OGH 10ObS309/98h

OGH10ObS309/98h20.10.1998

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Ehmayr und Dr. Hopf sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Friedrich Stefan (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Werner Bayer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Johann F*****, vertreten durch Philipp & Partner, Rechtsanwälte und Strafverteidiger OEG in Mattersburg, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, Roßauer Lände 3, 1092 Wien, im Revisionsverfahrens nicht vertreten, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 6. Mai 1998, GZ 8 Rs 110/98z-34, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Eisenstadt als Arbeits- und Sozialgericht vom 17. November 1997, GZ 17 Cgs 317/96w-30, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Mit Bescheid vom 8. 8. 1996 lehnte die Beklagte den Antrag des am 23. 6. 1946 geborenen Klägers auf Zuerkennung der Invaliditätspension mangels Invalidität ab. Mit der gegen diesen Bescheid erhobenen Klage begehrte der Kläger die Gewährung der Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß ab 1. 3. 1996. Er sei aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in der Lage, einer geregelten Beschäftigung nachzugehen.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab und traf folgende wesentliche Feststellungen:

Der Kläger ist aufgrund seiner im einzelnen festgestellten gesundheitlichen Leiden nur mehr in der Lage, leichte und mittelschwere Arbeiten (Trageleistungen bis 15 kg, Hebeleistungen bis 25 kg) zu verrichten. Ausgeschlossen sind ständige Arbeiten in Kälte und Nässe und Arbeiten in mehr als der Hälfte der Tagesarbeitszeit in gebückter Körperhaltung oder tiefer Hocke. Unzumutbar sind weiters Lärmarbeiten ohne Lärmschutz.

Der Kläger hat den Beruf eines Maurers erlernt und in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag (1. 3. 1996) ausgeübt. Maurerarbeiten (im engeren Sinn) kann der Kläger nicht mehr verrichten, weil dabei fallweise auch schwere Arbeiten anfallen. Die bei einem Fassader fallweise anfallenden schweren Arbeiten werden diesem vielfach von Helfern abgenommen, wobei allerdings nicht feststeht, ob es mindestens 100 Arbeitsplätze in Österreich gibt, bei denen dies der Fall ist.

Der Kläger könnte noch ohne Kalkülsüberschreitung als Betonfassonierer (Betonendfertiger, Nachbehandler) arbeiten. Der Betonfassonierer in der Betonfertigteilerzeugung führt an maschinell gefertigten Betonfertigteilen (Betonschaltkästen, Masten, Stiegen, Rohren etc) Ausbesserungsarbeiten durch, indem er die beschädigten Stellen, gebrochenen Kanten und entmischten Stellen herausfindet und wiederherstellt. Dabei schleift er die beschädigten Stellen ab, schließt bei Bedarf die Poren, verputzt entmischte Stellen und baut abgebrochene Kanten neu auf. Dazu benötigt er insbesondere Schleifpapier, einen zumindest halbgefüllten Wasserkübel, eine Maurerpfanne und Spachtelmasse. Bei gewissen Betonfertigteilen sind auch Montagearbeiten durchzuführen, wobei ein Hantieren mit Schrauben und Metallteilen und dem erforderlichen Werkzeug notwendig ist. Die Tätigkeit des Betonfassonierers erfordert körperlich leichte Arbeiten im Gehen und Stehen. Kurzfristiges Bücken, Knien und Hocken über den ganzen Tag verteilt ist laufend erforderlich, wobei jedoch alle paar Minuten Ausgleichsbewegungen möglich sind. Arbeiten überwiegend in gebückter oder gebeugter oder vorgeneigter Körperhaltung werden nicht gefordert. Fallweise kann es aber vorkommen, daß Arbeiten in gebückter und kumuliert in gebeugter/vorgeneigter Körperhaltung zeitlich überwiegen. Bei Montagearbeiten können produkt- und betriebsabhängig fallweise Hebeleistungen bis 35 kg vorkommen. Am allgemeinen Arbeitsmarkt gibt es jedoch zumindest 100 Arbeitsplätze für Betonfassonierer, bei denen Hebeleistungen bis 10 kg und Trageleistungen bis 5 kg nicht überschritten werden. Für schwere Teile stehen Hebehilfen zur Verfügung.

