OGH 5Ob511/91

OGH5Ob511/9130.4.1991

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Jensik als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Zehetner, Dr. Klinger, Dr. Schwarz und Dr. Floßmann als weitere Richter in der Pflegschaftssache des Minderjährigen Christian G*****, in Obsorge der Mutter Sonja P*****, infolge Revisionsrekurses der Bezirkshauptmannschaft Neunkirchen gegen den Beschluß des Kreisgerichtes Wiener Neustadt als Rekursgericht vom 10. Jänner 1991, GZ R 522/90-80, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes Neunkirchen vom 9. November 1990, GZ P 66/88-75, bestätigt wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluß und der mit ihm bestätigte Beschluß des Gerichtes erster Instanz werden ersatzlos aufgehoben.

Text

Begründung

Dem Minderjährigen Christian G***** wurden jahrelang Unterhaltsvorschüsse gewährt, zuletzt S 1.700,-- monatlich auf Grund eines Unterhaltstitels vom 3.11.1983. Mit Beschluß vom 9.11.1990 schränkte das Pflegschaftsgericht diese Vorschüsse ab 1.9.1990 auf S 1.300,-- monatlich ein, nachdem das Bezirksjugendamt Neunkirchen gemäß § 21 UVG mitgeteilt hatte, daß der Minderjährige seit 1.8.1990 als Elektrikerlehrling in Berufsausbildung steht und eine monatliche Lehrlingsentschädigung von S 3.016,-- netto (bei Einbeziehung der Sonderzahlungen rund S 3.500,-- netto) erhält. Dabei wurde der monatliche Unterhaltsbedarf des Minderjährigen mit S 4.800,-- angenommen (S 3.500,-- Lebenshaltungskosten entsprechend dem Regelbedarf, S 800,-- Taschengeld und S 500,-- anteilige Berufsschulkosten); das Einkommen des unterhaltspflichtigen Vaters, das bei der letzten Unterhaltsbemessung im Jahr 1983 inklusive Sonderzahlungen ca. S 12.700,-- monatlich netto betragen hatte (ON 53), beläuft sich nach den unwidersprochen gebliebenen Behauptungen des Bezirksjugendamtes Neunkirchen derzeit auf S 18.200,-- monatlich netto (ON 77 und 81). Zusätzliche Unterhaltspflichten des Vaters bestehen nach der Aktenlage für die am 4.9.1976 geborene Angelika G***** und den am 7.11.1981 geborenen Manuel M*****.

