OGH 10ObS425/98t

OGH10ObS425/98t18.2.1999

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Ehmayr und Dr. Steinbauer sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Reinhard Drössler (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Peter Scherz (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Renate K*****, Pensionistin, *****, vertreten durch den Sachwalter Karl K*****, dieser vertreten durch Dr. Hans Kaska und Dr. Christian Hirtzberger, Rechtsanwälte in St. Pölten, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten, 1021 Wien, Friedrich Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Anton Paul Schaffer, Rechtsanwalt in Wien, wegen Pflegegeldes, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 10. September 1998, GZ 8 Rs 225/98m-25, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 23. April 1998, GZ 6 Cgs 206/96v-20, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die am 6. 4. 1955 geborene Klägerin erlitt am 6. 1. 1995, also im Alter von 40 Jahren, einen Schlaganfall. Sie hat Lähmungserscheinungen an allen vier Extremitäten, Sprech- und Schluckstörungen und kann weder das Bett selbständig verlassen noch ihre Körperposition eigenmächtig ändern und sich auch nicht mit einem Rollstuhl selbständig fortbewegen. Es besteht aber ein geringer Grad an Restmotorik, die allerdings wegen der raschen Muskelermüdung immer nur für zwei bis drei Minuten genützt werden kann; danach ist eine Erholungspause von zehn bis zwölf Minuten notwendig. Zielgerichtete Bewegungen mit beiden oberen Gliedmaßen sind somit zeitweilig möglich. Mit der rechten Hand kann auch etwa ein Stück Brot gehalten und zum Mund geführt werden. Getränke können ohne Hilfe nicht eingenommen werden. Angstzustände, die eine Selbstgefährdung begründen könnten, liegen nicht vor. Eine Kontaktaufnahme zu einer andern Person ist durch Rufen möglich.

Am 15. 9. 1995 stellte die Klägerin bei der beklagten Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten einen Antrag auf Berufsunfähigkeitspension und Pflegegeld. Mit Bescheid vom 17. 6. 1996 wurde ihr ab 1. 10. 1995 die Berufsunfähigkeitspension (S 11.148,60 brutto) und mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 9. 7. 1996 ebenfalls ab 1. 10. 1995 das Pflegegeld in Höhe der Stufe 5 (S 11.591 monatlich) zuerkannt.

Die Klägerin begehrte mit der dagegen eingebrachten Klage die Zahlung eines Pflegegeldes in Höhe der Stufe 7, weil sie praktisch bewegungsunfähig sei.

Das Erstgericht sprach ihr ab 1. 9. 1995 Pflegegeld in Höhe der Stufe 6 zu und wies das Mehrbegehren ab. Es errechnete einen Pflegeaufwand von 203 Stunden monatlich und bejahte die Notwendigkeit einer dauernden Beaufsichtigung der Klägerin. Praktische Bewegungsunfähigkeit oder ein gleichzuachtender Zustand seien hingegen nicht anzunehmen. Als Beginn des Anspruchs sei der 1. 9. 1995 anzusehen, weil das Pflegegeld mit Beginn des Monats gebühre, in dem der Antrag gestellt werde (§ 9 Abs 1 BPGG idF vor dem StrukturanpassungsG 1996).

Das Gericht zweiter Instanz gab der Berufung der Klägerin nicht Folge. Hingegen änderte es infolge Berufung der beklagten Partei das Ersturteil dahin ab, daß es der Klägerin ab dem 1. 9. 1995 ein Pflegegeld der Stufe 5 zusprach, hingegen das gesamte Mehrbegehren abwies. Es verneinte auch das Erfordernis der dauernden Beaufsichtigung oder eines gleichzuachtenden Zustandes. Damit erfülle die Klägerin nicht die Voraussetzungen für ein Pflegegeld der Stufen 6 oder 7. Den weiteren Einwand der beklagten Partei, der Zuspruch des Pflegegeldes hätte erst ab 1. 10. 1995 erfolgen dürfen, weil auch die Pension erst ab diesem Stichtag zuerkannt wurde, überging das Berufungsgericht mit Stillschweigen.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Klägerin mit dem Antrag auf Abänderung im Sinne des Zuspruches von Pflegegeld der Stufe 7, in eventu Stufe 6.

Die beklagte Partei beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben, jedoch das Urteil der zweiten Instanz mit der Maßgabe zu bestätigen, daß das Pflegegeld erst ab 1. 10. 1995 zuerkannt und das Mehrbegehren (ab 1. 9. 1995) abgewiesen werden.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nicht berechtigt.

Die geltend gemachte Aktenwidrigkeit liegt nicht vor (§ 510 Abs 3 dritter Satz ZPO). Daß die Klägerin eine Pflegeperson mittels einer Klingel herbeirufen könne, ist eine berechtigte Schlußfolgerung des Berufungsgerichtes aus den festgestellten Umständen der Restmotorik beider oberer Extremitäten. Der ärztliche Sachverständige verwies darauf, daß die Klägerin "durch Rufen" Kontakt mit einer Pflegeperson aufnehmen könne, doch findet sich - entgegen den Revisionsausführungen - kein Hinweis darauf, daß dies "nur" (ausschließlich) durch Rufen möglich sei. Der Schluß von Tatsachen auf andere Tatsachen ist aber ein Akt der irrevisiblen Beweiswürdigung des Berufungsgerichtes (vgl Fasching, ZPR2 Rz 810).

