OGH 7Ob2109/96i

OGH7Ob2109/96i17.7.1996

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Warta als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Niederreiter, Dr.Schalich, Dr.Tittel und Dr.I.Huber als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Dr.Elfriede B*****, vertreten durch Dr.Markus Weinl, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Gertrude P*****, vertreten durch Dr.Georg Röhsner, Rechtsanwalt in Wien, wegen Aufkündigung, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien als Berufungsgericht vom 13.März 1996, GZ 41 R 42/96x-19, mit dem das Urteil des Bezirksgerichtes Josefstadt vom 16.Oktober 1995, GZ 4 C 258/95v-13, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben und die angefochtene Entscheidung aufgehoben. Die Rechtssache wird zur ergänzenden Verhandlung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Berufungs- und Revisionskosten bilden weitere Verfahrenskosten erster Instanz.

Text

Begründung

Die aufgekündigte Wohnung wurde von Dr.Eugen P*****, dem am 1.2.1995 verstorbenen Ehegatten der Beklagten, am 8.3.1965 angemietet; die Beklagte lebte seither in dieser Wohnung. Die Verlassenschaft nach Dr.P***** wurde ihr als Alleinerbin eingeantwortet. Sie ist auf Grund dessen Alleineigentümerin einer 1210 m2 großen Liegenschaft in B*****, B*****gasse 30, mit einem Einfamilienhaus, das vom Ehepaar P***** im Sommer wochenweise und im Winter fallweise über das Wochenende benützt wurde. Ansonsten wurde dieses Haus vom gemeinsamen Sohn der beiden, Dr.Eugen P***** jun., und dessen Familie benützt, wobei es jeweils abgesprochen wurde, wer das Haus wann benützt, um eine gegenseitige Störung zu vermeiden. Das Haus in Baden ist winterfest und mit einer Heizung und Telefonanschluß ausgestattet, sowohl im Erdgeschoß als auch im ersten Stock sind jeweils Bad und WC installiert. Im Erdgeschoß befinden sich die Wohnräume und die Küche, im ersten Stock zwei Schlafräume und ein Gästezimmer. Im anschließenden Garten befindet sich ein Swimming-Pool. Die B*****gasse befindet sich südwestlich des Stadtzentrums von Baden nahe der südlichen Umfahrungsstraße B 210. Im Winter findet die Schneeräumung nur unregelmäßig statt, sodaß man fallweise nicht zum Haus zugehen kann. Parallel zur B*****gasse verläuft die Friedrichstraße, die durch die D*****gasse mit der B*****gasse verbunden ist. Ecke F*****straße/D*****gasse befindet sich ein Lebensmittelgeschäft ohne Fleischhauer. Von dort aus fährt auch ein Autobus Richtung Stadtzentrum etwa in Halbstundenintervallen. Die nächsten Geschäfte, zB eine Meinl-Filiale, befinden sich in der V*****straße. Die Entfernung zum Stadtzentrum beträgt 1,5 km. Die Beklagte benötigt für diese Strecke etwa eine halbe Stunde Gehzeit. Die Beklagte hat in der näheren Nachbarschaft in Baden keine Kontaktpersonen. Es befinden sich in der Nähe keine Ordinationen von Ärzten, sondern nur im Stadtzentrum. Im Haus mit der aufgekündigten Wohnung wohnen noch die Schwägerin und die Nichte der Beklagten.

Die klagende Partei stützte ihre Aufkündigung auf § 30 Abs.2 Z 1 und 5 MRG und verwies außerdem auf § 1116a ABGB und brachte vor, daß die aufgekündigte Wohnung nach dem Tod des bisherigen Mieters nicht mehr einem dringenden Wohnbedürfnis eintrittsberechtigter Personen diene. Die Gattin des verstorbenen Mieters verfüge über eine Villa in Baden. Der seinerzeitige Mieter habe die ihm vorgeschriebenen Mieten und Betriebskosten nur teilweise bezahlt, sodaß im Kündigungszeitpunkt ein Rückstand von S 87.590,41 bestanden habe. Die Bezahlung dieses Rückstandes begehrt die Klägerin mit eigens eingebrachter Mahnklage.