Für die Tätigkeit eines Betonfassonierers werden in der Regel mit wenigen Ausnahmen nur gelernte Maurer oder Maler und Anstreicher herangezogen. Der Betonfassonierer benötigt für seine Tätigkeit vor allem die Kenntnisse und Fertigkeiten eines Maurers, und zwar - zeitlich gesehen - produkt- und betriebsabhängig zu 30 bis 80 % die Fertigkeiten für Verputzarbeiten, zu 20 bis 30 % Materialkenntnisse (Beton, Mörtel, Kunstharzmörtel, Voranstriche etc) und zu 10 % Schleif- und Entgratfertigkeiten. Dazu sind noch erforderlich die Kenntnisse und Fähigkeiten eines Maurers für Ausbesserungsarbeiten, Porenschließen, Oberflächenbehandlung, die zu verwendenden Werkzeuge und die Herstellung von Mörtelmischungen. Insgesamt sind - inhaltlich gesehen - 20 bis maximal 25 % der Kenntnisse und Fertigkeiten eines Mauerers für die Ausübung einer Tätigkeit eines Betonfassonierers nötig. In der Betonfertigteilerzeugung existieren zumindest 100 Arbeitsplätze eines Betonfassonierers am allgemeinen Arbeitsmarkt.

Bei der Tätigkeit eines Fachverkäufers in Baumärkten (Verkaufsberater) werden die Kenntnisse und Fähigkeiten eines Einzelhandelskaufmannes, nicht jedoch die Kenntnisse eines Maurers oder sonstigen Handwerkers verlangt. Zum Erwerb der geforderten Kenntnisse und Fähigkeiten bedürfte ein Maurer einer mehrjährigen Umschulung. Darüberhinaus werden von Verkaufsberatern beim Heben und Tragen von Baustoffen auch schwere Arbeiten gefordert.

In rechtlicher Hinsicht beurteilte das Erstgericht den festgestellten Sachverhalt dahin, daß der Kläger noch in der Lage sei, als Betonfassonierer zu arbeiten, sohin eine Berufsschutz erhaltende Teiltätigkeit des Maurers zu verrichten. Er könne daher weiterhin seinen erlernten Beruf ausüben und gelte daher nicht als invalid im Sinne des § 255 Abs 1 ASVG.

Das Berufungsgericht gab der vom Kläger erhobenen Berufung nicht Folge. Es trat der rechtlichen Beurteilung des Erstgerichtes bei und verwies auf die Entscheidung 10 ObS 160/97w, worin der Oberste Gerichtshof die Verweisbarkeit des Maurers auf die Tätigkeit eines Betonfassonierers bejaht habe. Gerade aus der relativ kurzen Anlernzeit eines Maurers für den Beruf eines Betonfassonierers sei die Verwandtschaft dieser beiden Berufe abzuleiten, woraus sich ein weiteres Indiz für die den Berufsschutz erhaltende Verweisbarkeit ergebe.

Gegen dieses Urteil richtet sich die auf den Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung gestützte Revision des Klägers mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung im Sinne der Stattgebung des Klagebegehrens abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Beklagte hat keine Revisionsbeantwortung erstattet.

Die Revision ist im Sinne des gestellten Aufhebungsantrages berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Der Kläger ist gelernter Maurer und arbeitete auch im relevanten Beobachtungszeitraum gemäß § 255 Abs 2 ASVG ausschließlich als Maurer. Maurer errichten typischerweise Bauwerke und Bauwerksteile aus verschiedenen Baumaterialien bzw Fertigbauteilen im Hoch- und Tiefbau und führen auch Reparatur-, Restaurierungs- und Umbauarbeiten an Bauwerken durch (Berufslexikon des Arbeitsmarktservice Österreich, Lehrberufe-Band 1 (1997), 307 f).

Unstrittig ist, daß der Kläger aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in der Lage ist, den Maurerberuf im engeren Sinn auszuüben. Fraglich ist, ob er als gelernter Maurer allenfalls auf die Tätigkeit eines Betonfassonierers in der Betonfertigteilerzeugung verwiesen werden kann.