Die im angefochtenen Urteil enthaltene rechtliche Beurteilung der Sache ist zutreffend.

Strittig ist zunächst, ob die Voraussetzung "praktische Bewegungsunfähigkeit oder ein gleichzuachtender Zustand" im Sinne des § 4 Abs 2 Stufe 7 BPGG vorliegt. Die Einordnung in Stufe 7 sollte nach der Regierungsvorlage zum BPGG nur bei Vorliegen der vollständigen Bewegungsunfähigkeit zulässig sein (776 BlgNR 18. GP). In den Ausschußberatungen wurde diese Voraussetzung durch den weiteren Begriff "praktische Bewegungsunfähigkeit" ersetzt (908 BlgNR 18. GP). Es muß sich dabei um einen Zustand handeln, der in den funktionellen Auswirkungen einer vollständigen Bewegungsunfähigkeit gleichkommt. Dies ist anzunehmen, wenn zielgerichtete Bewegungen mit funktioneller Umsetzung nicht mehr möglich sind. Pflegegeld der Stufe 7 kommt schließlich auch bei einem der praktischen Bewegungsunfähigkeit gleichzuachtenden Zustand in Betracht: Davon wird man sprechen können, wenn der Pflegebedürftige an sich noch über eine gewisse Mobilität verfügt, diese aber insbesondere aufgrund des Angewiesenseins auf bestimmte lebensnotwendige Hilfsmittel (etwa ein Beatmungsgerät) nicht nützen kann (SSV-NF 10/135 ua; Pfeil, BPGG 98 f; derselbe, Pflegevorsorge in Österreich, 199). Die bisherigen Aussagen zu dieser Frage sind noch dahin zu präzisieren, daß eine praktische Bewegungsunfähigkeit dann vorliegt, wenn einer hievon betroffenen Person keinerlei willentliche Steuerung von Bewegungen, die zu einem bestimmten beabsichtigten Zweck dienen und mit denen dieser Zweck auch erreicht werden kann, mehr möglich wäre (SSV-NF 11/9; 10 ObS 268/97b; 10 ObS 385/97h = SSV-NF 11/152 - in Druck; 10 ObS 410/97k; 10 ObS 33/98w; 10 ObS 164/98k). Das Berufungsgericht hat zutreffend darauf verwiesen, daß für die Klägerin nach den Feststellungen noch gelegentliche (2 bis 3 Minuten lang) zielgerichtete Bewegungsabläufe möglich sind, weshalb praktische Bewegungsunfähigkeit im Sinne der obigen Ausführungen nicht vorliegt.

Für die Gewährung eines Pflegegeldes in Höhe der Stufe 6 ist - wiederum zusätzlich 180 Stunden im Monatsdurchschnitt übersteigenden zeitlichen Aufwand - die Notwendigkeit einer dauernden Beaufsichtigung des Pflegebedürftigen oder ein gleichzuachtender Pflegeaufwand erforderlich. Die Einordnung in Stufe 6 sollte nach der Regierungsvorlage zum BPGG (776 BlgNR 18. GP) nur bei Vorliegen des Erfordernisses der dauernden Beaufsichtigung zulässig sein. Dieser Tatbestand betrifft in erster Linie Pflegebedürftige mit geistiger oder psychischer Behinderung. Durch die im Ausschuß für Arbeit und Soziales vorgenommene Erweiterung der Anspruchsvoraussetzungen für die Stufe 6 durch die Wortfolge "oder ein gleichzuachtender Pflegeaufwand" soll auch körperlich behinderten Menschen der Zugang zu dieser Stufe ermöglicht werden (908 BlgNR 18. GP, 4). Unter dauernder Beaufsichtigung ist die Notwendigkeit einer weitgehend permanenten Anwesenheit einer Pflegeperson im Wohnbereich bzw in unmittelbarer Nähe des Pflegebedürftigen zu verstehen (Gruber/Pallinger aaO Rz 57; SSV-NF 10/129 ua). Die dauernde Beaufsichtigung eines Pflegebedürftigen wird vor allem dann erforderlich sein, wenn im Einzelfall besonders häufig und/oder besonders dringend (zB wegen sonstiger Selbstgefährdung) ein Bedarf nach fremder Hilfe auftritt; dieser Gesichtspunkt wird auch den Ausschlag für die Einstufung von körperlich Behinderten in Stufe 6 geben müssen, weil dieser Personengruppe ganz offenbar ebenfalls ein Zugang zur zweithöchsten Pflegegeldstufe ermöglicht werden soll (Pfeil, Neuregelung der Pflegevorsorge in Österreich, 198; derselbe, BPGG 98 unter Hinweis auf den oben zitierten Ausschußbericht). Nach den Richtlinien des Hauptverbandes für die einheitliche Anwendung des BPGG nach § 31 Abs 5 Z 23 ASVG, SozSi 1994, 686 - Amtl. Verlautbarung 120/1994, die allerdings nach der wiederholt dargelegten Auffassung des Senates für Gerichte nicht bindend sind (SSV-NF 10/131 ua), wird ein dem Erfordernis dauernder Beaufsichtigung gleichzuachtender Zustand dann angenommen, wenn ein intensive, zeitlich unkoordinierbare Pflegeleistung beim immobilen oder mobilen Pflegebedürftigen zu erbringen ist (§ 17 Abs 2 Z 3 lit b dieser Richtlinien). Da sich diese Umschreibung der Erfordernisse für eine Einstufung in die Stufe 6 im wesentlichen mit der Auffassung des Obersten Gerichtshofes deckt, muß hier zu der Frage der Bindung der Richtlinien für die Gerichte nicht neuerlich Stellung genommen werden (vgl SSV-NF 11/9; 11/46; 11/48; 10 ObS 164/98k ua). Auch hier ist dem Berufungsgericht beizustimmen, daß die permanente Anwesenheit einer Pflegeperson im Fall der Klägerin nicht erforderlich ist, weil einerseits die Gefahr einer Selbstgefährdung nicht besteht und sich andererseits die Pflegemaßnahmen inhaltlich und zeitlich strukturieren lassen.

