OGH 10ObS64/99f

OGH10ObS64/99f1.6.1999

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Ehmayr und Dr. Fellinger sowie die fachkundigen Laienrichter Brigitte Augustin (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Peter Stattmann (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei mj Harald L*****, vertreten durch den Vater Helmut L*****, dieser vertreten durch Dr. Andrea Göll, Rechtsanwältin in Wien, wider die beklagte Partei Land Wien, vertreten durch den Magistrat der Stadt Wien, Magistratsabteilung 12, 1010 Wien, Schottenring 24, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen Pflegegeld, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 20. November 1998, GZ 9 Rs 267/98w-21, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 16. April 1998, GZ 28 Cgs 179/97m-12, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden im abweisenden Teil, also hinsichtlich des Begehrens eines Pflegegeldes in Höhe der Differenz zwischen der Stufe 5 und 6, aufgehoben.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sozialrechtssache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens bilden weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Dem Kläger wurde mit Bescheid vom 29. 7. 1995 Pflegegeld der Stufe 2 ab 1. 3. 1995 und mit Mitteilung vom 4. 9. 1995 der Differenzbetrag zwischen dem Pflegegeld der Stufe 2 und dem Pflegegeld der Stufe 6 gewährt.

Mit Bescheid vom 14. 11. 1997 wurde das gewährte Pflegegeld der Stufe 6 herabgesetzt und ab 1. 1. 1998 Pflegegeld der Stufe 5 gewährt.

Dagegen richtet sich die vorliegende Klage mit dem sinngemäßen Begehren, die beklagte Partei zu verpflichten, dem Kläger ab 1. 1. 1998 weiterhin das Pflegegeld in der bisherigen Stufe 6 zu gewähren.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es traf hiezu folgende Feststellungen:

Der (am 13. 3. 1989 geborene) Kläger hat aufgrund von Netzhautabhebungen, Netzhautveränderungen und einem komplizierten Star das Sehvermögen verloren. Er ist als blind zu bezeichnen. Beim Kläger findet sich weiters ein Zustand nach psychomentaler Entwicklungsstörung, Status nach Schädel-Hirn-Trauma. Der Kläger kann mit Ausnahme des Essens beispielsweise einer ihm in die Hand gegebenen Banane oder dergleichen keinerlei Verrichtungen des täglichen Lebens alleine durchführen. Eine Observanz ist erforderlich. Diese geschieht teilweise auch in der Behindertenschule, wo sich der Kläger an Wochentagen 7 Stunden täglich aufhält.

In rechtlicher Hinsicht beurteilte das Erstgericht diese Feststellungen dahin, daß beim Kläger zwar ein durchschnittlicher Pflegebedarf von mehr als 180 Stunden monatlich gegeben sei und auch ein außergewöhnlicher Pflegeaufwand, nicht jedoch eine dauernde Beaufsichtigung erforderlich sei. Ein Anspruch auf Gewährung von Pflegegeld der Stufe 6 bestehe daher nicht.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers teilweise Folge und erkannte die beklagte Partei schuldig, dem Kläger die dem angefochtenen Bescheid entsprechende Leistung, sohin ab 1. 1. 1998 Pflegegeld in Höhe der Stufe 5 nach dem Wiener Pflegegeldgesetz (WPGG) unter Anwendung des halben Erhöhungsbetrags der Familienbeihilfe für erheblich behinderte Kinder im Gesamtbetrag von S 10.766,-- monatlich zu bezahlen. Das Mehrbegehren auf Zahlung von Pflegegeld der Stufe 6 ab 1. 1. 1998 wurde abgewiesen. Das Berufungsgericht teilte im wesentlichen die Rechtsansicht des Erstgerichtes, daß eine dauernde Beaufsichtigung des Klägers nicht erforderlich sei.

Gegen dieses Urteil richtet sich die auf die Revisionsgründe der Mangelhaftigkeit des Verfahrens sowie der unrichtigen rechtlichen Beurteilung gestützte Revision des Klägers mit dem Antrag, das angefochtene Urteil dahingehend abzuändern, daß dem Klagebegehren vollinhaltlich stattgegeben werde. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei hat keine Revisionsbeantwortung erstattet.

