OGH 2Ob72/97w

OGH2Ob72/97w20.3.1997

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Angst als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Graf, Dr.Schinko, Dr.Tittel und Dr.Baumann als weitere Richter in der Rechtssache des Klägers Stefan D*****, vertreten durch Dr.Alois Nußbaumer und Dr.Stefan Hoffmann, Rechtsanwälte in Vöcklabruck, wider die Beklagten 1. Ignaz H*****, und 2. Josef H*****, sowie 3. ***** Versicherungs-AG, ***** alle vertreten durch Dr.Johannes Kirschner, Rechtsanwalt in Wels, wegen S 116.325 sA, infolge Revision des Klägers gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgericht vom 29.Oktober 1996, GZ 12 R 240/96t-28, womit infolge Berufung des Klägers das Urteil des Landesgerichtes Wels vom 4. Juni 1996, GZ 5 Cg 99/95y-20, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird teilweise Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, daß die Entscheidung insgesamt zu lauten hat:

"1. Die Klagsforderung besteht mit S 77.550 zu Recht.

2. Die Gegenforderung besteht mit S 24.314,67 zu Recht.

3. Die Beklagten sind daher zur ungeteilten Hand schuldig, dem Kläger

S 53.235,33 samt 9 % Zinsen seit 2.3.1995 binnen 14 Tagen zu bezahlen.

Das Mehrbegehren von S 63.089,67 sA wird abgewiesen.

4. Die Beklagten sind ferner zur ungeteilten Hand schuldig, dem Kläger an erstinstanzlichen Pauschal-, Sachverständigen- und Zeugengebühren (unter Berücksichtigung der von den Beklagten getragenen Sachverständigengebühren) S 6.701 binnen 14 Tagen zu ersetzen.

5. Der Kläger ist schuldig, den Beklagten an anteiligen Kosten des Berufungsverfahrens S 2.849,68 binnen 14 Tagen zu ersetzen."

Die Beklagten sind zur ungeteilten Hand schuldig, dem Kläger an anteiligen Kosten des Revisionsverfahrens S 204,55 binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 14.1.1995 gegen 10.15 Uhr ereignete sich auf der Kraimsthalstraße nahe dem Haus Kraims 71 im Gemeindegebiet Seewalchen am Attersee ein Verkehrsunfall, an dem der Kläger als Lenker eines PKW und der Erstbeklagte als Lenker des vom Zweitbeklagten gehaltenen und bei der Drittbeklagten versicherten LKW beteiligt waren.

Mit rechtskräftiger Strafverfügung des Bezirksgerichtes Vöcklabruck vom 26.7.1995 wurde der Erstbeklagte des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 StGB schuldig erkannt, weil er bei diesem Unfall eine für die gegebenen Fahrbahn-, Witterungs- und Sichtverhältnisse überhöhte Geschwindigkeit eingehalten habe.

Der Kläger begehrte für Sachschaden und andere Auslagen S 86.325 sowie ein Schmerzengeld von S 30.000. Dazu brachte er im wesentlichen vor, den Erstbeklagten treffe das Alleinverschulden am Unfall, weil er eine überhöhte Geschwindigkeit eingehalten habe und aufgrund eines Fahrfehlers ins Schleudern sowie in die Fahrbahnmitte geraten sei, wodurch es zum Zusammenstoß gekommen sei. Ihn treffe kein Verschulden.

Die Beklagten wendeten im wesentlichen ein, das Alleinverschulden am Unfall treffe den Kläger, weil dieser vorerst gebremst und sodann ins Schleudern und in die Fahrbahnmitte geraten sei, wodurch der Erstbeklagte zum Bremsen gezwungen worden sei. Der Kläger hätte früher reagieren und noch vor der Unfallstelle anhalten können. Einer allenfalls zu Recht bestehenden Klagsforderung stünden aufrechnungsweise Reparaturkosten von S 54.444, Verdienstentgang von S 18.000 sowie Spesen von S 500 gegenüber.

Außer Streit stehen die dem Kläger durch den Unfall entstandenen Schäden am PKW sowie Aufwendungen.

