Spruch:
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Der Kläger ist schuldig, der beklagten Partei die mit 3.805,20 S bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin 634,20 S Umsatzsteuer) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Der Kläger war seit 14.Juni 1948 bei der beklagten Partei als Angestellter beschäftigt. Auf dieses Dienstverhältnis ist der Kollektivvertrag für Angestellte der Versicherungsunternehmen - Innendienst (im folgenden: KVI) anzuwenden. Der Kläger war vom November 1981 bis Juli 1982 Obmann des Betriebsrates und sodann bis zur Niederlegung seines Betriebsratsmandates am 6.November 1984 einfaches Betriebsratsmitglied. Der Kläger war als Betriebsratsmitglied ab November 1981 in den Aufsichtsrat der beklagten Partei entsandt; diese Funktionsperiode lief Ende 1984 aus. Im Zuge seiner Tätigkeit im Aufsichtsrat der beklagten Partei erhielt der Kläger die Berichte des Wirtschaftsprüfers für die Jahre 1982 und 1983; er gab diese Unterlagen an Außenstehende weiter, so daß sie dem Journalisten Ing.Alfred W***** zugänglich wurden.
Dieser richtete am 20.November 1984 folgendes Schreiben an den Generaldirektor der beklagten Partei:
"Mir wurden am heutigen Tag schlüssige Unterlagen aus dem Bereich der D*****-Autohaftpflichtversicherung vorgelegt, denenzufolge in der Bilanz 1982 schwere Manipulationen vorgenommen wurden. Ich bitte Sie höflich, mit mir ein Gespräch in dieser Sache zu führen. Die diesbezügliche Geschichte erscheint im P***** 49/84. Ich würde gerne Ihre Stellungnahme miteinbeziehen. Soferne ich vor Redaktionsschluß (Mittwoch, 28.11.1984) keine Antwort von Ihnen erhalte, darf ich annehmen, daß Sie mit der Veröffentlichung ohne Ihre Stellungnahme einverstanden sind."
Es kam dann am 26.November 1984 zu einer Besprechung in den Räumen der beklagten Partei, an der Ing.Alfred W*****, der Generaldirektor der beklagten Partei, der Geschäftsführer der mit der Prüfung der beklagten Partei betrauten Wirtschaftsprüfungsgesellschaft und ein von der beklagten Partei beigezogener Rechtsanwalt teilnahmen. Bei dieser Unterredung hatte Ing.Alfred W***** Originalexemplare der Prüfberichte für die Jahre 1982 und 1983 mit. Unmittelbar nach dieser Besprechung wurde anhand der Verteilerliste festgestellt, daß es sich um die Exemplare des Klägers handelte.
Am 28.November 1984 wurde dem Kläger folgendes Schreiben ausgehändigt:
"Es besteht der Verdacht, daß Sie Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse unserer Gesellschaft an Personen weitergegeben haben, die nicht unserer Gesellschaft angehören. Es wird Ihnen zur Last gelegt, dadurch eine Verletzung von Dienstpflichten (Wahrung von Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen, der Verschwiegenheitspflicht sowie des Datenschutzgesetzes) begangen zu haben. Der Vorstand hat beschlossen, aus diesem Grund gegen Sie gemäß § 24 KVI ein Disziplinarverfahren einzuleiten. Für die Dauer des Disziplinarverfahrens werden Sie gemäß § 32 KVI vom Dienst suspendiert. Es wird Ihnen ab sofort untersagt, ohne ausdrückliche schriftliche Aufforderung durch die Geschäftsleitung die Geschäftsräumlichkeiten der D***** zu betreten. Sollten Sie Ihnen persönlich gehörende Gegenstände in ihrem Dienstzimmer haben, werden Ihnen diese über Wunsch ausgefolgt. Herr Prokurist Dr.H***** wurde mit der Führung der Vorerhebungen betraut. Er wird sich wegen Ihrer Einvernahme mit Ihnen in Verbindung setzen. Eine Kopie dieses Briefes erhält gleichzeitig der Betriebsrat."
Am 28.November 1984 wurde das Disziplinarverfahren gegen den Kläger mit seiner Vernehmung als Disziplinarbeschuldigter eingeleitet und der Betriebsratsobmann hievon noch am selben Tag verständigt. Mit Beschluß vom 12.Dezember 1984 nominierte der Betriebsrat zwei seiner Mitglieder für die Disziplinarkommission und informierte hievon noch am selben Tag den Vorstand der beklagten Partei. Als Vorsitzenden schlug der Betriebsrat den Senatspräsidenten des OLG Wien iR Dr.Friedrich H***** vor. Mit diesem Vorsitzenden waren auch die beiden von der beklagten Partei nominierten Kommissionsmitglieder einverstanden. Nach einem den Vorschriften des KVI entsprechenden Disziplinarverfahren erkannte die Disziplinarkommission den Kläger des ihm zur Last gelegten Dienstvorgehens schuldig und schlug die strafweise Entlassung des Klägers ohne Abfertigung vor. Daraufhin wurde von der beklagten Partei am 23.April 1985 die Entlassung des Klägers ohne Abfertigung mit der Begründung ausgesprochen, daß der Kläger die Prüfungsberichte über die Jahresabschlüsse 1982 und 1983 einer außenstehenden Person überlassen habe. Der Obmann des Betriebsrates wurde von der Entlassung unter Anschluß des Disziplinarerkenntnisses verständigt.