Die Revision ist im Sinne des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrages berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß die Herabsetzung des Pflegegeldes von der durch Mitteilung vom 4. 9. 1995 gewährten Stufe 6 auf Stufe 5 keine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse zur Voraussetzung hatte und daher die Neufeststellung auch ohne solche Änderung erfolgen konnte (vgl 10 ObS 447/97a; SSV-NF 10/110 ua). Weiters ist auszuführen, daß seitens der beklagten Partei unbekämpft und damit unstrittig ist, daß der Kläger einen Pflegebedarf von durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich und einen außergewöhnlichen Pflegeaufwand im Sinne des § 6 WEinstV hat. Dies rechtfertigt nach § 4 Abs 2 WPGG den vom Berufungsgericht zutreffend vorgenommenen Zuspruch eines Pflegegeldes in Höhe der Stufe 5 ab dem 1. 1. 1998, entsprechend dem angefochtenen Bescheid.

Strittig ist somit nur noch die Frage, ob beim Kläger die für den begehrten Zuspruch des Pflegegeldes der Stufe 6 auch erforderliche dauernde Beaufsichtigung oder ein gleichzuachtender Pflegeaufwand vorliegt.

Wie bereits das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt hat, sind für das Ausmaß des Pflegegeldes ab Stufe 5 nach § 4 Abs 2 WPGG zusätzlich zu einem zeitlichen Aufwand von 180 Stunden auch noch andere Kriterien maßgebend. Diese sollen offenbar das Erfordernis besonders qualifizierter Pflege indizieren, sind allerdings zum Teil nur recht vage umschrieben. So wird für die Stufe 5 ein außergewöhnlicher Pflegeaufwand verlangt. Dieser liegt nach § 6 WEinstV vor, wenn die dauernde Bereitschaft einer Pflegeperson, nicht jedoch deren dauernde Anwesenheit erforderlich ist. Dauernde Bereitschaft ist dahingehend zu verstehen, daß der Pflegebedürftige jederzeit Kontakt mit der Pflegeperson aufnehmen und diese in angemessener Zeit die erforderliche Betreuung und Hilfe leisten kann oder die Pflegeperson von sich aus in angemessenen Zeitabständen Kontakt mit dem Pflegebedürftigen aufnimmt (Gruber/Pallinger, BPGG § 4 Rz 56; SSV-NF 11/48). Für die Gewährung eines Pflegegeldes in Höhe der Stufe 6 ist - wiederum zusätzlich zum 180 Stunden im Monatsdurchschnitt übersteigenden zeitlichen Aufwand - eine dauernde Beaufsichtigung des Pflegebedürftigen oder ein gleichzuachtender Pflegeaufwand erforderlich. Die Einordnung in Stufe 6 sollte nach der Regierungsvorlage zum BPGG (776 BlgNR 18. GP) nur bei Vorliegen des Erfordernisses der dauernden Beaufsichtigung zulässig sein. Dieser Tatbestand betrifft in erster Linie Pflegebedürftige mit - wie hier im Vordergrund stehender - geistiger oder psychischer Behinderung. Durch die im Ausschuß für Arbeit und Soziales vorgenommene Erweiterung der Anspruchsvoraussetzungen für die Stufe 6 durch die Wortfolge "oder ein gleichzuachtender Pflegeaufwand" sollte auch körperlich behinderten Menschen der Zugang zu dieser Stufe ermöglicht werden (908 BlgNR 18. GP, 4). Unter dauernder Beaufsichtigung (Tag und Nacht) ist hiebei nach nunmehr ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes die Notwendigkeit einer weitgehend permanenten Anwesenheit einer Pflegeperson im Wohnbereich bzw in unmittelbarer Nähe des Pflegebedürftigen zu verstehen (Gruber/Pallinger aaO Rz 57; SSV-NF 11/9; 11/48; 10 ObS 33/98w ua). Die dauernde Beaufsichtigung eines Pflegebedürftigen wird vorallem dann erforderlich sein, wenn im Einzelfall am Tag und während der Nacht besonders häufig und/oder besonders dringend (zB wegen sonstiger Selbstgefährdung) ein Bedarf nach fremder Hilfe auftritt.