Das Erstgericht ging von einem gleichteiligen Verschulden aus, erkannte die Klagsforderung mit S 58.162,50, die Gegenforderung mit S

36.472 als zu Recht bestehend, verurteilte die Beklagten zur ungeteilten Hand zur Zahlung von S 21.690,50 sA und wies das Mehrbegehren ab. Es traf zum Unfallshergang im wesentlichen folgende Feststellungen:

Die Kraimsthalstraße in Richtung Lenzing beschreibt in Annäherung an die Unfallstelle im Freilandgebiet einen langgezogenen Rechtsbogen, wobei sich in der Kurveninnenseite eine steil ansteigende, sichtbehindernde Wiesenböschung befindet. Die wechselseitige Sicht im Unfallstellenbereich beträgt rund 70 m. Die Kraimsthalstraße ist am Beginn und Ende des Rechtsbogens 4 m, im Zuge des Rechtsbogens bis zu 5 m breit. An der Kollisionsstelle ist die Fahrbahn 4,8 m breit. Der vom Kläger gelenkte PKW war rund 1,6 m, der vom Erstbeklagten gelenkte LKW rund 2,4 m breit. Die Gesamtbedarfsbreite beider Fahrzeuge einschließlich Außenspiegel betrug rund 4,3 m.

Zum Unfallszeit war die Fahrbahn schneeglatt und nicht gestreut. Der Kläger näherte sich der Unfallstelle mit rund 20 km/h und am rechten Fahrbahnrand. Der Erstbeklagte näherte sich mit einer Geschwindigkeit von etwa 30 bis 40 km/h und fuhr etwa in der Fahrbahnmitte. Bei erster Sicht auf den Kläger bremste er sein Fahrzeug so ab, daß er mit einer Winkelstellung von etwa 45 Grad nach links in Richtung der Böschung schlitterte. Der Kläger reagierte auf den entgegenkommenden LKW vorerst nicht oder nur mit einer geringfügigen Bremsung. Als er das Abkommen des LKWs in Richtung des (in seine Fahrtrichtung gesehen) rechten Fahrbahnrandes bemerkte, verlenkte er seinen PKW etwa eine Sekunde lang nach links und bremste danach sein Fahrzeug rund 14 m bzw 4 Sekunden ab. Die Kollision der Fahrzeuge erfolgte innerhalb der halben Sichtstrecke des Klägers, wobei der PKW etwa 5 bis 10 km/h und der LKW annähernd 25 bis 30 km/h Restgeschwindigkeit aufwies. Es steht nicht fest, ob der Kläger seinen PKW ohne die Kollision innerhalb seiner halben Sichtstrecke zum Stillstand hätte bringen können. Die Kollision erfolgte auf der rechten Fahrbahnhälfte des Klägers mit einer Überdeckung von rund 50 cm. In Entsprechung des Gebotes des Fahrens auf halbe Sicht war bei den damaligen Fahrbahnverhältnissen eine Geschwindigkeit von rund 40 km/h zulässig. Hätte der Kläger bei erster Sicht auf den LKW mit einer spurhaltigen Bremsung von rund 3 m/sec2 reagiert, so hätte er den Zusammenstoß verhindern können. Hätte er anstelle des Linksverlenkens mit einer spurhaltigen Bremsung reagiert, hätte er den Zusammenstoß ebenfalls verhindern können.

In rechtlicher Hinsicht vertrat das Erstgericht den Standpunkt, der Erstbeklagte habe dem Gebot des Fahrens auf halbe Sicht nicht entsprochen, weil er sein Fahrzeug nicht innerhalb seiner halben Sichtstrecke zum Stillstand gebracht habe. Dem gegenüber habe der Kläger eine entscheidende Fehlreaktion zu vertreten, weil er mehrfach falsch und unverständlich reagiert habe. Es sei daher von einem gleichteiligen Verschulden der Streitteile auszugehen.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge und sprach aus, daß die ordentliche Revision zulässig sei. Es führte zur Rechtsrüge folgendes aus:

Bei Beurteilung einer allfälligen Verpflichtung zum Fahren auf halbe Sicht sei auf die abstrakte Möglichkeit der Begegnung mit einem Fahrzeug mit der höchstzulässigen Breite von 2,5 m abzustellen. Im gegenständlichen Fall habe die Fahrzeugbreite beim PKW 1,6 m und beim LKW 2,4 m betragen, jeweils ohne Außenspiegel. Die Fahrbahn sei 4 m breit gewesen, wobei sie sich im Unfallstellenbereich auf 4,8 m verbreitert habe. Unter diesen Umständen habe nicht von vornherein angenommen werden dürfen, daß der Begegnungsverfahren gefahrlos abgewickelt werden könne, zumal die Fahrbahn schneeglatt und nicht gestreut gewesen sei. Das Erstgericht habe daher zutreffend erkannt, daß für beide Fahrzeuglenker die Verpflichtung zum Fahren auf halbe Sicht bestanden habe. Nach den Feststellungen habe eine Geschwindigkeit von 40 km/h diesem Gebot entsprochen. Dem habe der Kläger durch die Einhaltung einer Geschwindigkeit von 20 km/h Rechnung getragen.

Was den Erstbeklagten anlange, so habe dieser nach den Ergebnissen des Sachverständigengutachtens eine Geschwindigkeit von 30 bis 40 km/h eingehalten. Mit rechtskräftiger Strafverfügung des Bezirksgerichtes Vöcklabruck sei der Erstbeklagte des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 StGB schuldig erkannt worden; demnach habe er eine für die gegebenen Fahrbahn-, Witterungs- und Sichtverhältnisse überhöhte Geschwindigkeit eingehalten. Es erhebe sich nun die Frage, ob diese Strafverfügung im nunmehrigen Rechtsstreit über schadenersatzrechtliche Ansprüche Bindungswirkung entfalte.

Die ständige Rechtsprechung zu § 268 ZPO sei seinerzeit davon ausgegangen, daß die in dieser Bestimmung verfügte Feststellungswirkung auch Strafverfügungen (§ 460 StPO) zukomme. Demnach habe der Wortlaut des § 268 ZPO alle verurteilenden Erkenntnisse des Strafgerichts und somit auch Strafverfügungen umfaßt.

Mit Erkenntnis vom 12.10.1990 habe der Verfassungsgerichtshof die Bestimmungen des § 268 ZPO als verfassungswidrig aufgehoben, weil die in dieser Bestimmung angeordnete Erstreckung der Bindungswirkung auf Dritte, die im strafgerichtlichen Verfahren nicht gehört worden seien, im offenen Widerspruch zu dem in Art 6 Abs 1 EMRK jedermann gewährleisteten Recht, von einem unabhängigen und unparteiischen Gericht gehört zu werden, das über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen zu entscheiden habe, stehe.

Mit der Entscheidung eines verstärkten Senates des Obersten Gerichtshofes vom 17.10.1995, 1 Ob 612/95, sei ausgesprochen worden, daß infolge materieller Rechtskraft des strafgerichtlichen Schuldspruchs dessen Bindungswirkung für den Zivilprozeß - allerdings beschränkt auf den Rechtskreis des Verurteilten - zu bejahen sei. Es stelle sich daher die Frage, ob aufgrund dieser Entscheidung die vormals auf § 268 ZPO gestützte Bindung der Zivilgerichte an rechtskräftige Strafverfügungen wieder auflebe.

Das Mandatsverfahren nach §§ 460 ff StPO bestehe darin, daß das Bezirksgericht auf Grund des Strafantrags und der Anzeige eine Strafverfügung erlasse, ohne eine Hauptverhandlung durchzuführen. Dabei würden die Grundsätze der Mündlichkeit, der Unmittelbarkeit und der Öffentlichkeit zugunsten von Erwägungen der Prozeßökonomie hintangesetzt. Parteienrechte würden durch die Einspruchmöglichkeit gewahrt. Der Gesetzgeber habe also das Mandatsverfahren in zweierlei Hinsicht beschränkt, nämlich einerseits auf das Verfahren vor den Bezirksgerichten, andererseits auf Fälle, in denen dem Beschuldigten durch seine Verurteilung nur ein relativ geringfügiger vermögensrechtlicher Nachteil (Geldstrafe von nicht mehr als 90 Tagessätzen) erwachse. Schon daraus erhelle der Wille des Gesetzgebers, daß mit einer Strafverfügung keine weitergehenden Haftungsfolgen verbunden sein sollten. Darüber hinaus werde sich der Rechtsunkundige, durch eine Strafverfügung ohne vorangegangene Hauptverhandlung Bestrafte kaum der Tatsache gewahr sein, daß damit auch für den Zivilprozeß Tatsachen bindend festgelegt seien. In vielen Fällen werde es der Beschuldigte vielmehr bei der über ihn verhängten Geldstrafe belassen, weil er diese wirtschaftlich leicht tragen könne und er davon ausgehe, daß es mit dieser geringfügigen Geldstrafe das Bewenden habe und er dem wirtschaftlichen Risiko und der persönlichen Belastung eines Strafprozesses damit entgehen könne.