Die Verlassenschaft nach Dr.P***** erhob gegen die Aufkündigung fristgerecht Einwendungen. Die nunmehrige Beklagte brachte vor, seit mehr als 30 Jahren in der aufgekündigten Wohnung gewohnt zu haben und dort auch nach wie vor ihren Lebensmittelpunkt zu haben. Zum Mietzinsrückstand verwies sie auf andere anhängige streitige und außerstreitige Verfahren vor dem Erstgericht, aus diesen ergebe sich, daß der Verstorbene keinerlei Mietzinsrückstände habe auflaufen lassen. Unter anderem stellte sie den Antrag gemäß § 41 MRG auf Unterbrechung. Eine Übersiedlung nach Baden sei ihr weder psychisch noch physisch zumutbar, sie habe in der Nähe ihres Hauses in Baden keine ärztliche Versorgung und keine Einkaufsmöglichkeiten zur Verfügung, die sie bei dauerndem Wohnen in Baden treffende soziale Isolation sei ihr unzumutbar.

Das Erstgericht erklärte die Aufkündigung für rechtswirksam und verpflichtete die Beklagte zur Räumung der aufgekündigten Wohnung. Es folgerte rechtlich, daß die nunmehrige Beklagte zwar eintrittsberechtigt, ihr Wohnbedarf in der ihr nunmehr allein gehörenden Villa in Baden aber ausreichend gedeckt sei. Wenn der Beklagten auch bei einem Umzug nach Baden eine gewisse soziale Isolation zuzugestehen sei, sei sie physisch noch in der Lage, dort allein zu wohnen. Der Begriff des "dringenden Wohnbedürfnisses" sei an jenem des dringenden Eigenbedarfes zu messen. Dieser richte sich aber nach einhelliger Rechtsprechung nach den tristen Verhältnissen der Kriegs- und Nachkriegszeit, danach müsse echter Notstand vorliegen. Da ein strenger Maßstab anzulegen sei, sei die Verweisung der Beklagten auf eine auswärtige Wohnung zumutbar.

Das Berufungsgericht bestätigte mit der angefochtenen Entscheidung dieses Urteil. Es erklärte die Revision für unzulässig. Es teilte die Rechtsauffassung des Erstgerichtes. Nach ständiger Rechtsprechung sei ein dringendes Wohnbedürfnis eigenberechtigter Personen nur dann zu bejahen, wenn die unabweisliche Möglichkeit bestehe, den anderwärts in rechtlich gleichwertiger Weise nicht gedeckten Wohnbedarf des Eintrittsberechtigten zu befriedigen. Qualitativ sei das Einfamilienhaus in Baden der aufgekündigten Wohnung gleichzustellen. Der Beklagten könnten keine beruflichen Motive, die gegen einen Umzug nach Baden sprechen, zugutegehalten werden. Die Infrastruktur Badens bleibe hinter der von Wien nicht so weit zurück, daß die Möglichkeit zu ihrer Nutzung bloße Aspekte der Bequemlichkeit oder persönlicher Vorlieben deutlich überschreiten könnte. Die psychische Belastung, nach dem Verlust eines nahen Angehörigen auch noch die Wohnung und die ungewohnte Umgebung zu verlieren, sei eine vom Gesetzgeber im § 30 Abs 2 Z 5 MRG regelmäßig angeordnete Folge, sodaß hieraus nicht die Unanwendbarkeit dieser Vorschrift im Einzelfall abgeleitet werden könne.

Rechtliche Beurteilung

Die gegen diese Entscheidung von der Beklagten erhobene außerordentliche Revision ist zulässig und berechtigt.

