OGH 10ObS428/98h

OGH10ObS428/98h18.2.1999

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Ehmayr und Dr. Hopf als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Reinhard Drössler (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Peter Scherz (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Gisela O*****, vertreten durch Dr. Walter Eisl, Rechtsanwalt in Amstetten, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, Roßauer Lände 3, 1092 Wien, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 19. August 1998, GZ 7 Rs 136/98s-47, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes St. Pölten als Arbeits- und Sozialgericht vom 31. Dezember 1997, GZ 5 Cgs 188/94k-43, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Rechtsmittelkosten sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Mit Bescheid vom 31. 5. 1994 lehnte die Beklagte den Antrag der am 17. 12. 1944 geborenen Klägerin vom 11. 10. 1993 auf Zuerkennung der Invaliditätspension mit der Begründung ab, daß die keinen Berufsschutz genießende Klägerin noch im Stande sei, eine auf dem Arbeitsmarkt bewertete Tätigkeit auszuüben.

Das Erstgericht wies das dagegen erhobene Klagebegehren ab. Aufgrund der getroffenen Feststellungen zu den gesundheitlichen Einschränkungen der Klägerin "aus der Sicht" verschiedener medizinischer Fachgebiete verneinte es in rechtlicher Hinsicht eine Invalidität der Klägerin, weil diese auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch verschiedene Verweisungsberufe, beispielsweise Prägerin, Presserin, Stanzerin, Montiererin in der Elektroindustrie, Kontrollarbeiten in der Kleingeräteerzeugung, ausüben könne.

Das Berufungsgericht gab der dagegen erhobenen Berufung der Klägerin nicht Folge. Aufgrund der kollektivvertraglichen Mindestlohnentgelte sei jedenfalls der gesetzlich vorgesehene Verdienst möglich. Die Klägerin sei verweisbar, etwa auch auf die Tätigkeit einer Portierin.

Die dagegen erhobene Revision der Klägerin aus dem Rechtsmittelgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung ist im Sinne des gestellten Aufhebungsantrages berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revisionsausführungen, mit denen die Klägerin das Fehlen eines gesamtmedizinischen Leistungs- und Gesundheitskalküls bemängelt, stellt sich inhaltlich als Rechtsrüge dar, weil damit die Unvollständigkeit der Entscheidungsgrundlage, sohin ein Feststellungsmangel, geltend gemacht wird (10 ObS 77/89). Wie der Senat schon mehrfach ausgesprochen hat, sind für Leistungen aus den Versicherungsfällen der geminderten Arbeitsfähigkeit die wesentlichen Einschränkungen im körperlichen und geistigen Zustand des Versicherten und dessen Leistungskalkül nicht "aus der Sicht" der einzelnen medizinischen Fachgebiete, sondern für alle Fachgebiete gemeinsam festzustellen. Es muß nämlich auch in Betracht gezogen werden, daß das Zusammenspiel verschiedener Krankheiten zu einer Invalidität führen kann, auch wenn einzelne Krankheitsfaktoren dazu nicht ausreichen würden (SSV-NF 5/5, 5/40, 8/114, 9/21, 9/22 ua).

Die Vorinstanzen haben diese geforderte Gesamtschau nicht berücksichtigt, sondern sich mit der Feststellung des jeweiligen, nicht deckungsgleichen Leistungskalküls aus den einzelnen Fachgebieten (hier: interne Medizin, Orthopädie, Neurologie, Dermatologie, Augenheilkunde, Gynäkologie) begnügt. Es bedarf jedoch der Feststellung eines Gesamtleistungskalküls seit dem Stichtag (hier: 1. 11. 1993). Erst dann kann verläßlich beurteilt werden, ob die Arbeitsfähigkeit der Klägerin noch für eine Verweisungstätigkeit ausreicht.

Nicht berechtigt ist hingegen der Einwand der Revisionswerberin, daß die von den Vorinstanzen beispielsweise aufgezeigten Verweisungsberufe auf dem Arbeitsmarkt "nicht existieren" und es sich daher um eine "Scheinverweisung" handle (vgl etwa SSV-NF 2/109, 3/35; RIS-Justiz RS0084528, RS0085078 ua). Soweit die Revisionswerberin diese Schlußfolgerung offenbar aus der Überlegung ableitet, daß sie in den genannten Verweisungsberufen keinen freien Arbeitsplatz finden werde, ist ihr nicht beizupflichten. Das Verweisungsfeld für Versicherte, die keinen erlernten oder angelernten Beruf ausgeübt haben, ist mit dem gesamten Arbeitsmarkt identisch. Für die Frage der Invalidität muß es ohne Bedeutung sein, ob der Versicherte aufgrund der konkreten Arbeitsmarktsituation in den Verweisungsberufen einen freien Dienstposten finden wird, weil für den Fall der Arbeitslosigkeit die Leistungszuständigkeit der Arbeitslosenversicherung besteht (SSV-NF 6/56 mwN). Die Klägerin arbeitete laut eigenen Angaben im Beobachtungszeitraum des § 255 Abs 2 Satz 2 ASVG ausschließlich als Hilfsarbeiterin in der Metall-Lackiererei (ON 37, AS 138). Die Bezugnahme in den Revisionsausführungen auf einen "angelernten Beruf" ist daher im Sinne des § 255 Abs 2 Satz 1 ASVG nicht verständlich und verstößt überdies gegen das im Rechtsmittelverfahren in Sozialrechtssachen geltende Neuerungsverbot (SSV-NF 1/45 uva).

Die Invalidität der Klägerin ist nach § 255 Abs 3 ASVG zu beurteilen, wofür jedoch die bisher getroffenen Tatsachenfeststellungen nicht ausreichen. Um die Sache spruchreif zu machen, bedarf es offenbar einer Verhandlung in erster Instanz. Deshalb waren in Stattgebung der Revision die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Sozialrechtssache an das Erstgericht zurückzuverweisen.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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