Mit 1. 1. 1999 ist das Bundesgesetz über die Änderung des Bundespflegegeldgesetzes, BGBl I 1998/111 in Kraft getreten. Gemäß § 48 BPGG in der Fassung dieser Novelle sind allen am 1. 1. 1999 noch nicht bescheidmäßig abgeschlossenen Verfahren für die Zeit bis 31. 12. 1998 die bis zu diesem Zeitpunkt für die Beurteilung des Anspruchs geltenden Bestimmungen des § 4 und der Einstufungsverordnung zum BPGG BGBl 1993/314 zugrunde zu legen. Dies gilt sinngemäß für gerichtliche Verfahren. Ab 1. 1. 1999 sind die Bestimmungen des BPGG in der novellierten Fassung anzuwenden. Die neue Einstufungsverordnung BGBl II 1999/37 ist mit 1. 2. 1999 in Kraft getreten, die alte EinstV wurde mit 31. 1. 1999 aufgehoben (§ 9 EinstV nF).

Die Anwendung der neuen Rechtslage (§ 4 Abs 2 BPGG nF) führt jedoch zu keinem anderen Ergebnis: Anspruch auf Pflegegeld für Personen, deren Pflegebedarf durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich beträgt, besteht nunmehr in der Höhe der Stufe 5: Wenn ein außergewöhnlicher Pflegeaufwand erforderlich ist (dieser liegt auch nach § 6 der neuen EinstV dann vor, wenn die dauernde Bereitschaft, nicht jedoch die dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson erforderlich ist); Stufe 6: Wenn 1. zeitlich unkoordinierbare Betreuungsmaßnahmen erforderlich sind und diese regelmäßig während des Tages und der Nacht zu erbringen sind oder 2. die dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson während des Tages und der Nacht erforderlich ist, weil die Wahrscheinlichkeit der Eigen- oder Fremdgefährdung gegeben ist; und schließlich Stufe 7: Wenn 1. keine zielgerichteten Bewegungen der vier Extremitäten mit funktioneller Umsetzung möglich sind oder 2. ein gleichzuachtender Zustand vorliegt.

Diese gesetzlichen Neudefinitionen erfolgten in Anlehnung an die Judikatur des Obersten Gerichtshofes (RV 1186 BlgNR 20. GP 11). Im Sinne der obigen Ausführungen sind die Voraussetzungen für ein höheres Pflegegeld als das der Stufe 5 auch nach neuem Recht nicht erfüllt.

Der Revision war daher ein Erfolg zu versagen.

Die von der beklagten Partei gewünschte Maßgabebestätigung kommt nicht in Betracht: Obgleich es richtig ist, daß der Anspruch auf Pflegegeld nach § 3 Abs 1 BPGG den Bezug einer bundesgesetzlichen "Grundleistung" voraussetzt (Pfeil, BPGG 50 ff), die Klägerin also wegen des Pensionsstichtages 1. 10. 1995 auch erst ab diesem Tag einen Anspruch auf Pflegegeld gehabt hätte, haben ihr die Vorinstanzen das Pflegegeld ab 1. 9. 1995 zugesprochen, das Erstgericht sogar mit besonderer - wenn auch unzutreffender - Begründung. Wegen des im Rechtsmittelverfahren geltenden Verbotes der Schlechterstellung des Rechtsmittelwerbers (Verbot der sog. "reformatio in peius") kann ohne Revision der beklagten Partei das angefochtene Urteil nicht zum Nachteil der Klägerin abgeändert werden. Es würde aber einen Nachteil für sie darstellen, das Pflegegeld entgegen den Urteilen der Vorinstanzen erst einen Monat später zu beziehen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Gründe für einen Kostenzuspruch an die Klägerin nach Billigkeit wurden nicht dargetan und sind auch nicht ersichtlich.

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