Auszugehen ist dabei davon, daß ein Versicherter, der einen Beruf erlernt hat und dessen Invalidität nach § 255 Abs 1 ASVG zu beurteilen ist, nach ständiger Rechtsprechung auch auf Teiltätigkeiten seines Berufes (bzw seiner Berufsgruppe) verwiesen werden darf, wenn er dadurch seinen Berufsschutz nicht verliert. Deshalb muß die Verweisungstätigkeit eine solche in einem erlernten (oder angelernten) Beruf sein (SSV-NF 3/29, 3/119, 3/122, 4/2, 4/140, 6/67, 7/6, 7/62, 9/40 ua). Aus § 255 Abs 1 ASVG ergibt sich nämlich, daß der Vergleich mit einem gesunden Versicherten von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten in dem in Betracht kommenden qualifizierten Beruf zu ziehen ist. Es kommt daher bei einem erlernten Beruf nicht auf die bisher ausgeübte Tätigkeit, sondern grundsätzlich auf die Ausbildung und die hiedurch erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten an (SSV-NF 3/29 mwN).

Entscheidend ist für eine zulässige Verweisung, daß sich die Teiltätigkeit, auf die der Versicherte verwiesen werden soll, qualitativ hervorhebt und nicht bloß untergeordnet ist (SSV-NF 4/140, 6/67, 7/6, 7/62, 9/40 ua). Die Teiltätigkeit muß noch als Ausübung des erlernten Berufes angesehen werden können (SSV-NF 9/35 mwN). Demgegenüber vermag also eine Teiltätigkeit, die sich qualitativ nicht hervorhebt und bloß untergeordnet ist, einen vorher bestehenden Berufsschutz nicht aufrecht zu erhalten (SSV-NF 9/40 mwN) und scheidet daher als Verweisungsberuf aus.

Aufgrund der getroffenen, vom Berufungsgericht allerdings noch nicht abschließend geprüften Tatsachenfeststellungen des Erstgerichtes kann das vorstehende Kriterium noch nicht verläßlich beurteilt werden. Es steht zwar fest, daß der Betonfassonierer einen Teil der Kenntnisse und Fähigkeiten eines Maurers zur Berufsausübung benötigt; es steht aber noch nicht fest, ob sich die Tätigkeit des Betonfassonierers im Vergleich zum Maurer qualitativ von Hilfsarbeiten wesentlich hervorhebt und nicht bloß untergeordnet ist. Der Revisionswerber weist insoweit zurecht, unter Hinweis auf ein von ihm in erster Instanz vorgelegtes Gutachten eines in einem anderen sozialgerichtlichen Verfahren bestellten berufskundlichen Sachverständigen, darauf hin, daß die Dauer der Anlernzeit für Betonfassonierer nicht festgestellt wurde. Bei einer bloßen Anlernzeit von zwei bis drei Monaten könnte im Vergleich zur Lehrzeit des Maurers von drei Jahren wohl nur von einer untergeordneten Teiltätigkeit des Maurerberufes gesprochen werden, die bloß Kenntnisse erfordert, die über einfache Hilfsarbeiten nicht hinausgehen. Eine derartige Teiltätigkeit wäre dann aber nicht geeignet, dem hierauf verwiesenen Maurer den Berufsschutz zu erhalten. Obwohl diese Frage für den Verfahrensausgang entscheidend ist und schon in erster Instanz vom Kläger thematisiert wurde, wurden zur Dauer der Anlernzeit eines Betonfassonierers keine Feststellungen getroffen. Das Argument des Berufungsgerichtes, aus der relativ kurzen Anlernzeit eines Maurers für den Beruf eines Betonfassonierers lasse sich die Verwandtschaft dieser beiden Berufe ableiten, versagt dann, wenn auch der ungelernte Arbeiter bzw ein Arbeiter, der einen anderen Beruf erlernt hat, den Beruf des Betonfassonierers bereits nach einer sehr kurzen Anlernzeit beherrscht. So sprach der Senat etwa auch aus, daß es für das Vorliegen eines angelernten Berufes im Sinne des § 255 Abs 2 ASVG nicht ausreicht, wenn die Kenntnisse und Fähigkeiten nur ein Teilgebiet eines Tätigkeitsbereiches umfassen, der vom gelernten Arbeiter in viel weiteren Umfang beherrscht wird (SSV-NF 1/48, 2/66, 3/55, 3/70, 4/80 ua) und verneinte im Hinblick darauf, daß die Dauer der für die Erlernung eines Berufes notwendigen Lehrzeit im Durchschnitt etwa drei Jahre beträgt bei Vorliegen beispielsweise einer Anlernzeit von vier bzw sechs Monaten und anderer Umstände, daß in dieser Zeit Kenntnisse und Fähigkeiten erworben werden, die den in einen Lehrberuf vermittelten gleichzuhalten sind (SSV-NF 6/147, 7/49). Wenn auch die Dauer der für eine Tätigkeit notwendigen Anlernung nicht das einzige Kriterium für die Beurteilung der Frage bildet, ob die Tätigkeit als angelernt im Sinne des § 255 Abs 2 ASVG zu qualifizieren ist, kommt ihr doch hiefür maßgebliche Bedeutung zu.