Der Kläger begehrt die Feststellung des aufrechten Bestandes des Dienstverhältnisses zur beklagten Partei über den 23.April 1985 hinaus. Er sei zu Unrecht entlassen worden. Die gegen ihn erhobenen Anschuldigungen entsprächen nicht den Tatsachen. Das Disziplinarverfahren sei nichtig, weil weder die Bestimmungen des AVG noch jene des KVI eingehalten worden seien. Schließlich liege keine Zustimmung des Betriebsrates zur Entlassung gemäß § 102 ArbVG vor.
Die beklagte Partei beantragte die Abweisung des Klagebegehrens. Das Disziplinarverfahren sei unter Einhaltung der kollektivvertraglichen Bestimmungen durchgeführt worden. Da der Kläger sein Betriebsratsmandat am 6.November 1984 niedergelegt habe, sei zum Zeitpunkt der Entlassung des Klägers im April 1985 die dreimonatige Schutzfrist bereits abgelaufen gewesen.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Der Kläger sei wegen des Geheimnisverrates durch Weitergabe der Prüfungsberichte der Jahre 1982 und 1983 strafgerichtlich verurteilt worden; auch die Disziplinarkommission habe zutreffend erkannt, daß der Kläger die ihm anvertrauten Unterlagen weitergegeben habe. Das Disziplinarverfahren sei strikt nach den Vorschriften des Kollektivvertrages durchgeführt worden. Der Betriebsrat habe in der im Kollektivvertrag vorgesehenen Weise durch Entsendung von zwei Mitgliedern in die Disziplinarkommission am Disziplinarverfahren mitgewirkt.
Das Berufungsgericht bestätigte das Urteil des Erstgerichtes. Da der Betriebsrat zwei Mitglieder in die Disziplinarkommission entsandt habe und überdies über Vorschlag des Betriebsrates der Vorsitzende der Kommission bestellt worden sei, handle es sich bei dieser Kommission um eine mit Zustimmung des Betriebsrates eingerichtete Stelle im Sinne des § 102 ArbVG. Überdies seien Kündigungen und Entlassungen auch dann nicht als Disziplinarmaßnahmen im Sinne des § 102 ArbVG anzusehen, wenn sie im Einzelfall in einer Disziplinarordnung als Disziplinarstrafen vorgesehen seien. Soweit der Kläger in der Berufung auf den Bestandschutz nach den §§ 120 ff ArbVG Bezug nehme, sei ihm zu erwidern, daß infolge Niederlegung des Betriebsratsmandates am 6.November 1984 zum Zeitpunkt der Entlassung am 23.April 1985 die Schutzfrist längst abgelaufen gewesen sei.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, es im Sinne der Stattgebung des Klagebegehrens abzuändern.
Die beklagte Partei beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist nicht berechtigt.
Nach herrschender Auffassung ist dafür, ob ein Arbeitnehmer den besonderen Schutz nach den §§ 120 ff ArbVG genießt, der Zeitpunkt maßgebend, in dem die Kündigung oder Entlassung zugeht (siehe Floretta in Floretta/Strasser, Handkommz ArbVG, 818 und 836; derselbe in Floretta/Spielbüchler/Strasser, Arbeitsrecht3 I 286 und 317; vgl DRdA 1983/6 [krit Löschnigg]). Diese Aussage ist wohl nur auf das einzuhaltende Verfahren, nicht aber auch auf die Entlassungsgründe zu beziehen, weil die materiellen Rechtsfolgen eines Verhaltens nach der Rechtslage im Zeitpunkt seiner Verwirklichung zu beurteilen sind. Hingegen hat die besondere verfahrensrechtliche Gestaltung des Kündigungs- und Entlassungsschutzes nach den §§ 120 ff ArbVG den Zweck, sicherzustellen, daß die gewählten Interessenvertreter der Arbeitnehmer im Betrieb ihre gesetzlichen Aufgaben tatsächlich erfüllen können (siehe Kuderna, Einige Probleme des besonderen Kündigungsschutzes, DRdA 1990, 1 ff [16]). Da auch eine ungerechtfertigte Entlassung nach herrschender Auffassung das Arbeitsverhältnis mit sofortiger Wirkung beendet (siehe Kuderna aaO 6 ff; derselbe Entlassungsrecht2 36; Floretta in Floretta/Spielbüchler/Strasser, Arbeitsrecht3 I 310), würde die bloße Anfechtbarkeit der Entlassung im Rahmen des allgemeinen Kündigungs- und Entlassungsschutzes zur Sicherstellung der im ArbVG verankerten Mitbestimmungsmöglichkeiten der Belegschaft nicht ausreichen, weil in diesem Fall das Arbeitsverhältnis bis zur Entscheidung des Gerichtes