Auch sei noch folgender Aspekt aufzuzeigen: In dem aufgrund des Einspruchs eintretenden ordentlichen Verfahren könne auch eine strengere als die in der Strafverfügung ausgesprochene Strafe verhängt werden; das Verschlimmerungsverbot gelte also insoweit nicht. Auch von dieser Erwägung möge sich der Beschuldigte leiten lassen, wenn er gegen eine Strafverfügung keinen Einspruch erhebe, ohne dabei freilich die möglichen Haftungsfolgen zu bedenken.

Wie bereits erwähnt, erfahre außerdem im Mandatsverfahren der dem Strafprozeß immanente Grundsatz der Unmittelbarkeit eine Durchbrechung. Bei Strafverfügungen habe ja zumeist nicht das Strafgericht selbst Beweise erhoben und Tatsachen festgestellt, sondern es würden in der Regel die Angaben in der Anzeige der Sicherheitsbehörde der Strafverfügung zugrundegelegt. Auch im gegenständlichen Fall sei bei Erlassung der Strafverfügung vom Anzeigesachverhalt ausgegangen und insbesondere kein kfz-technisches Sachverständigengutachten eingeholt worden. Auch durch diesen Umstand könne einer Strafverfügung nur beschränkte Wahrheitsgarantie zugebilligt werden.

Schließlich spreche im Ergebnis auch noch folgender Aspekt gegen eine Bindungswirkung im gegenständlichen Fall: Unter Annahme einer Bindungswirkung bestünde nämlich diesfalls ein Nebeneinander gebundener und nicht gebundener Beteiligter. Eine allfällige Bindung des Zivilrichters könne sich nämlich nur auf den Erstbeklagten, gegen den die Strafverfügung erlassen worden sei, nicht aber auf den Zweitbeklagten und die Drittbeklagte erstrecken. Letztere hätten ja keinen Zugang zum Strafverfahren gehabt. Demzufolge wäre bei der Verschuldensteilung insofern zu differenzieren, als lediglich dem Erstbeklagten der Verstoß gegen das Gebot des Fahrens auf halbe Sicht bzw die Einhaltung einer überhöhten Geschwindigkeit als Verschulden angerechnet werden könnte.

Aus diesen Überlegungen erachte das Berufungsgericht sich nicht an die Feststellung in der Strafverfügung, der Erstbeklagte habe eine für die gegebenen Fahrbahn-, Witterungs- und Sichtverhältnisse überhöhte Geschwindigkeit eingehalten, gebunden. Vielmehr sei von den Ergebnissen des Beweisverfahrens im Zivilprozeß auszugehen, weshalb dem Erstbeklagten im Hinblick auf die eingehaltene Fahrgeschwindigkeit kein Verstoß anzulasten sei.

Den Ausführungen des Klägers, der Erstbeklagte habe einen gravierenden Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot zu vertreten, sei nicht zu folgen. Wenn nämlich die Umstände des Falles wie hier ein Anhalten im Begegnungsverkehr erforderten, trete die Frage der Benützung des äußerst rechten Fahrbahnrandes gegenüber der Frage, ob der Lenker in der Lage gewesen sei, durch rechtzeitiges Anhalten eine gefahrlose Begegnung zu ermöglichen, an Bedeutung zurück.

