OGH 15Os111/95(15Os114/95)

OGH15Os111/95(15Os114/95)18.8.1995

Der Oberste Gerichtshof hat am 18.August 1995 durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofes Dr.Kuch als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Strieder und Dr.Rouschal als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters Dr.Pesendorfer als Schriftführer, in der beim Landesgericht für Strafsachen Wien zum AZ 5 b E Vr 3658/95-Hv 2152/95 anhängigen Strafsache gegen Dr.Renate F***** und Franjo M***** wegen des Verbrechens der absichtlichen schweren Körperverletzung nach § 87 Abs 1 StGB als Beteiligte nach § 12 zweiter Fall StGB und anderer strafbarer Handlungen über die Grundrechtsbeschwerden der Angeklagten gegen den Beschluß des Oberlandesgerichtes Wien vom 17.Juli 1995, AZ 23 Bs 274, 275/95, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

1. Dr.Renate F***** und Franjo M***** wurden im Grundrecht auf persönliche Freiheit nicht verletzt.

Die Beschwerden werden, soweit sie sich gegen die Annahme des Haftgrundes der Fluchtgefahr gemäß § 180 Abs 2 Z 1 StPO wenden, abgewiesen.

2. Soweit sich die Beschwerden (auch) gegen die (kumulative) Anwendung gelinderer Mittel nach § 180 Abs 5 Z 1, 3, 4, 5 und 6 StPO zusätzlich zur auferlegten Sicherheitsleistung (§ 180 Abs 5 Z 7 StPO) wenden, werden sie zurückgewiesen.

Text

Gründe:

Mit (noch nicht rechtskräftigem) Urteil der Einzelrichterin des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 29.Juni 1995, GZ 5 b E Vr 3658/95-95, wurden Dr.Renate F***** und Franjo M***** der Verbrechen der absichtlichen schweren Körperverletzung nach § 87 Abs 1 StGB als Beteiligte nach § 12 zweiter Fall StGB (B.2.) und der versuchten schweren Nötigung nach §§ 15, 105 Abs 1, 106 Abs 1 Z 1 und 2 StGB (B.1.), Franjo M***** überdies als Bestimmungstäter (§ 12 zweiter Fall StGB) zum Vergehen der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB (A.) schuldig erkannt und zu Freiheitsstrafen von zweieinhalb Jahren (Dr.F*****) und drei Jahren (Franjo M*****) verurteilt.

Danach haben (zusammengefaßt wiedergegeben) in Z*****, und zwar (zu A.) Franjo M***** allein im Herbst und Winter 1993 durch die Zusage einer Belohnung in Höhe von mehreren Millionen sowie durch die Aufforderung, den Rechtsanwalt Dr.A***** F***** in Wien zu "verprügeln", die abgesondert verfolgten Adrian T***** und Mauro T***** zum Vergehen der Körperverletzung bestimmt, wobei Dr.F***** am 21. April 1994 auf offener Straße von T***** mittels eines Elektroschockgerätes sowie durch Fußtritte und Faustschläge (leicht) verletzt wurde; ferner (zu B.1.) Dr.Renate F***** und Franjo M***** Ende April 1994 im bewußten und gewollten Zusammenwirken als Mittäter danach getrachtet, durch gefährliche Drohung mit dem Tode und durch Gewalt Dr.A***** F***** zur Herausgabe des von ihm verwahrten (nach Meinung Dr.F*****s ihr zustehenden) Geldes sowie zu einem stärkeren Entgegenkommen bei den (laufenden) Vermögensverhandlungen zwischen den Eheleuten F***** zu bewegen, indem Dr.F***** einen Drohbrief konzipierte und Adrian T***** veranlaßte, dessen Reinschrift von P***** aus an Dr.A***** F***** zu senden, M***** einerseits durch die zu Punkt A. beschriebene Attacke, andererseits indem er Dr.F***** mit Adrian T***** zusammenbrachte und deren Plan mit dem Drohbrief guthieß, sowie (zu B.2.) Dr.Renate F***** und Franjo M***** die abgesondert verfolgten Adrian T***** und Mauro T***** dazu bestimmt, Dr.A***** F***** absichtlich schwer zu verletzen, indem Dr.F***** Ende April 1994 und am 12.Jänner 1995 die unter Punkt A. geschilderte Attacke als ungenügend kritisierte und äußerte, es müsse ein Schuß in das Knie des Dr.F*****, also eine schwere, bleibende Verletzung sein, an die er immer denke, M*****, indem er von Sommer bis Winter 1994 dem Adrian T***** 11.000 sfr für geleistete Dienste bezahlte, ihm eine weitere Belohnung in Millionenhöhe in Aussicht stellte und ihn wiederholt drängte, in der Sache mit der schweren Verletzung des Dr.F***** weiterzumachen und das geplante Attentat endlich durchzuführen, wobei Mauro T***** am 20.Februar 1995 in einer Wiener Konditorei den Dr.A***** F***** tatsächlich durch zwei Revolverschüsse aus nächster Nähe schwer verletzte.

