OGH 6Ob1/96

OGH6Ob1/9611.1.1996

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Kellner, Dr.Schiemer, Dr.F.M.Adamovic und Dr.Prückner als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Mag.Ewald S*****, Abgeordneter zum Nationalrat, ***** vertreten durch Dr.Fritz Schuler, Rechtsanwalt in Bregenz, wider die beklagte Partei Erich W*****, Angestellter, ***** vertreten durch Dr.Wilfried Ludwig Weh, Rechtsanwalt in Bregenz, wegen Unterlassung (Streitwert S 150.000), infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgerichtes vom 11.Mai 1995, GZ 2 R 44/95-15, womit das Urteil des Landesgerichtes Feldkirch vom 16.November 1994, GZ 8 Cg 272/94s-11, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben. Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, daß sie zu lauten haben:

"Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, Behauptungen dahingehend, daß der Kläger ein braun/blauer Schreier sei, zu unterlassen, sowie die beiden Eventualbegehren, der Beklagte sei schuldig, Behauptungen dahingehend 1. daß der Kläger ein selbst ernannter FPÖ-Führer sei sowie 2. Behauptungen, durch welche der Kläger als selbsternannter FPÖ-Führer und/oder braun/blauer Schreier bezeichnet werde, zu unterlassen, werden abgewiesen.

Die klagende Partei hat der beklagten Partei die mit 26.988,60 S (darin 4.498,10 S Umsatzsteuer) bestimmten Kosten des Verfahrens erster Instanz und die mit 19.900,- S (darin 1.550,- S Umsatzsteuer und 10.600,- S Barauslagen) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen."

Die klagende Partei hat der beklagten Partei die mit 21.620,- S (darin 1.395,- S Umsatzsteuer und 13.250,- S Barauslagen) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Die "Replik" der beklagten Partei auf die Revisionsbeantwortung wird zurückgewiesen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die Streitteile sind politische Gegner. Der Kläger war im August 1994 Landtagsabgeordneter und Klubobmann der Freiheitlichen Partei Österreichs im Vorarlberger Landtag. Er übte diese Tätigkeit bis 31.12.1994 aus. Am 2.11.1994 war er designierter Abgeordneter zum Österreichischen Nationalrat und stellvertretender Klubobmann der FPÖ im Nationalrat. Innerhalb der FPÖ, nunmehr der Freiheitlichen, ist der Kläger stellvertretender Landesparteiobmann und Mitglied des Parteipräsidiums sowie des Landesparteivorstandes. Bis 31.10.1994 war er aufgrund seiner Tätigkeit als Klubobmann auch Mitglied des Bundesparteivorstandes. In sämtliche Funktionen wurde er gewählt.

Der Beklagte war im August 1994 Angestellter des Karl Renner-Institutes, der Bildungsakademie der Sozialdemokratischen Partei Österreichs, sowie Funktionär der SPÖ in Vorarlberg, nämlich Bezirksobmann von Dornbirn.

In einem zur Veröffentlichung in der "Neuen Vorarlberger Tageszeitung" bestimmten Interview äußerte sich der Beklagte einem Journalisten gegenüber zur Frage: "Wovor haben Sie Angst?" wörtlich:

"Von selbsternannten FPÖ-Führern wie Jörg H*****, Ewald S***** (das ist der Kläger), Reinhard B***** und anderen braun/blauen Schreiern bevormundet zu werden".

Am 18.8.1994 wurde über Veranlassung des Beklagten im damals beginnenden Wahlkampf zu den Nationalratswahlen und den Landtagswahlen in Vorarlberg ein SPÖ-Pressedienst an die Vorarlberger Medien versandt, in welchem unter anderem mitgeteilt wurde:

"......Stadler läßt zur Zeit abklären, in welcher Form er den SPÖ-Bezirksvorsitzenden W***** vor Gericht klagen werde. Grund dafür ist eine Äußerung von Erich W***** in der NEUE-Serie "Unsere Politiker einmal anders" vom vergangenen Dienstag. Auf die Frage, wovor er Angst habe, antwortete Erich W***** wie es wahrheitsgemäß auch veröffentlicht wurde: "Von selbsternannten FPÖ-Führern wie Jörg H*****, Ewald S*****, Reinhard B***** und anderen blau/braunen Schreiern bevormundet zu werden". Die nun angedrohte Überprüfung einer Klage durch S***** bezeichnete Erich W***** als einen typischen FPÖ-Versuch, politisch anders Denkende als wie die FPÖ erlaubt, einzuschüchtern. Mit dieser Vorgangsweise bestätigte die FPÖ-Führung einmal mehr, daß für sie gelebte Demokratie und Meinungsfreiheit offensichtlich nicht gelte. Für Erich W***** ist die ausgesprochene Angst von braun/blauen Schreiern bevormundet zu werden, damit aktueller denn je geworden."

Der Kläger begehrt, den Beklagten wie aus dem Spruch ersichtlich schuldig zu erkennen. Durch die in den Medien zitierten Äußerungen habe der Beklagte unwahr und beleidigend behauptet, der Kläger verbreite braunes (nationalsozialistisches) Gedankengut, sei brauner (nationalsozialistischer) Gesinnung und weise damit einen Charaktermangel auf. Der Beklagte habe auch fälschlich und kränkend behauptet, der Kläger sei ein selbsternannter FPÖ-Führer, obwohl er in die von ihm ausgeübten Funktionen gewählt worden sei. Die unwahren Behauptungen seien Ehrenbeleidigungen, der Kläger werde in der öffentlichen Meinung verächtlich gemacht und herabgesetzt und auch in seinem Kredit, Erwerb und Fortkommen gefährdet.

Der Beklagte wandte ein, weder der Tatbestand des § 1330 Abs 1 ABGB noch jener des Abs 2 seien erfüllt. Er habe nur eine politische Wertung im politischen Meinungsstreit vorgenommen. Vor allem in Wahlkampfzeiten sei nach ständiger Rechtsprechung zu Art 10 EMRK ein besonders großzügiger Bewertungsmaßstab anzulegen. Der Kläger habe selbst mit seiner Art Politik zu machen, in Vorarlberg "neue Maßstäbe" gesetzt. Wer so austeile wie der Kläger dürfe auch nicht wie eine Mimose reagieren. Mit "Schreier" sei politischer Populismus, vorgetragen in unüblich hartem Ton impliziert, die Bewertung des Klägers als braun/blau habe nur die Sorge des Beklagten ausgedrückt, es könnte in der Politik wiederum allzu weit nach rechts gehen. Das verwendete Wort "selbsternannt" sei nur eine Zitierung eines Wortes aus dem Lieblingsvokabular freiheitlicher Politiker.

Das Erstgericht gab dem Hauptbegehren statt. Es stellte noch fest, der Beklagte habe mit seiner Äußerung seine Angst vor Strömungen in der FPÖ im Zusammenhang mit Flüchtlingen, Ausländern, Arbeitslosen usw zum Ausdruck bringen wollen; er habe sich mit dem Vorwurf von "Nazigedankengut" konfrontiert gesehen, es könne nicht festgestellt werden, daß der Kläger nationalsozialistisches Gedankengut vertrete oder verteidige. Rechtlich führte es aus, unter dem Begriff "braun" verstehe ein unbefangener Durchschnittsleser auch mit geringen Geschichtskenntnissen nationalsozialistisches Gedankengut bzw nationalsozialistische Politik. Durch das Anfügen des Adjektives "blau" sei dieser Eindruck nicht zu beseitigen. Durch den Ausdruck "Schreier" werde dieser Eindruck noch verstärkt, weil mit der Gewaltherrschaft des nationalsozialistischen Regimes auch Reden von Parteibonzen verbunden gewesen seien, für welche der Ausdruck demagogisches Geschrei passend wäre. Die Bezeichnung des Klägers als braun/blauer Schreier sei daher kein reines Werturteil, sondern zumindest konkludente Tatsachenbehauptung im Sinne des § 1330 Abs 2 ABGB. Der Wahrheitsbeweis sei dem Kläger nicht gelungen. Die Äußerung sei auch eine Ehrenbeleidigung im Sinne des § 1330 Abs 1 ABGB. Der Beklagte könne sich auch nicht auf Art 10 EMRK berufen, weil die Äußerung über die dort gewährleistete Rede und Meinungsfreiheit hinausgehe.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Beklagten keine Folge.