Sohin sei dem Erstbeklagten ein Verstoß gegen die Bestimmung des § 10 Abs 2 StVO anzulasten, weil er sein Fahrzeug infolge eines unsachgemäßen Bremsmanövers nicht ordnungsgemäß angehalten habe, sondern damit quer über die Fahrbahn geschlittert sei. Auch dem Kläger sei vorzuhalten, daß er sein Fahrzeug entgegen der Bestimmung des § 10 Abs 2 StVO nicht rechtzeitig angehalten, sondern lediglich leicht gebremst und letztlich den Begegnungsverkehr nicht gefahrlos bzw kollisionsfrei zu bewältigen vermocht habe. Dagegen sei ihm das darauffolgende Linksverlenken bzw die verspätete Einleitung des Bremsmanövers nicht als Mitverschulden anzulasten. Grundsätzlich dürfe ein Ausweichversuch nach links nur im äußersten Notfall und nur dann vorgenommen werden, wenn eine andere Möglichkeit, eine drohende Kollision zu vermeiden, nicht gegeben sei und aus triftigen Gründen mit dem Gelingen des Versuchs gerechnet werden könne. Ein solches Ausweichen nach links sei allerdings auch dann als entschuldbar anzusehen, wenn der Ausweichende von dem plötzlich in bedrohlicher Weise in seiner Fahrlinie entgegenkommenden Fahrzeug überrascht werde und infolgedessen eine an sich unrichtige Schreckreaktion setze. Dem Kläger sei beizupflichten, daß eine solche Ausnahmesituation hier vorgelegen habe, zumal es sich beim gegnerischen Fahrzeug um einen LKW gehandelt habe, der überraschend (der Kläger habe ja das unsachgemäße Bremsmanöver nicht vorhersehen können) auf seine Fahrbahnseite geraten sei, weshalb ein überstürztes Handeln erforderlich gewesen sei.

Somit hätten beide Lenker gegen das Gebot des § 10 Abs 2 StVO, nämlich vor dem jeweils entgegenkommenden Fahrzeug ordnungsgemäß anzuhalten, verstoßen. Stelle man das den Kfz-Lenkern anzulastende Fehlverhalten einander gegenüber, ergebe sich, gemessen an der Größe und Wahrscheinlichkeit der durch das schuldhafte Verhalten der Verkehrsteilnehmer im allgemeinen und im konkreten Fall bewirkten Gefahr und der Wichtigkeit der verletzten Vorschriften, daß das Verschulden beider Teile etwa gleich schwer wiege. Die vom Erstgericht vorgenommene Verschuldensteilung sei daher gerechtfertigt.

Die ordentliche Revision sei zulässig, weil eine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Frage der Bindung des Zivilgerichts an rechtskräftige Strafverfügungen seit Aufhebung der Bestimmung des § 268 ZPO nicht vorliege.

Gegen diese Berufungsentscheidung richtet sich die Revision des Klägers wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im Sinne der gänzlichen Klagsstattgebung abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Beklagten beantragen in ihrer Revisionsbeantwortung, die Revision als unzulässig zurückzuweisen, und hilfsweise, ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig; sie ist teilweise auch berechtigt.

Der Rechtsmittelwerber macht im wesentlichen geltend, das Berufungsgericht wäre an die rechtskräftige Strafverfügung gebunden gewesen und hätte daher von einer Geschwindigkeitsüberschreitung des Erstbeklagten ausgehen müssen. Eine Verpflichtung zum Fahren auf halbe Sicht habe bei den festgestellten örtlichen Gegebenheiten nicht bestanden. Für den Kläger habe bei erster Sicht keine Veranlassung bestanden, sein Fahrzeug abzubremsen, weil er darauf vertrauen habe dürfen, daß der Erstbeklagte den LKW rechtzeitig und ausreichend nach rechts lenken werde. Erst als der LKW durch das unsachgemäße Bremsmanöver des Erstbeklagten ins Schleudern geraten sei, habe für den Kläger Handlungsbedarf bestanden. Er habe eine Lenkbewegung gesetzt und unmittelbar danach mit der Vollbremsung begonnen. Das um eine Sekunde verzögerte Bremsmanöver sei aufgrund der besonderen Ausnahmesituation entschuldbar. Demgegenüber treffe das Alleinverschulden an dem Unfall den Erstbeklagten, weil er mit einer den Verhältnissen nicht angepaßten Geschwindigkeit gefahren sei und eine mögliche Ausweichbewegung unterlassen habe.

