippen mit Wasser bzw Trinken von Wasser bei Durstgefühl, Lagewechsel, Kratzen bei Juckreiz etc fremder Hilfe bedürfe, indiziert jedenfalls nicht die für eine Einstufung in die Pflegegeldstufe 6 notwendige tatsächliche Verrichtung von zeitlich unkoordinierbaren Betreuungsmaßnahmen auch während der Nachtstunden, wenn die Klägerin schläft und sie nach den Feststellungen lediglich alle vier Stunden umgelagert werden muss. Sekundäre Feststellungsmängel liegen nicht vor.

Da die Klägerin somit die Voraussetzungen für ein höheres Pflegegeld als das der Stufe 5 auch nach neuem Recht nicht erfüllt, war der Revision ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Gründe für einen Kostenzuspruch an die Klägerin nach Billigkeit wurden nicht dargetan und sind auch nicht ersichtlich.

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