Dem Erstgericht sei beizupflichten, daß ein unbefangener Adressat das Attribut "braun" im politischen Sprachgebrauch als eine Bezeichnung für "nationalsozialistisch" verstehe. Die Begriffsverbindung "braun/blau" sei geeignet, den Eindruck zu erwecken, daß nationalsozialistisches Gedankengut und freiheitliche Politik in einem Zusammenhang stünden. Die Bezeichnung des Beklagten als "Schreier" oder auch als "blauer Schreier" in der politischen Auseinandersetzung wäre weder eine Ehrenbeleidigung im Sinne des § 1330 Abs 1 ABGB noch eine Tatsache, die Kredit, Erwerb oder Fortkommen gefährde, nach Abs 2 leg cit. Die Bezeichnung des Klägers als "braun/blauer Schreier" könne aber vom Adressaten nur so verstanden werden, daß der Kläger mit großer Lautstärke nicht nur freiheitliches (blaues), sondern auch nationalsozialistisches (braunes) Gedankengut vertrete und verbreite. Der Beklagte habe die inkriminierte Äußerung nicht an eine konkrete Tatsache angeknüpft, sondern erst im Zuge des Verfahrens konkrete Behauptungen zur Tätigkeit des Klägers aufgestellt. Seine Äußerung gehe daher über ein bloßes Werturteil hinaus. Es sei nicht auszuschließen, daß ein unbefangener Durchschnittsleser oder Hörer zur Auffassung gelange, der Kläger habe sich im Sinne des § 3g Verbotsgesetz betätigt, es liege somit eine zumindest konkludente Tatsachenbehauptung vor. Die Wiederholungsgefahr sei schon durch die Bestreitung im Prozeß gegeben. Die Tatbestände des § 1330 Abs 1 und Abs 2 ABGB seien daher erfüllt.

Das Berufungsgericht sprach aus, daß der Wert des Entscheidungsgegenstandes S 50.000 übersteige und im Hinblick auf die vom EGMR vertretene Rechtsmeinung zu Werturteilen und der Unmöglichkeit des Wahrheitsbeweises bei Werturteilen und auf das Fehlen einer Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes im Zusammenhang mit "braun/blau" die ordentliche Revision zulässig sei.

Der Beklagte bekämpft dieses Urteil mit Revision. Er macht unrichtige rechtliche Beurteilung geltend und beantragt die Abänderung durch gänzliche Abweisung des Klagebegehrens.

Der Kläger erstattete eine Revisionsbeantwortung. Er beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig und berechtigt.