Hiezu wurde erwogen:

Gemäß § 268 ZPO (alt) war der Richter, wenn die Entscheidung von dem Beweise und der Zurechnung einer strafbaren Handlung abhängt, an den Inhalt eines hierüber ergangenen rechtskräftigen verurteilenden Erkenntnisses des Strafgerichtes gebunden. Die ständige Rechtsprechung zu § 268 ZPO bejahte die Bindung des Zivilrichters auch an rechtskräftige Strafverfügungen (zB ZVR 1989/17 mwN), die herrschende Lehre lehnte eine solche Bindung ab (zB Fasching, Lehrbuch2 Rz 860; vgl die zahlreichen weiteren Judikatur- und Literaturnachweise bei Simotta, ecolex 1991, 524 FN 31).

Der Verfassungsgerichtshof hob § 268 ZPO mit Erkenntnis vom 12.10.1990, VfSlg 12.504/1990, als verfassungswidrig auf. Der Gesetzgeber blieb danach untätig.

Mit Beschluß vom 17.10.1995, 1 Ob 612/95 = SZ 68/195, formulierte ein verstärkter Senat des Obersten Gerichtshofes folgenden Rechtssatz:

"Wirkt die materielle Rechtskraft der strafgerichtlichen Verurteilung derart, daß der Verurteilte das Urteil gegen sich gelten lassen muß, und wirkt dieses für den Rechtskreis desVerurteilten, für diesen aber gegen jedermann, so kann sich niemand im nachfolgenden Rechtsstreit einer anderen Partei gegenüber gegenüber darauf berufen, daß er eine Tat, derentwegen er strafgerichtlich verurteilt wurde, nicht begangen habe, gleichviel, ob der andere am Strafverfahren beteiligt war oder in welcher verfahrensrechtlichen Stellung er dort aufgetreten ist". In diesem Rechtssatz ist somit nur von den Folgen eines Urteiles, nicht auch einer Strafverfügung die Rede. Daß eine Bindung an eine solche bestehen würde, kann auch den weiteren Ausführungen des verstärkten Senates nicht entnommen werden.

Der erkennende Senat hat es erstmals in 2 Ob 2070/96t = ZVR 1996/80 (zustimmend Schauer, RdW 1997, 5) und sodann in weiteren Entscheidungen (s RIS-Justiz RS0097968) für ausgeschlossen gehalten, die Bindungwirkung des Strafurteils auf den Haftpflichtversicherer, der im Strafprozeß kein rechtliches Gehör hatte, zu erstrecken. In 2 Ob 2348/96z hat er die Frage der Bindungswirkung einer Strafverfügung mangels Relevanz im damaligen Fall offengelassen.

Aus dieser Rechtsprechung ergibt sich für den vorliegenden Fall zunächst, daß eine Bindungswirkung der gegen den erstbeklagten Lenker erlassenen Strafverfügung im Verhältnis zum drittbeklagten Haftpflichtversicherer nicht in Betracht kommt. Da auch der zweitbeklagte Halter im Strafverfahren kein rechtliches Gehör hatte, kann auch ihm gegenüber keine Bindungswirkung bestehen.

Was nun den bestraften Erstbeklagten selbst anlangt, so billigt der erkennende Senat die zutreffend begründete Ansicht des Berufungsgerichts, daß die Strafverfügung im Schadenersatzprozeß keine Bindungswirkung entfaltet. Zwar erwächst eine Strafverfügung ebenso wie ein Strafurteil in Rechtskraft. Der Gesetzgeber hat das Mandatsverfahren des § 460 StPO aber auf Fälle beschränkt, in denen dem Beschuldigten nur ein relativ geringer vermögensrechtlicher Nachteil zugefügt wird. Der Beschuldigte wird die Strafverfügung häufig deshalb unbekämpft lassen, weil er die Geldstrafe (hier S 1.700, bedingt nachgesehen auf eine Probezeit von drei Jahren) wirtschaftlich leicht tragen kann, weil er die mit der Durchführung einer Hauptverhandlung verbundenen finanziellen und persönlichen Belastungen vermeiden will und weil die Gefahr der reformatio in peius besteht. Schon das Berufungsgericht hat betont, daß es im Falle einer Strafverfügung - anders als im Falle eines Strafurteils - an ausreichenden gerichtlichen Wahrheitsgarantien fehlt. Unter diesen Umständen kann dem Gesetzgeber nicht unterstellt werden, er habe mit der Rechtskraft der in einem bloßen Mandatsverfahren ergangenen Strafverfügung wesentliche weitergehende und für den Betroffenen in ihren Auswirkungen oft noch schwer erkennbare Haftungsfolgen verknüpfen wollen (Oberhammer, JAP 1995/96, 129; vgl auch Simotta aaO mwN; Fasching aaO).

