OGH 15Os100/94

OGH15Os100/941.7.1994

Der Oberste Gerichtshof hat am 13.Juli 1994 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Reisenleitner als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Kuch und Dr.Schmucker als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Dr.Würzburger als Schriftführerin, in der beim Landesgericht Salzburg zum AZ 36 Vr 1901/93 anhängigen Strafsache gegen Salvatore L***** wegen des Verbrechens des versuchten Mordes nach §§ 15, 75 StGB und anderer strafbarer Handlungen über die Grundrechtsbeschwerde des Angeklagten gegen den Beschluß des Oberlandesgerichtes Linz vom 9.Juni 1994, AZ 9 Bs 197/94 (GZ 36 Vr 1901/93-234), nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Durch den angefochtenen Beschluß wurde Salvatore L***** im Grundrecht auf persönliche Freiheit nicht verletzt.

Die Beschwerde wird abgewiesen.

Text

Gründe:

Rechtliche Beurteilung

Salvatore L***** befindet sich (nach seiner Festnahme am 11.März 1993 in Brüssel und zwischenzeitiger Auslieferungshaft bis zur Einlieferung in das landesgerichtliche Gefangenenhaus Salzburg am 2. Juli 1993) seit 4.Juli 1993 aus dem Haftgrund des § 180 Abs 7 (180 Abs 1 und 2 Z 1) StPO in Untersuchungshaft (ON 49).

Die rechtswirksame Anklage der Staatsanwaltschaft Salzburg vom 13. Jänner 1994 (ON 145) wirft ihm vor, er habe am 2.Mai 1992 in Wagrein in bewußtem und gewolltem Zusammenwirken mit seinem abgesondert verfolgten Bruder Antoine L*****

1. Dani und Pedro N***** zu töten versucht, indem er Dani N***** mehrmals mit einem Messer Schnitt- und Stichverletzungen am linken Oberschenkel, der linken Hand, am Oberkörper und am Hals zufügte und mit einer Faustfeuerwaffe gegen dessen Kopf zielte und ihm einen Streifschußverletzung zufügte, während Antoine L***** Pedro N***** mit einem Schraubenschlüssel Stichwunden am Bauch und mit einem Messer Schnitt- und Stichverletzungen im Bereich des Halses zufügte,

2. mit Gewalt auf die unter Punkt 1. beschriebene Weise und unter Verwendung einer Waffe das Gepäck von Dani und Pedro N*****, in dem sich ca S 250.000 in verschiedenen Währungen befanden, mit dem Vorsatz weggenommen, sich durch die Zueignung unrechtmäßig zu bereichern;

3. einen Revolver unbekannter Marke, somit eine Faustfeuerwaffe unbefugt besessen und geführt und hiedurch

(zu 1.) die Verbrechen des versuchten Mordes nach §§ 15, 75 StGB, (zu 2.) das Verbrechen des schweren Raubes nach §§ 142 Abs 1, 143, zweiter Fall StGB und (zu 3.) das Vergehen nach § 36 Abs 1 Z 1 WaffG begangen zu haben.

Am 17.April 1994 (ON 193) und 19.Mai 1994 (ON 215) fanden jeweils Hauptverhandlungen statt, die zur Einvernahme weiterer (ausländischer) Zeugen bzw Verlesungen von im Rechtshilfeweg erwirkter Zeugenaussagen sowie Einholung eines Sachverständigengutachtens (nach Abberaumung des vorerst für 18. und 19. Juli 1994 anberaumten neuerlichen Termines) auf unbestimmte Zeit vertagt wurde.

Mit dem angefochtenen Beschluß gab das Oberlandesgericht Linz der Beschwerde des Angeklagten gegen den in der Hauptverhandlung am 19. Mai 1994 vom Schwurgerichtshof des Landesgerichtes Salzburg gefaßten Beschluß auf Abweisung des Antrages auf Aufhebung der Untersuchungshaft sowie Anordnung deren Fortdauer aus dem Haftgrund des § 180 Abs 1 und 7 (§ 180 Abs 1 und 2 Z 1) StPO (S 187, 189/IV) nicht Folge. Es erachtete den dringenden Tatverdacht - auch nach den Ergebnissen der Hauptverhandlung vom 7.April und 19.Mai 1994 - sowie den Haftgrund weiterhin für gegeben und verneinte die Unverhältnismäßigkeit der Haft ebenso wie die Anwendbarkeit gelinderer Mittel.