Pauschal wurde festgestellt, daß als Betonfassonierer überwiegend gelernte Maurer zum Einsatz kommen. Andererseits ergibt sich aus den Feststellungen, daß das Einsatzgebiet für Betonfassonierer durchaus unterschiedlich ist. Zum Teil werden sie für Montagearbeiten an Baustellen, teilweise nur mit einfachen Ausbesserungen im Betrieb beschäftigt. Zu klären wäre ergänzend, ob auch für die einfachen Ausbesserungsarbeiten fast ausschließlich gelernte Maurer eingesetzt werden und was der Grund dafür ist. Wenn tatsächlich eine sehr kurze Anlernzeit genügt um die notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten zu erwerben, wäre es nicht gut verständlich, warum für diese Tätigkeit besonders qualifizierte und damit auch höher entlohnte Arbeitskräfte eingesetzt werden.

Richtig ist, daß der Senat in 10 ObS 160/97w und 10 ObS 251/98d Entscheidungen der Vorinstanzen, in denen die Verweisbarkeit des Maurers auf den Betonfassonierer bejaht wurde, bestätigte, dies jedoch unter ausdrücklichem Hinweis auf die dort getroffenen Feststellungen der Tatsacheninstanzen, an die der Oberste Gerichtshof als Rechtsinstanz gebunden war. In den Vorentscheidungen wurde darauf hingewiesen, daß sich als Folge der freien richterlichen Beweiswürdigung im jeweiligen Einzelfall aufgrund von Gutachten verschiedener Sachverständigen auch abweichende Feststellungen ergeben können.

Das Verfahren leidet daher an einen wesentlichen Feststellungsmangel, der jedenfalls eine Urteilsaufhebung gebietet. Da das Berufungsgericht die Beweis- und Tatsachenrüge des Klägers in der Berufung zufolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung bisher nicht behandelte und die Berufungsentscheidung auch nicht eindeutig erkennen läßt, ob und in welchem Umfang die bekämpften Feststellungen des Erstgerichtes übernommen wurden, hat eine Zurückverweisung der Rechtssache an das Berufungsgericht zu erfolgen.

Sollte das fortgesetzte Verfahren ergeben, daß der Betonfassonierer kein für den Maurer in Frage kommender Verweisungsberuf ist, wäre auch die Verweisbarkeit des Maurers auf den Beruf des Verkaufsberaters in einem Baumarkt zu prüfen. Diese Verweisbarkeit wurde erst kürzlich vom Senat in der Entscheidung 10 ObS 20/98h auf der Grundlage der dort getroffenen Tatsachenfeststellungen bejaht. Dabei erscheint bemerkenswert, daß die dortigen Tatsacheninstanzen davon ausgingen, daß Maurer als Verkaufsberater in Baumärkten Verwendung finden und eine Umschulung von durchschnittlich drei Monaten in das Bestellwesen, die innere Organisation und EDV bedürfen. Dem gegenüber kam das Erstgericht im vorliegenden Verfahren zu dem Ergebnis, daß beim Verkaufsberater in Baumärkten die Kenntnisse eines Maureres nicht gefragt seien und im übrigen eine mehrjährige Umschulung erforderlich sei. Während im dortigen Verfahren der Ausschluß des Versicherten von schweren Arbeiten der Ausübung des Berufes des Verkaufsberaters nicht entgegenstand, kam hier das Erstgericht zur Feststellung, daß vom Verkaufsberater auch schwere Arbeiten im Zusammenhang mit dem Heben und Tragen von Baustoffen gefordert werden.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO iVm § 2 Abs 1 ASGG.

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