Der erkennende Senat hat in seiner Entscheidung 6 Ob 18/94 ausführlich dargelegt, daß ohne Äußerungen konkurrierender politischer Parteien in der heutigen Mediengesellschaft die Meinungsbildung unter den Wahlberechtigten nicht mehr wirksam zu beeinflussen ist und eine derartige Einflußnahme für einen möglichst uneingeschränkten Gedanken-, Ideen- und Argumentationsaustausch in einem der Demokratie verpflichteten Staatswesen unerläßlich ist. In der mittelbaren Demokratie bedarf es nicht nur eines rechtlichen Schutzes für die Rede- und Argumentationsfreiheit der Abgeordneten in ihrem Vertretungskörper durch Immunitätsbestimmungen, sondern darüber hinaus auch einer Gewährleistung der unbehinderten Rede- und Argumentationsfreiheit, insbesondere der Vertreter politischer Gruppen in der Kommunikation mit dem Bürger. Das rechtliche Interesse an einer möglichst freizügigen Informationsfreiheit muß in einer der mittelbaren Demokratie verpflichteten Staatsordnung als wesensimmanent erkannt werden. Der politischen Äußerung ist deshalb im Rahmen des Rechtes der freien Meinungsäußerung gemäß Art 10 EMRK ein überaus hoher Stellenwert beizumessen. Die durch diese Bestimmung verbriefte Freiheit steht unter einem eingeschränkten Gesetzesvorbehalt und damit in einem Spannungsfeld zur gesetzlich anerkannten Sphäre der Persönlichkeit einer Person. Bei der in solchen Fällen für das Rechtswidrigkeitsurteil erforderlichen Interessenabwägung ist es vor allem geboten, die (politische) Bedeutung der die eigene Sicht und Haltung ausdrückenden Stellungnahme des Äußernden, insbesondere im Zusammenhang mit dem (politischen) Verhalten des von der Äußerung Betroffenen, die dem Anlaßfall und der Bedeutung des Aussageinhaltes angepaßte Form und Ausdrucksweise sowie danach das Verständnis des mit der Äußerung angesprochenen und erreichbaren Empfängerkreises vom Erklärungswert zu erfassen.

Unter diesem Gesichtspunkt ist die vom Beklagten in einer Wahlkampfzeit in seiner politischen Erklärung gebrauchte Wendung "Ich habe Angst von selbsternannten FPÖ-Führern wie Jörg H*****, Ewald S*****, Reinhard B***** und anderen braun/blauen Schreiern bevormundet zu werden" als Kundgabe der eigenen Auffassung des Beklagten über die politische Unvertretbarkeit des Verhaltens der Spitzenkandidaten der gegnerischen Partei in Bund und Land (darunter auch des Klägers) zu erkennen, um sich politisch deutlich von ihnen abzugrenzen. Nach dem vermittelten Gesamteindruck der beanstandeten Äußerung, die im Rahmen eines Interviews für eine Zeitungsserie "Unsere Politiker einmal anders", also zur eigenen Profilierung und Abgrenzung vom politischen Gegner gefallen ist und keineswegs im Zusammenhang mit irgendwelchen, von den Adressaten als nationalsozialistisch zu verstehenden bestimmten Äußerungen oder Handlungen etwa im Sinne des § 3 Verbotsgesetz, ist aber von einem Werturteil ohne Tatsachenkern auszugehen. Der unbefangene durchschnittliche Leser eines Politikerinterviews in Wahlkampfzeiten wird aus diesem Werturteil "selbsternannter braun/blauer Schreier" bei der für parteipolitische mediale Auseinandersetzungen üblich gewordenen Ausdrucksform nicht auf ein unehrenhaftes oder gar dem Verbotsgesetz unterfallendes Verhalten des genannten gegnerischen Spitzenpolitikers schließen, sondern nur, daß dieser nach Ansicht des interviewten Politikers am "äußersten rechten Rand" der politischen Szene angesiedelt wird (braun/blau) und seine politischen Ziele lautstark, in unüblich hartem Ton (Schreier) verfolgt. Die Kenntnis, daß der gegnerische Politiker durch demokratische Wahlen in eine politische Funktion gelangt und nicht "selbsternannt" ist, - diese Beifügung dient nur der Pointierung und Unterstreichung der Ansicht des Äußernden -, aber muß jedem durchschnittlichen Leser unterstellt werden und kann bei der gebotenen Interessenabwägung doch nicht als ehrenrührig im Sinne des § 1330 Abs 1 ABGB angesehen werden.

Es ist daher weder der Tatbestand des § 1330 Abs 2 ABGB noch, weil ein politischer Wertungsexzeß nicht anzunehmen ist, jener des § 1330 Abs 1 ABGB gegeben, so daß sowohl das Hauptbegehren als auch die beiden Eventualbegehren abzuweisen waren.

Eine Replik des Rechtsmittelwerbers auf die Rechtsmittelbeantwortung ist im Gesetz nicht vorgesehen.

Der Ausspruch über die Kosten beruht auf den §§ 41 und 50 ZPO.

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