OGH 1Ob332/99a

OGH1Ob332/99a22.2.2000

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schlosser als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schiemer, Dr. Gerstenecker, Dr. Rohrer und Dr. Zechner als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Gerhard K*****, vertreten durch Dr. Andreas Oberhofer, Rechtsanwalt in Innsbruck als Verfahrenshelfer, wider die beklagte Partei Friedrich S*****, vertreten durch Dr. Alois Schneider, Rechtsanwalt in Rattenberg, wegen 561.100 S sA infolge Rekurses der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgerichts vom 28. Oktober 1999, GZ 1 R 236/99m-52, womit die Berufung der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Innsbruck vom 9. Juni 1999, GZ 13 Cg 33/97h-40, zurückgewiesen wurde, in nichtöffentlicher Sitzung folgenden

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Rekurs wird Folge gegeben. Der angefochtene Beschluss wird ersatzlos aufgehoben und dem Berufungsgericht die Fortsetzung des Verfahren über die Berufung der klagenden Partei unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund aufgetragen.

Die Rekurskosten sind weitere Kosten des Berufungsverfahrens.

Text

Begründung

Der Kläger war im erstinstanzlichen Verfahren durch einen vom Ausschuss der zuständigen Rechtsanwaltskammer (im folgenden nur Ausschuss) zum Verfahrenshelfer bestellten Rechtsanwalt (1. Verfahrenshelfer) vertreten, dem am 16. Juni 1999 auch das klageabweisende Ersturteil zugestellt wurde. Während des Laufs der Berufungsfrist bestellte der Ausschuss über Ersuchen des 1. Verfahrenshelfers an dessen Stelle zuerst einen anderen Rechtsanwalt (2. Verfahrenshelfer) und schließlich über dessen Ersuchen an dessen Stelle mit Bescheid vom 29. Juni 1999 einen dritten Rechtsanwalt (3. Verfahrenshelfer) zum Vertreter des Klägers im Rahmen der bewilligten Verfahrenshilfe gemäß § 45 Abs 1 RAO. Dieser Umbestellungsbescheid wurde dem 3. Verfahrenshelfer am 30. Juni 1999 zugestellt. Das Erstgericht übermittelte dem 3. Verfahrenshelfer eine am 5. Juli 1999 zugestellte "Aktenkopie" einschließlich einer Kopie des Ersturteils.

Das Berufungsgericht wies die am 13. September 1999 überreichte Berufung des Klägers als verspätet zurück. Dazu vertrat es - in Ablehnung der als vereinzelt beurteilten Entscheidung 6 Ob 621/94 - die Ansicht, die Berufungsfrist habe schon mit der Zustellung des Umbestellungsbescheids an den neu bestellten (3.) Verfahrenshelfers am 30. Juni 1999 zu laufen begonnen.

Der gegen die Zurückweisung einer Berufung wegen Verspätung erhobene Rekurs des Klägers ist gemäß § 519 Abs 1 Z 1 ZPO ohne die Beschränkung des § 502 Abs 1 ZPO zulässig (stRspr, zuletzt 1 Ob 190/99v; RIS-Justiz RS0043760); er ist auch berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

§ 464 Abs 3 erster Satz ZPO idF BGBl 1955/282 und des VerfHG BGBl 1973/569 lautet:

Hat eine die Verfahrenshilfe genießende oder beantragende Partei innerhalb dieser Frist die Beigebung eines Rechtsanwalts beantragt, so beginnt für sie die Berufungsfrist mit der Zustellung des Beschlusses über die Bestellung des Rechtsanwalts und einer schriftlichen Urteilsausfertigung an ihn; der Bescheid ist durch das Gericht zuzustellen.