Das vom Bezirksjugendamt Neunkirchen angerufene Rekursgericht bestätigte diesen Beschluß, entschied sich allerdings für die Zulassung des Revisionsrekurses, weil es meinte, in der Frage der Selbsterhaltungsfähigkeit eines Lehrlings von der Judikatur des OGH abgewichen zu sein. Konkret wandte sich das Rekursgericht gegen die zu 1 Ob 594/90 (NRsp 1990/220) ausgesprochene Rechtsansicht, daß die Mindestpensionshöhe nach § 293 Abs 1 lit a sublit bb ASVG (im fraglichen Zeitpunkt S 5.574,--) eine Orientierungshilfe für die Beurteilung der Selbsterhaltungsfähigkeit eines Minderjährigen mit eigenem Einkommen sei, weil dabei die Bedürfnisse Jugendlicher überschätzt würden. Auch die Gleichsetzung der Selbsterhaltungsfähigkeit mit der Fähigkeit zur Bedürfnisdeckung außerhalb des elterlichen Haushalts (3 Ob 547/90) und die Erwägung, einem Lehrling einen Teil seiner Entschädigung als Anreiz für seine weitere Berufstätigkeit zu überlassen (5 Ob 567/90 = EvBl 1990/134 unter Berufung auf Knoll, Immer wieder: Lehrlingsentschädigung in der Unterhaltsrechtsprechung, ÖA 1988, 35 ff), stellte das Rekursgericht in Frage. Für die Lebensführung eines 15-jährigen Lehrlings sei nämlich i.d.R. kennzeichnend, daß er in einem Familienverband mitlebe. Berücksichtige man noch die Familienbeihilfe, die dem Unterhaltsberechtigten zugute kommen soll, so gelange man bei einem Einkommen in der Höhe der Mindespension zu wirtschaftlichen Verhältnissen des Lehrlings, die weit günstiger wären als jene der Ehegattin des Unterhaltspflichtigen, deren Unterhaltsansprüche mit jenen von drei Kindern konkurrieren, sodaß sie sich mit rund 20 % seines Nettoeinkommens begnügen müsse. Es sei auch keineswegs gerechtfertigt, dem Lehrling einen finanziellen Anreiz für seine Berufstätigkeit zu schaffen, weil dies - bei vergleichbaren Bedürfnissen und Leistungen - weder der haushaltsführenden Ehefrau des Unterhaltspflichtigen noch Schülern zugestanden werde. Eine derartige Bevorzugung widerspräche dem Gleichheitsgrundsatz. Schließlich vertrage sich die Orientierung der Selbsterhaltungsfähigkeit eines Lehrlings an Einkünften in der Höhe der Mindestpension nicht mit der Bestimmung des § 140 Abs 3 ABGB, wonach sich der Anspruch eines Kindes auf Unterhalt insoweit mindert, als es eigene Einkünfte hat oder unter Berücksichtigung seiner Lebensverhältnisse selbsterhaltungsfähig ist. In der Frage der teilweisen Selbsterhaltungsfähigkeit - insbesondere eines Lehrlings - sei vielmehr die relative Berechnungsmethode anzuwenden, die dazu führe, den Unterhaltsberechtigten dann als selbsterhaltungsfähig zu betrachten, wenn sein Eigeneinkommen jenen Betrag erreicht, den er unter Berücksichtigung der Lebensverhältnisse des Unterhaltsschuldners von diesem fordern könnte. Eine höhere Unterhalts- bzw. Vorschußleistung an den Minderjährigen Christian G***** könne damit nicht gerechtfertigt werden.

Gegen diesen Beschluß hat das Bezirksjugendamt Neunkirchen fristgerecht Revisionsrekurs mit dem Antrag erhoben, ihn ersatzlos aufzuheben.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist aus den vom Rekursgericht angeführten Gründen zulässig, und er ist auch berechtigt.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen beruhen auf § 19 Abs 1 UVG. Demnach hat das Gericht auf Antrag oder von Amts wegen Vorschüsse entsprechend herabzusezten, wenn ein Fall des § 7 Abs 1 UVG eintritt, also etwa begründete Bedenken bestehen, daß die im Exekutionstitel festgesetzte Unterhaltspflicht von der gesetzlichen nach oben abweicht (Z 1 leg. cit.). Hier konzentrieren sich die Bedenken auf die Frage der Bedürfnissättigung. Es ist gemäß § 140 Abs 3 ABGB zu untersuchen, inwieweit sich der Unterhaltsanspruch (Bedarf) des Minderjährigen durch sein Einkommen als Lehrling vermindert hat.