Die zuletzt in Spanien wohnhaft gewesene österreichische Staatsbürgerin Dr.Renate F***** wurde am 27.Februar 1995 anläßlich ihrer freiwilligen Vorsprache im Sicherheitsbüro der Bundespolizeidirektion Wien festgenommen (267, 281/III) und am 1.März 1995 aus den Haftgründen des § 180 Abs 2 Z 2 und 3 lit b und d StPO in Untersuchungshaft genommen (1, 23/III iVm ON 29), die zunächst in der Haftverhandlung des Untersuchungsrichters vom 9.März 1995 gemäß § 180 Abs 2 Z 2 und 3 lit a, c und d StPO - mit Wirksamkeit bis längstens 10.April 1995 - (ON 35 und 36) und nach Abweisung eines (in der Hauptverhandlung vom 6.April 1995 wiederholten - 522 f/III) Enthaftungsantrages vom 15.März 1995 (ON 43) durch die Erkenntnisrichterin am 7.April 1995 (nach Entfall der Verdunkelungsgefahr infolge Zeitablaufs) aus den Haftgründen der Flucht-, Tatbegehungs- und Ausführungsgefahr nach § 180 Abs 2 Z 1 und 3 lit b und d StPO fortgesetzt wurde.

Der gleichfalls in Spanien aufhältig gewesene und am 25.Februar 1995 freiwillig zur Einvernahme erschienene slowenische Staatsangehörige Franjo M***** wurde im Anschluß daran von Beamten des Sicherheitsbüros der Bundespolizeidirektion Wien festgenommen (91, 99/II); am 27.Februar 1995 wurde über ihn die Untersuchungshaft aus den Haftgründen der Flucht-, Verdunkelungs- und Tatbegehungsgefahr nach § 180 Abs 2 Z 1, 2 und 3 lit a StPO verhängt (§ 139/II iVm ON 17), die in der Haftverhandlung des Untersuchungsrichters vom 9.März 1995 (nur mehr) gemäß § 180 Abs 2 Z 2 und Z 3 lit a, c und d StPO - mit Wirksamkeit bis längstens 10.April 1995 - fortgesetzt wurde (ON 37, 38).

Im Anschluß an die Urteilsverkündung beantragte der Verteidiger der Angeklagten Dr.F***** deren Enthaftung gegen Erlag "einer Kaution von 500.000 S oder in der vom Gericht zu bestimmenden Höhe sowie Ablegung eines Gelöbnisses". Diesem Antrag schloß sich der Verteidiger des Angeklagten M***** mit einem Kautionsangebot von 300.000 S an (78/V). In Übereinstimmung mit der negativen Stellungnahme des Anklagevertreters wies die Erkenntnisrichterin beide Anträge "aus dem Grund der Fluchtgefahr" ab und führte unter anderem aus, daß "keine Kaution oder Ablegung eines Gelöbnisses als gelinderes Mittel ausreichend" sei (79/V iVm ON 99 und 100).

Rechtliche Beurteilung

Mit dem angefochtenen Beschluß vom 17.Juli 1995, AZ 23 Bs 274,275/95 (= ON 105 des Vr-Aktes) gab das Oberlandesgericht Wien den dagegen ergriffenen Beschwerden der Angeklagten Folge, hob die über sie verhängte Untersuchungshaft "gegen Anwendung gelinderer Mittel nach dem § 180 Abs 5 Z 1, 3, 4, 5, 6 und 7 StPO" auf und trug der Erstrichterin die Entscheidung über die Höhe der Sicherheitsleistung gemäß § 190 Abs 1 StPO auf.

In ihren (fristgerecht und getrennt) erhobenen Grundrechtsbeschwerden erachten sich die (weiterhin in Untersuchungshaft einsitzenden) Angeklagten in ihrem Grundrecht auf persönliche Freiheit dadurch verletzt, daß das Beschwerdegericht

1. trotz Vorliegens der gesetzlichen Voraussetzungen des § 180 Abs 3 erster Satz StPO für die (fallbezogen zwingende) Nichtannahme der Fluchtgefahr nach § 180 Abs 2 Z 1 StPO diesen Haftgrund dennoch und zudem ohne Anführung bestimmter Tatsachen heranzog, obwohl sie nie Anstalten zur Flucht gemacht, sich vielmehr den Sicherheitsbehörden in Wien freiwillig gestellt hätten;

2. ihnen zusätzlich zur Kaution die gelinderen Mittel nach § 180 Abs 5 Z 1, 3 bis 6 StPO auferlegte.