Damit ist klargestellt, dass für den erstmals bestellten Verfahrenshelfer die Rechtsmittelfrist erst mit der Zustellung des Bestellungsbeschlusses und einer schriftlichen Urteilsausfertigung zu laufen beginnt. Zum Problem der Umbestellung des Verfahrenshelfers sagt die Bestimmung nichts. Der Oberste Gerichtshof vertritt aber in ständiger Rechtsprechung die Ansicht, dass bei einer Umbestellung des Verfahrenshilfeanwalts die noch nicht abgelaufene Rechtsmittelfrist mit der Zustellung des Dekrets über die Bestellung eines neuen Rechtsanwalts an diesen neu zu laufen beginnt (SZ 44/133; AnwBl 1984, 448; 2 Ob 529/92 ua; RIS-Justiz RS0041698, Kodek in Rechberger, ZPO2 § 464 Rz 4). In der nicht veröffentlichten Entscheidung 2 Ob 529/92 wurde aber ferner einerseits die Auffassung vertreten, für die Ingangsetzung der neuen Frist sei es nicht erforderlich, dass der Umbestellungsbescheid der Rechtsanwaltskammer vom Gericht zugestellt werde, und andererseits, in einem solchen Fall löse nicht erst die Zustellung einer Entscheidungsausfertigung den Fristablauf aus. Beides könne dem Gesetz nicht entnommen werden und sei im Hinblick auf die (nunmehr) vierwöchige Berufungsfrist zum Schutz der Partei auch nicht erforderlich; es stehe ausreichend Zeit zur Verfügung, um die Übermittlung der Entscheidungsausfertigung von einem Verfahrenshilfeanwalt an den anderen zu ermöglichen.

In seiner Entscheidung 1 Ob 595/93 (= Jus-Extra OGH-Z 2051) vertrat der erkennende Senat die Ansicht, der Gesetzgeber habe mit der Novellierung des § 464 Abs 3 ZPO den - nicht zu unterlaufenden - Zweck verfolgt, die Vertretung durch den Rechtsanwalt dadurch wirksamer zu gestalten, dass er ab Beginn der Rechtsmittelfrist im Besitz des anzufechtenden Urteils sei (846 BlgNR 13.GP, 16). Sonst wäre nämlich in jedem Fall entgegen dem ausdrücklichen Gesetzesauftrag die Zustellung einer Urteilsausfertigung entbehrlich, weil die Berufungsfrist durch die Zustellung der schriftlichen Ausfertigung des Urteils in Gang gesetzt werde (§ 464 Abs 2 ZPO) und daher zwingend im Zeitpunkt der Antragstellung gemäß § 464 Abs 3 ZPO entweder die Partei selbst oder deren bisheriger Vertreter eine schriftliche Urteilsausfertigung in Händen habe. Es bedürfte daher zumindest in den Verfahren mit Anwaltszwang niemals der (neuerlichen) Zustellung einer Urteilsausfertigung, weil in jedem Fall der Verfahrenshelfer sich diese bei dem bisherigen Prozessbevollmächtigten besorgen könnte. Dies und die dadurch bewirkte Verkürzung der dem Rechtsanwalt zur Ausarbeitung des Rechtsmittels zur Verfügung stehenden Frist habe der Gesetzgeber durch die Novellierung aber gerade vermeiden wollen. Es habe dabei zu verbleiben, dass die Berufungsfrist erst durch die Zustellung sowohl des Bestellungsbescheids als auch der Urteilsausfertigung zu laufen beginne. An dieser Rechtsansicht könnten auch die Überlegungen Faschings (in Lehrbuch2, Rz 500), dass durch die Unterbrechung der Rechtsmittelfristen erhebliche Verfahrensverzögerungen verbunden sein können, Missbrauch nicht auszuschließen und die Regelung der Unterbrechung in der derzeitigen Form nur sachgerecht gewesen sei, solange die Rechtsmittelfristen höchstens 14 Tage betragen habe, nichts ändern, weil diese ausdrücklich nicht auf die geltende Gesetzeslage abstellten, sondern Beschränkungen de lege ferenda fordern.

In der Folge kam der 6. Senat in seiner Entscheidung 6 Ob 621/94 (=

EvBl 1995/138 = AnwBl 1995, 517) zum Ergebnis, aus der Neufassung des

§ 464 Abs 3 ZPO durch das VerfHG gehe unverkennbar die gesetzgeberische Absicht hervor, dass einer Verfahrenshilfe genießenden Partei zur Wahrung ihrer Rechte ein Rechtsanwalt beigegeben werden solle, dem zur Ausführung des zu erhebenden Rechtsmittels die volle Rechtsmittelfrist in der Weise zu Gebote stehe, dass die Frist nicht vor formeller Möglichkeit zur Kenntnisnahme von der anzufechtenden Entscheidung durch den Verfahrenshelfer zu laufen beginne solle. Dass sich der Verfahrenshelfer die anzufechtende Entscheidung von der Partei beschaffen könnte, solle für den Fristbeginn nicht entscheidend sein. Nichts anderes könne aber auch für den Fall einer Umbestellung des Rechtsanwalts zur Verfahrenshilfe durch die Rechtsanwaltskammer gelten: Derjenige, der das Rechtsmittel auszuführen habe, solle die noch nicht abgelaufene Rechtsmittelfrist im vollen Ausmaß dadurch nützen können, dass die Frist erst ab der Möglichkeit zur Kenntnisnahme von der anzufechtenden Entscheidung laufe. Eine etwa bereits erfolgte Zustellung der Entscheidungsausfertigung an eine andere Person, also auch an den zunächst bestellten Verfahrenshelfer, sei ebenso unbeachtlich wie die Zustellung der Entscheidung an die zu vertretende Partei selbst. Diese grundsätzliche Auffassung sei schon der Entscheidung 1 Ob 595/93 zugrunde gelegt worden. Der gegenteiligen, in 2 Ob 529/92 ausgesprochenen Ansicht sei aus den dargelegten Zielen der Novellierung des § 464 Abs 3 ZPO durch das VerfHG nicht zu folgen.