Dagegen richtet sich die vom Verteidiger fristgerecht erhobene Grundrechtsbeschwerde des Angeklagten, der eine Verletzung des Grundrechts auf persönliche Freiheit darin erblickt, daß "der Tatverdacht unrichtig beurteilt" worden sei, der Haftgrund der Fluchtgefahr nicht vorliege und überdies die Aufrechterhaltung der Haft im Hinblick auf ihre Dauer unverhältnismäßig geworden sei.

Die Grundrechtsbeschwerde ist nicht berechtigt.

Zutreffend leitete das Oberlandesgericht den dringenden Tatverdacht aus den Ergebnissen der bisherigen sicherheitsbehördlichen und gerichtlichen Erhebungen, und zwar insbesondere den Angaben der beiden Verletzten Dani und Pedro N***** (S 35/I f, 57/I f) in Verbindung mit deren Verletzungen und Schußspuren sowie den Ergebnissen des Gutachtens und der Ergänzungsgutachten des gerichtsmedizinischen Sachverständigen (ON 17, 104, 162, 115/IV f) ab. Dabei hat es die vom Beschwerdeführer abgelegte Verantwortung unter Hinweis auf die darauf eingehenden ergänzenden gutächtlichen Äußerungen des Sachverständigen ebensowenig unberücksichtigt gelassen wie die seine Einlassung, er sei den Anzeigern alleine gegenübergestanden, in einigen Punkten stützenden Zeugenaussagen.

Diesen gewichtigen Beweisergebnissen vermag der Angeklagte mit teils hypothetischen, teils rechtlichen Erwägungen sowie mit dem Hinweis auf seine (eine Notwehrsituation behauptende) Verantwortung und das ihn stützende Privatgutachten - trotz weitwendiger Beschwerdeausführungen - nichts Substantielles entgegenzuhalten, was den vom Gerichtshof zweiter Instanz auf der Basis der gesamten Aktenlage zutreffend angenommenen höheren Grad an Wahrscheinlichkeit, der Angeklagte habe die ihm angelasteten Handlungen begangen, mindern oder gar beseitigen könnte. Ob und inwieweit diese Verfahrensergebnisse unter Berücksichtigung der aufgezeigten Widersprüche für einen Schuldspruch ausreichen, wird nach abschließender Beweiswürdigung Sache der erkennenden Geschworenen sein.

Zur Prüfung des Fortbestandes des für den Zeitpunkt der Versetzung in den Anklagestand zu bejahenden dringenden Tatverdachtes als Voraussetzung der weiteren Anhaltung in Untersuchungshaft im Stadium der Hauptverhandlung ist in erster Linie das erkennende Gericht berufen, das kompetenzmäßig erstmals in der Lage ist, hiebei die ihm unmittelbar mündlich vorgetragenen Beweise frei zu würdigen, wobei freilich im geschworenengerichtlichen Verfahren zu beachten ist, daß gerade über die Tatfrage allein die Laienrichter zu befinden haben. Einer nur auf Grund der Aktenlage entscheidenden Beschwerdeinstanz hingegen sind bei der Beurteilung, ob nach den in der Hauptverhandlung bereits aufgenommenen Beweisen die Annahme eines qualifizierten Tatverdachtes auch zu rechtfertigen ist, systemgemäß enge Grenzen gezogen, was im besonderen für den Obersten Gerichtshof im Grundrechtsbeschwerdeverfahren gilt, der mit Rücksicht auf das in seiner Position als höchste Instanz in Strafsachen resultierende Gewicht seiner Aussage jeglichen Anschein einer vorwegnehmenden Würdigung der die Verdachtsintensität tragenden Sachverhaltsprämissen zu vermeiden hat (vgl 14 Os 63/93, 12 Os 19,20/93, 13 Os 144/93).