Soweit sich die Grundrechtsbeschwerden gegen die Annahme des Haftgrundes der Fluchtgefahr richten (1.), sind sie zwar zulässig, aber nicht begründet, im übrigen (2.) jedoch unzulässig.

Die (den dringenden Tatverdacht als gegeben ansehenden) Beschwerdeausführungen vermögen den sich an der Aktenlage orientierenden, durchaus schlüssigen und unbedenklichen Argumenten des Gerichtshofes zweiter Instanz nichts entgegenzustellen, was gegen dessen konkrete Befürchtung spricht, die Angeklagten könnten im Falle ihrer Enthaftung wegen des Mangels sozialer Integration im Inland und angesichts der über sie (wenngleich noch nicht rechtskräftig) verhängten mehrjährigen Freiheitsstrafen flüchten und sich im Ausland verborgen halten.

Dr.Renate F***** selbst hat dargelegt, sie und ihr Ehegatte hätten im Juni 1991 ihren persönlichen und wirtschaftlichen Lebensbereich von G***** nach Z***** verlegt, weil sie in Österreich von den Steuerbehörden verfolgt wurden; nachdem sie sich mit ihrem Mann vollends überworfen habe, sei sie am 19.Juli 1994 allein von Zürich nach Spanien gezogen, wo sie sich bis zuletzt an einem Ort aufhielt, dessen (unüberprüfte) Anschrift sie den Behörden bis zur Hauptverhandlung am 29.Juni 1995 beharrlich und ohne plausiblen Grund verschwieg (21, 498/III; 47/V).

Zu diesen nach Lage des Falles an sich schon ausreichenden "bestimmten Tatsachen" für die Annahme der Fluchtgefahr kommt noch hinzu, daß gewichtige Verfahrensergebnisse darauf hinweisen, daß die Beschwerdeführerin (teilweise allein) Zugriff auf namhafte Kontenbeträge in G*****, L***** und G***** hat (vgl zB BV Dr.F*****:

482 f, 486/III, 48, 250/IV; ZV Dr.F*****: 21, 23 f/IV; ZV Dipl.Ing.F*****: 35 f/IV) und sie befürchtet, daß in dem auch gegen sie geführten Finanzstrafverfahren noch etliches auf sie zukommen wird (BV Dr.F*****: 47/IV).

Berücksichtigt man überdies die (inhaltlich des noch nicht rechtskräftigen Urteils erster Instanz festgestellten) seit Jahren in und außerhalb von Österreich mit aller Vehemenz, zuletzt sogar mit erschreckend brutalem und kriminellem Engagement geführten familiären und vermögensrechtlichen Auseinandersetzungen zwischen Dr.Renate und Dipl.Ing.Alfred F*****, kann im Sinne der Kontraindikation des § 180 Abs 3 erster Satz StPO von "geordneten Lebensverhältnissen" nicht die Rede sein; ganz davon zu schweigen, daß Dr.F***** (zugegebenermaßen) "keinen festen Wohnsitz im Inland hat", vielmehr einen solchen erst begründen müßte, indem sie "bei ihren Eltern unter der Anschrift 8010 Graz, Kasernstraße 43, jederzeit wohnen kann".

Zufolge dieser spezifischen Sachkonstellation kommt aber der in der Beschwerde zu ihren Gunsten ins Treffen geführten seinerzeitigen "Selbststellung" Dr.F*****s und der Tatsache, daß im Vorverfahren nie Fluchtgefahr als Haftgrund herangezogen wurde, keine entscheidende Bedeutung zu, weil ihr freiwilliges Erscheinen bei den Sicherheitsbehörden am 27.Februar 1995 unter ganz anderen Umständen erfolgt ist und sich gravierende Anhaltspunkte für die Annahme der Fluchtgefahr erst im Laufe des Verfahrens herauskristallisiert haben.