Der erkennende Senat billigt diese überzeugend begründete Entscheidung, kann doch nur auf diese Weise sichergestellt werden, dass dem neuen Verfahrenshelfer die volle Rechtsmittelfrist als Frist für die Informationsaufnahme und die Ausarbeitung des Rechtsmittels zur Verfügung steht. Es wäre aber gewiss auch ein Wertungswiderspruch, würde zwar dem erstmals bestellten Verfahrenshelfer die volle Rechtsmittelfrist zur Verfügung gestellt, nicht aber auch dem durch Umbestellung zum Verfahrenshelfer bestellten Rechtsanwalt, dem dann die Rechtsmittelfrist zusätzlich verkürzende Pflichten (Abforderung der anzufechtenden Entscheidung vom früheren Verfahrenshelfer oder von der Verfahrenhilfe genießenden Partei) aufgebürdet werden würde. Entgegen der Auffassung der zweiten Instanz wich die Entscheidung 6 Ob 621/94 auch nicht von einer - im berufungsgerichtlichen Beschluss wiedergegebenen - ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs ab: Die Entscheidung 3 Ob 33/81 betraf keinen Fall des § 464 Abs 3 ZPO, in 3 Ob 513/84 wurde ausdrücklich ausgesprochen, die Frist beginne mit der Zustellung des Bestellungsbescheids und der Ausfertigung der zu bekämpfenden Entscheidung neu zu laufen. Die Entscheidung 10 ObS 15/87 betraf einen Fall, in dem - anders als hier - der Umbestellungsbescheid und eine Ausfertigung des anzufechtenden Urteils am selben Tag (13. Februar 1987) an den neuen Verfahrenshelfer zugestellt worden waren; die Entscheidung 1 Ob 508, 509/85 nahm zum Problem der Zustellung des Bescheids der Rechtsanwaltskammer und der anzufechtenden Entscheidung nicht Stellung, führte aber aus, die noch im Lauf befindliche Rechtsmittelfrist beginne mit der Zustellung des Dekrets über die Bestellung des anderen Rechtsanwalts neu zu laufen; damit werde zur gehörigen Wahrung der Rechte der Verfahrenshilfe genießenden Partei sichergestellt, dass ihrem neuen Verfahrenshelfer zur Informationsaufnahme und zur Ausarbeitung des Rechtsmittels die volle Rechtsmittelfrist zur Verfügung stehe. Der Entscheidung 4 Ob 1023/90 = EvBl 1990/161 lag schließlich gar keine Umbestellung des Verfahrenshelfers während des Laufs der Frist für die Erhebung einer außerordentlichen Revision zugrunde. Zusammenfassend ergibt sich damit, dass im Fall der Umbestellung des Rechtsanwalts zur Verfahrenshilfe die bis dahin noch nicht abgelaufene Rechtsmittelfrist neu zu laufen beginnt, wenn dem neu bestellten Rechtsanwalt der Umbestellungsbescheid und die anzufechtenden Entscheidung zugestellt wurden.

Nach der hier vertretenen Rechtsansicht lief die Berufungsfrist erst ab 5. Juli 1999 und war daher zum Zeitpunkt der Überreichung der Berufungsschrift am 13. September 1999 noch nicht abgelaufen. In Stattgebung des Rekurses ist demnach der berufungsgerichtliche Zurückweisungsbeschluss aufzuheben. Das Berufungsgericht wird sich dem weiteren Verfahren über das von ihm zu Unrecht zurückgewiesene Rechtsmittel zu unterziehen haben.

Der Kostenvorbehalt fußt auf dem § 52 ZPO.

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