unterbrochen ist und das gewählte Betriebsratsmitglied während dieses Zeitraumes an der aktiven Ausübung der Vertretung der Interessen der Belegschaft gehindert wäre (siehe Schwarz in Cerny/Haas-Laßnigg/Schwarz, Arbeitsverfassungsrecht 3 § 120 Erl 2). Mit Beendigung der Funktion entfällt daher auch die Notwendigkeit, die unbehinderte Ausübung der betriebsverfassungsrechtlichen Aufgaben durch ein besonderes Verfahren zu gewährleisten. Daß der Gesetzgeber den besonderen Schutz nach den §§ 120 ff ArbVG auch noch während einer weiteren dreimonatigen "Abkühlungsfrist" gewährt, spricht nicht gegen diesen primären Zweck der Gestaltung des besonderen Kündigungs- und Entlassungsschutzes, sondern soll zusätzlich verhindern, daß der Arbeitgeber unmittelbar nach Beendigung des Mandates eine sofortige Lösung des Arbeitsverhältnisses herbeiführen kann. Auch dieser Zweck gebietet es nicht, das besondere Verfahren nach den §§ 120 ff ArbVG auf eine nach Ablauf der Schutzzeit zugehende Auflösungserklärung anzuwenden, da auch dann eine wirksame Beendigung während der "Abkühlungsperiode" (siehe Floretta in Floretta/Spielbüchler/Strasser, Handkommz ArbVG 813) nicht erfolgt ist. Die vorliegende Entlassungserklärung ist daher, was ihre Wirksamkeit betrifft, nicht anders zu beurteilen als wäre sie gegenüber einem auch in der Vergangenheit nicht nach den §§ 120 ff ArbVG besonders geschützt gewesenen Arbeitnehmer ausgesprochen worden. Die Entlassung muß, um rechtzeitig zu sein, ohne Verzug ausgesprochen werden; bildete die Ursache für das Zuwarten des Arbeitgebers mit der Entlassungserklärung die vorherige Durchführung eines kollektivvertraglich vorgesehenen Disziplinarverfahrens, dann konnte der Arbeitnehmer dieses Verhalten des Arbeitgebers bei objektiver Betrachtungsweise weder als Verzicht auf das Entlassungsrecht werten, noch ließ der Arbeitgeber erkennen, daß er die Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers nicht als unzumutbar auffaßte (siehe Kuderna, Entlassungsrecht2 14 f), zumal das Disziplinarverfahren unverzüglich eingeleitet und eine ungebührliche Verzögerung durch die beklagte Partei weder behauptet noch bewiesen wurde (vgl Kuderna aaO 15).
Die strittige Frage, ob die nach ständiger Rechtsprechung nicht als "Disziplinarmaßnahme" im Sinne des § 102 ArbVG anzusehende Entlassung, die daher auch nicht als Disziplinarstrafe nach einer gemäß § 96 Abs 1 Z 1 ArbVG oder durch Kollektivvertrag zustande gekommenen Disziplinarordnung sein kann (vgl Strasser in Floretta/Spielbüchler/Strasser, Arbeitsrecht3 II 348 f), dennoch gemäß § 2 Abs 2 Z 2 ArbVG als Beschränkung des dem Arbeitgeber zustehenden Entlassungsrechtes vom Spruch einer Disziplinarkommission abhängig gemacht werden kann (vgl DRdA 1990/9 [krit Jabornegg]) oder ob als einschlägige Mitbestimmungsregelung nur § 106 iVm § 105 ArbVG und nicht § 102 ArbVG oder ein dazwischenliegendes, im Gesetz überhaupt nicht vorgesehenes Mitbestimmungsmodell in Betracht kommt (Jabornegg aaO 120 ff, 122; derselbe, Grenzen kollektivvertraglicher Rechtssetzung und richterliche Kontrolle, JBl 1990, 205 ff [211]) kann im vorliegenden Fall dahingestellt bleiben, weil auch bei Annahme der - vom Kläger nicht geltend gemachten - Nichtigkeit der diesbezüglichen kollektivvertraglichen Regelung das Verhalten der beklagten Partei aus der Sicht des Klägers nicht anders zu werten wäre.
Zur Argumentation des Revisionswerbers schließlich, es fehle an der gemäß § 102 ArbVG erforderlichen Zustimmung des Betriebsrates, ist nur darauf hinzuweisen, daß für Kündigungen und Entlassungen besondere Vorschriften gelten, so daß sie nicht als Disziplinarmaßnahme nach § 102 ArbVG anzusehen sind (ZAS 1985/14 [Mayer-Maly] = DRdA 1986/1 [Schwarz]; DRdA 1990/9 [Jabornegg] = Arb 10.606; auch DRdA 1995/23 [zust.Strasser] ua).
Der Revision war daher ein Erfolg zu versagen.
Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens beruht auf den §§ 41, 50 Abs 1 ZPO.
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