Im vorliegenden Fall läßt schon das Beschwerdevorbringen in Verbindung mit der vom Beschwerdeführer kritisierten Skizzierung des Inhalts der hier relevierten Zeugenaussagen und des Gutachtens des gerichtsmedizinischen Sachverständigen durch das Oberlandesgericht Linz erkennen, daß die Beschwerdebehauptung einer Entkräftung des dringenden Tatverdachtes nur auf einer subjektiven Einschätzung aus der Position des Angeklagten beruht, und daß eine andere Beurteilung der bisherigen Verfahrensergebnisse durch die Geschworenen keineswegs ausgeschlossen oder auch nur in einem solchen Maß in Frage gestellt wäre, daß von einem Wegfall der Dringlichkeit des Tatverdachtes in Richtung des für die Haftfrage maßgebenden Verbrechens nach den §§ 15, 75 StGB die Rede sein könnte.

Den Beschwerdeeinwänden zuwider hat das Oberlandesgericht auch zu Recht angenommen, daß auf Grund der mangelnden sozialen Integration des Angeklagten in Österreich und des intensiven Fluchtanreizes im Hinblick auf die für den Fall eines Schuldspruches mutmaßlich zu verhängende Strafe der Haftgrund des § 180 Abs 2 Z 1 StPO nicht auszuschließen sei, somit nach wie vor der Haftgrund des § 180 Abs 7 StPO vorliege.

Ohne Relevanz ist in diesem Zusammenhang der Einwand des Beschwerdeführers, er habe sich in Belgien gegen eine Auslieferung nach Österreich nicht zur Wehr gesetzt, wiewohl er Rechtsmittel ergreifen oder eine Abschiebung nach Frankreich hätte anstreben können, läßt doch das Nichterheben von Rechtsmitteln während einer Auslieferungshaft keinen Schluß auf ein mögliches Verhalten des Angeklagten in Freiheit zu. Gerade der Umstand, daß er nach dem hier zur Rede stehenden Geschehen (bei welchem er selbst Verletzungen erlitten hat) weder ärztliche Versorgung noch Fremdhilfe in Anspruch genommen hat, sondern unverzüglich nach Frankreich zurückgekehrt ist, rechtfertigt - neben seiner ausschließlich im Ausland gelegenen familiären und beruflichen Bindung - die konkrete Befürchtung, daß er sich, auf freien Fuß gesetzt, der weiteren Verhaftung durch Flucht entziehen würde. Im Hinblick auf die Intensität dieses Haftgrundes kommt eine hinreichende Substitution der Fluchtgefahr durch die Anwendung gelinderer Mittel nicht in Betracht.

Angesichts der durch die Schwere des Tatvorwurfs im Zusammenhalt mit dem schwer getrübten Vorleben des Angeklagten aktualisierten Sanktionserwartung und unter Berücksichtigung der Strafdrohung des § 75 StGB (Freiheitsstrafe von zehn bis zwanzig Jahren oder lebenslange Freiheitsstrafe) kann von Unangemessenheit der bis zum Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung rund elf Monate währenden Untersuchungshaft keine Rede sein.

Auf die behaupteten Verfahrensmängel schließlich war nicht näher einzugehen, weil abgesehen davon, daß angesichts der besonderen Schwierigkeit der Untersuchung (Vernehmungen im Rechtshilfeweg, Ladung von Zeugen aus dem Ausland) sachlich unhaltbare Verzögerungen nicht zu erkennen sind, aus derartigen Verzögerungen eine Grundrechtsverletzung erst dann abgeleitet werden kann, wenn sie zu einer Unverhältnismäßigkeit der Haft führen (vgl EvBl 1993/115 ua), was aber - wie bereits dargelegt - hier noch nicht der Fall ist.

Da somit Salvatore L***** im Grundrecht auf persönliche Freiheit nicht verletzt ist, war seine Beschwerde ohne Kostenausspruch (§ 8 GRBG) abzuweisen.

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