Während in der früheren zum Teil noch zum MietG ergangenen Rechtsprechung ein dringendes Wohnbedürfnis des Eintrittsberechtigten nach dem Tod des bisherigen Mieters nur anerkannt wurde, wenn die Belassung des bisherigen Zustandes unabweislich notwendig ist und daher verneint wurde, wenn (ganz allgemein beurteilt) eine andere gleichwertige Unterkunft zur Verfügung steht (vgl MietSlg. 23.404 f und 24.392), wurde ein solches in der Folge nur dann anerkannt, wenn die andere dem Eintrittsberechtigten zur Verfügung stehende Wohnmöglichkeit rechtlich und faktisch mit der bisherigen nicht gleichwertig war (vgl MietSlg 33.360, 33.373/7). In der Entscheidung 7 Ob 1633/93 (= MietSlg 45.389 = WoBl 1994/3) wurde die Auffassung vertreten, daß das Eigentumsrecht eines Eintrittsberechtigten an einem Haus regelmäßig sein Wohnbedürfnis an der aufgekündigten Wohnung ausschließe, ein solches aber dennoch dann zu bejahen sei, wenn diese andere Möglichkeit in einem anderen Ort liege und die Anwesenheit des Eintrittsberechtigten am Ort der aufgekündigten Wohnung erforderlich ist. Dabei sei auf die Zumutbarkeit der Benützung der dortigen Wohnmöglichkeit abzustellen. Eine fast tägliche Zureise des Eintrittsberechtigten etwa von Mattersburg zu seinem Arbeitsplatz in Wien sei nicht zumutbar. In der Entscheidung 8 Ob 529/93 wurde dargelegt, daß bei der Beurteilung eines ausreichend gedeckten Wohnbedarfes in einem anderem Ort stets auf die besonderen Umstände des Einzelfalles Bedacht zu nehmen, und daß es unzumutbar sei, eine dreieinhalb Jahrzehnte an einem Ort gestaltete Lebenswelt zu verlassen und ein ganz neues Privatleben zu beginnen. Folgt man diesem Gedanken, so erscheint es der 77jährigen Beklagten unzumutbar, von Wien nach Baden zu übersiedeln. Auch wenn die Beklagte derzeit noch rüstig ist, ist bei ihr allein nach der Lebenserfahrung in nächster Zeit eine gesteigerte Krankheitsanfälligkeit bzw. eine Zunahme der Gebrechlichkeit und damit ein bedeutender Verlust an Mobilität zu erwarten, was in einer Gegend, in der im Winter die Straße fallweise nicht begehbar ist, zu schwierigen Betreuungssituationen führen kann. Auch wenn davon auszugehen ist, daß Ärzte auch bei schlechten Wetter- und Straßenverhältnissen bei der Beklagten Hausbesuche vornehmen würden, kann allein schon eine bei der Beklagten eintretende Isolation in ihrem Haus in Baden unter Umständen zu einer lebensbedrohlichen psychischen Belastung führen. Durch eine Übersiedlung von Wien nach Baden würde die Beklagte aus ihrer seit Jahrzehnten bestehenden und daher gewohnten Umgebung herausgerissen und damit zur Aufgabe ihrer bisherigen Lebensgestaltung gezwungen. Es ist unwahrscheinlich, daß ein Mensch im Alter der Beklagten sich nach einer Übersiedlung den bisherigen Kontakten gleichwertige Beziehungen zu den in Baden in der Nachbarschaft oder näheren Umgebung ihres Hauses lebenden Menschen aufbauen kann, um in Lebenssituationen, in denen ein alter Mensch Hilfe braucht, all die Möglichkeiten vorzufinden, wie sie die Beklagte in ihrer Wiener Wohnung durch die im gleichen Haus lebende Schwägerin und Nichte vorfindet. Aus diesen Gründen ist ihr daher eine Übersiedlung von Wien nach Baden unzumutbar. Der Umstand, daß die Beklagte als Pensionistin nicht die Notwendigkeit der Erreichbarkeit des Arbeitsplatzes in Anspruch nehmen kann, fällt in diesem Zusammenhang nicht ins Gewicht.

Es waren daher die Entscheidungen der Vorinstanzen aufzuheben und dem Erstgericht aufzutragen, den weiters geltend gemachten Kündigungsgrund der Nichtbezahlung des Mietzinses zu überprüfen.

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