Die Beschwerde des Franjo M***** hinwieder teilt zwangsläufig das Schicksal jener der Mitangeklagten Dr.F*****, weil er seine im § 180 Abs 3 StPO geforderte "soziale Integration" ausschließlich auf die "Lebensgemeinschaft mit einer österreichischen Staatsbürgerin, die intensivste Inlandsbeziehungen hat", gründet, "womit (nach seiner verfehlten Meinung) solche auch beim Beschwerdeführer vorliegen". Da sich Dr.F***** - wie dargelegt - weder in geordneten Verhältnissen befindet noch einen festen Wohnsitz im Inland hat, kann die Frage als nicht aktuell unerörtert bleiben, ob der - keinen Bezug zu Österreich aufweisende - slowenische Staatsangehörige M***** die Lebensgemeinschaft mit Dr.F***** auch im Falle der Enthaftung (in G*****) wirklich fortsetzen würde oder könnte.

Daß auch seiner unter den damaligen Umständen erfolgten "Selbststellung" nicht jene Bedeutung zukommt, die sich der Beschwerdeführer wünscht, ist der bekämpften Beschwerdeentscheidung zutreffend zu entnehmen.

Da sohin die (zureichend begründete) Annahme der Fluchtgefahr durch den Gerichtshof zweiter Instanz dem Gesetz entspricht und demnach Dr.Renate F***** und Franio M***** im Grundrecht auf persönliche Freiheit nicht verletzt sind, waren ihre Beschwerden insoweit ohne Kostenausspruch (§ 8 GRBG) abzuweisen.

2. Zur Anwendung gelinderer Mittel:

Nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes kommen die im Katalog des § 180 Abs 5 StPO taxativ aufgezählten gelinderen Mittel, die zwar die Bewegungsfreiheit einschränken, einer Verhaftung oder Festnahme nicht gleich; sie fallen daher nicht in den Schutzbereich des Grundrechtes auf persönliche Freiheit und können demnach im Grundrechtsbeschwerdeverfahren (der der Entscheidung zum AZ 11 Os 22/94 zugrundeliegende Fall ist hier nicht aktuell) nicht mit Erfolg angefochten werden.

Gemäß § 1 Abs 1 GRBG steht nämlich dem Betroffenen dann eine Grundrechtsbeschwerde an den Obersten Gerichtshof zu, wenn er durch eine strafgerichtliche Entscheidung oder Verfügung, die die Verhängung oder Aufrechterhaltung der Haft zum Gegenstand haben müssen, in seinem Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt ist. Beschwerdegegenstand kann demnach nur ein richterlicher Akt sein - wie Verhängung oder Aufrechterhaltung der Haft, darüber hinaus jede andere Art der gerichtlich veranlaßten Freiheitsbeschränkung, wie vorläufige Verwahrung, Beugehaft, Haft als Ordnungsstrafe bis hin zur zwangsweisen Vorführung -, der für eine Freiheitsbeschränkung im Sinn einer Festnahme oder Anhaltung ursächlich ist, was jedoch für die Anordnung gelinderer Mittel nach § 180 Abs 5 Z 1, 3 bis 6 StPO (ihrer Natur nach) nicht zutrifft (EvBl 1993/132, EvBl 1993/150 = RZ 1994/42; 11 Os 132/94, 11 Os 75/95, 15 Os 92/95; Mayrhofer/Steininger GRBG 1992 § 1 Rz 24 ff, 28, § 2 Rz 65).

Nach dem Gesagten sind daher die Grundrechtsbeschwerden im aufgezeigten Umfang unzulässig.

Ein in diesem Zusammenhang erhobener weiterer (nicht grundrechtsbeschwerdefähiger) Einwand, daß die wegen Verdachtes der Flucht verhängte Haft "nur gegen die angegebenen Sicherheiten (= Kaution oder Bürgschaft) auf Verlangen aufgehoben werden muß", wenn die strafbare Handlung (wie hier) nicht strenger als mit fünfjähriger Freiheitsstrafe bedroht ist, folglich den Beschwerdeführern vom Oberlandesgericht zusätzlich zur Kaution weitere gelindere Mittel nach § 180 Abs 5 StPO contra legem auferlegt worden seien, findet in § 190 Abs 1 StPO keine Deckung. Bei sinnvoller und verständiger Leseart ergibt sich schon aus dem Wortlaut "Sicherheiten" (vgl die Überschrift des XIV.Hauptstückes: "IV. Sicherheitsleistung .... " sowie die Wortwahl "Sicherheitsleistung" für die Kautions- oder Bürgschaftssumme im § 192 Abs 1 StPO), daß unter "angegebenen Sicherheiten" nicht bloß Kaution oder Bürgschaft gemeint sind, sondern auch die damit untrennbar verbundenen gelinderen Mittel des § 180 Abs 5 Z 1 und 2 StPO (vgl Foregger StPO9 Anm I zu § 190; Mayrhofer/Steininger aaO § 2 Rz 67).

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