Das Berufungsgericht hat sich somit zu Recht nicht an die Strafverfügung gebunden erachtet, der zufolge der Erstbeklagte eine den Verhältnissen nicht angepaßte Geschwindigkeit eingehalten hätte, was sich nach den Beweisergebnissen des Zivilverfahrens als unhaltbar herausgestellt hat. Daß den Erstbeklagten dennoch aufgrund seines unsachgemäßen Bremsmanövers ein - wenn auch mangels Geschwindigkeitsüberschreitung insgesamt geringeres - Verschulden am Unfall trifft, ist im Revisionsverfahren nicht mehr strittig.

Zu den weiteren Revisionsausführungen ist vorauszuschicken, daß von der Frage des Fahrens auf halbe Sicht die Frage der Anhaltepflicht zu unterscheiden ist. Während bei der Beurteilung der Frage, ob auf halbe Sicht zu fahren ist, auf die abstrakte Möglichkeit der Begegnung mit einem Fahrzeug mit der höchstzulässigen Breite von 2,5 m abzustellen ist, hat die Beurteilung der Anhaltepflicht nach den konkreten Umständen zu erfolgen (ZVR 1994/118; 2 Ob 76/95).

Die von beiden Fahrzeuglenkern eingehaltene Fahrgeschwindigkeit entsprach auch unter den damaligen Fahrbahnverhältnissen ohnehin dem Gebot des Fahrens auf halbe Sicht, weshalb die diesbezüglichen Ausführungen des Rechtsmittelwerbers ins Leere gehen.

Was nun die Anhaltepflicht des Klägers anlangt, ist ihm zwar mit dem Berufungsgericht nicht sein vor dem schließlichen Abbremsen unternommener Auslenkversuch, wohl aber die unfallskausale Unterlassung einer (nennenswerten) Bremsung bereits bei erster Sicht auf den gegnerischen LKW (noch vor dessen Schleuderbewegung) vorzuwerfen. Mit einer gefahrlosen Begegnung der Fahrzeuge durfte der Kläger hier nämlich schon bei erster Sicht trotz der Fahrbahnbreite im Kollisionsbereich nicht rechnen, weil ihm der LKW in Fahrbahnmitte entgegenkam und er angesichts der winterlichen Fahrbahnverhältnisse nicht sicher sein konnte, der Erstbeklagte werde völlig problemlos und rechtzeitig nach rechts ausweichen bzw bremsen können (vgl auch ZVR 1985/3).

Dem Kläger ist daher ein Mitverschulden am Unfall anzulasten. Allerdings ist bloß deshalb, weil beide Fahrzeuglenker nicht rechtzeitig angehalten haben, noch nicht gleichteiliges Verschulden anzunehmen (ZVR 1984/194 mwN). Im vorliegenden Fall wiegt das Mitverschulden des verspätet bremsenden Klägers im Verhältnis zum Verschulden des Erstbeklagten, dessen LKW infolge einer unsachgemäßen Bremsung außer Kontrolle geriet, entgegen der Ansicht der Vorinstanzen weniger schwer. Nach Meinung des erkennenden Senates ist insbesondere im Hinblick auf die Größe und Wahrscheinlichkeit der von den beiden Lenkern jeweils bewirkten Gefahr eine Schadensteilung im Verhältnis von 1 : 2 zugunsten des Klägers angemessen.

Die Urteile der Vorinstanzen waren daher in diesem Sinne abzuändern.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 43 Abs 1 (§ 50) ZPO. Der Kläger ist im erstinstanzlichen Verfahren mit rund der Hälfte seines Begehrens, im Rechtsmittelverfahren mit rund einem Drittel seines noch strittig verbliebenen Begehrens durchgedrungen.

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