Nach den - für Gerichte und für die beklagte Partei allerdings nicht bindenden (vgl SSV-NF 10/131) - Richtlinien des Hauptverbandes für die einheitliche Anwendung des BPGG nach § 31 Abs 5 Z 23 ASVG, SozSi 1994, 686, wird ein dem Erfordernis dauernder Beaufsichtigung gleichzuachtender Zustand dann angenommen, wenn eine intensive, zeitlich unkoordinierbare Pflegeleistung beim immobilen oder mobilen Pflegebedürftigen zu erbringen ist (§ 17 Abs 2 Z 3 lit b dieser Richtlinie). Diese Umschreibung der Erfordernisse für eine Einstufung in die Stufe 6 deckt sich im wesentlichen mit der Auffassung des Obersten Gerichtshofes (SSV-NF 11/48; 10 ObS 33/98w ua). Ob das Erfordernis einer dauernden Beaufsichtigung oder eines gleichzuachtenden Pflegeaufwandes besteht, ist keine Tat-, sondern eine Rechtsfrage, die ausgehend von den Feststellungen über die Bedürfnisse des Betroffenen im konkreten Fall zu beurteilen ist.

Die vom Erstgericht getroffenen Feststellungen bieten noch keine taugliche Grundlage für die Beurteilung der Frage, ob der Zustand des Klägers eine solche dauernde Beaufsichtigung oder einen gleichzuachtenden Pflegeaufwand erfordert. Das Erstgericht hat dazu lediglich festgestellt, daß der (nunmehr 9 Jahre alte) Kläger mit Ausnahme des Essens beispielsweise einer ihm in die Hand gegebenen Banane oder dergleichen keinerlei Verrichtungen des täglichen Lebens alleine durchführen kann und eine Observanz erforderlich ist, die teilweise auch in der Behindertenschule geschieht, in der sich der Kläger an Wochentagen 7 Stunden täglich aufhält. Daraus ist nicht ersichtlich, ob die weitgehend permanente Anwesenheit einer Pflegeperson in unmittelbarer Nähe des Klägers im schulischen und privaten Bereich erforderlich ist. Die dauernde Beaufsichtigung des Klägers wird vor allem dann erforderlich sein, wenn - aufgrund der in diesem Fall ebenfalls noch ergänzend zu treffenden Feststellungen - beim Kläger besonders häufig und/oder besonders dringend (zB wegen sonstiger Selbst- oder Fremdgefährdung) ein Bedarf nach fremder Hilfe auftritt.

Auch für die Beurteilung der Frage, ob beim Kläger intensive, zeitlich unkoordinierbare Pflegeleistungen erbracht werden müssen, bieten die Feststellungen derzeit noch keine ausreichende Grundlage. Es ist nicht festgestellt, ob der Kläger in der Lage ist, mit einer Pflegeperson in Kontakt zu treten, diese bei Bedarf herbeizurufen und seine Wünsche sach- und realitätsbezogen zu äußern. Klärungsbedürftig ist in diesem Zusammenhang auch, ob sich seine Betreuung (zeitlich wie inhaltlich) strukturieren und standardisieren sowie im Tagesablauf vorausplanen läßt und darüberhinaus eine Rufbereitschaft einer Pflegeperson ausreicht, oder ob jemand ständig bei ihm sein muß und somit bei ihm eine intensive, zeitlich unkoordinierbare Pflegeleistung erforderlich ist (vgl SSV-NF 11/46).

Da demnach wesentliche für die Entscheidung relevante Fragen ungeprüft geblieben sind, ist die Sache noch nicht spruchreif. Zur Abklärung dieser aufgezeigten Feststellungsmängel bedarf es einer Verhandlung erster Instanz, weshalb die Urteile der Vorinstanzen im noch strittigen Umfang (Differenz der Stufen 5 und 6) aufzuheben und die Sache an das Erstgericht zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen war (§ 496 Abs 1 Z 2 ZPO).

Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 Abs 1 ZPO iVm § 2 Abs 1 ASGG.

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