Das Rekursgericht hat darin ein Problem der Selbsterhaltungsfähigkeit gesehen und die Auslegung dieses Rechtsbegriffs durch den OGH als zu starr und lebensfremd kritisiert. Sein eigener Vorschlag, die Selbsterhaltungsfähigkeit eines Lehrlings nach der relativen Berechnungsmethode ausschließlich daran zu messen, ob sein Einkommen jenen Betrag erreicht, den er unter Berücksichtigung der Lebensverhältnisse des Unterhaltsschuldners von diesem fordern könnte, läßt jedoch die Tatsache außer acht, daß sich existentielle Bedürfnisse nicht relativieren lassen. Dem Begriff der Selbsterhaltungsfähigkeit eines Kindes wohnt daher trotz gebotener Ausrichtung auf die Lbensverhältnisse der Eltern immer auch ein unverrückbares, objektives Element inne. In diesem Sinn erscheint es durchaus sachgerecht, die Selbsterhaltungsfähigkeit eines Jugendlichen - insbesondere eines Lehrlings - daran zu messen, ob er wenigstens soviel verdient, daß er die Auslagen einer einfachen Lebensführung bestreiten kann. Daneben ist zu berücksichtigen, daß § 140 Abs 2 ABGB die Betreuung von Kindern als Erfüllung der Unterhaltspflicht anerkennt. Die mit dem Verlust des Unterhaltsanspruchs verbundene Selbsterhaltungsfähigkeit eines Kindes ist also immer auch unter dem Aspekt zu prüfen, ob es noch auf die elterliche Betreuung angewiesen ist. Selbsterhaltungsfähigkeit bedeutet demnach die Fähigkeit zur eigenen angemessenen Bedarfsdeckung auch außerhalb des elterlichen Haushalts. Solange das Kind die elterliche Wohnungsgewährung oder Betreuung benötigt, ist es noch nicht selbsterhaltungsfähig (3 Ob 547/90; 3 Ob 579/90; 6 Ob 570/90; 1 Ob 521/91; vgl. auch Schlemmer in Schwimann I, Rz 101 zu § 140 ABGB). Folgerichtig bietet die Höhe des Mindestpensionssatzes - bei einfachsten Lebensverhältnissen der unterhaltspflichtigen Eltern - genau jene Orientierungshilfe für die Beurteilung der Selbsterhaltungsfähigkeit eines Lehrlings mit eigenem Einkommen, die vom Rekursgericht in Frage gestellt wurde. Der erkennende Senat sieht keinen Anlaß, von dieser Judikatur abzugehen (vgl. 10 Ob S 19/90; 3 Ob 547/90; 3 Ob 579/90; 1 Ob 594/90; 1 Ob 627/90; 6 Ob 570/90; 1 Ob 521/91).

Demnach ist, was ja auch die Vorinstanzen nicht bezweifelt haben, der Minderjährige Christian G***** noch nicht selbsterhaltungsfähig, seinen Eltern gegenüber also unterhaltsberechtigt (§ 140 ABGB). Ob es - was § 140 Abs 3 ABGB anzudeuten scheint und mit diesem Argument auch vom Rekursgericht vertreten wird - tatsächlich eine "teilweise Selbsterhaltungsfähigkeit" und dementsprechend einen "verminderten Unterhaltsanspruch" gibt oder ob der ungeteilte Unterhaltsanspruch eben immer nur bis zur Bedürfnissättigung reicht, weshalb das Eigeneinkommen eines noch nicht selbsterhaltungsfähigen Jugendlichen seinen Bedarf und nicht seinen Unterhaltsanspruch vermindert (vgl. Pichler in Rummel I2, Rz 11 zu § 140 ABGB), spielt für die Entscheidung keine Rolle, weil die Herabsetzung der Unterhaltsvorschüsse auch durch die Bedürfnissättigung gerechtfertigt sein kann. Darauf zielt die eigentliche Argumentation des Rekursgerichtes. Ihr ist insoweit zu folgen, als der Geldunterhaltsbedarf eines 15-jährigen Lehrlings, der in einem Familienverband lebt, nicht von vorneherein höher anzusetzen ist als der eines gleichaltrigen Schülers, und bei einfachen Lebensverhältnissen der Eltern auch nicht an die Höhe des Mindestpensionssatzes heranreicht (vgl. Pichler aaO, Rz 11a zu § 140 ABGB). Die Annahme der Vorinstanzen, daß der konkrete Geldunterhaltsbedarf des Minderjährigen Christian G***** mit S 4.800,-- im Monat anzusetzen ist, erscheint also durchaus lebensnah, wenn man seine Berufsausbildungskosten mit S 500,-- monatlich veranschlagt und ihm zur Befriedigung "sonstiger" Bedürfnisse iS des § 672 ABGB - etwa für die Freizeitgestaltung - ein monatliches Taschengeld von S 800,-- zubilligt (vgl EvBl 1990/134; eine nähere Erörterung der Bedürfnisse erübrigt sich durch die insoweit gar nicht strittigen Ausführungen im angefochtenen Beschluß). Damit allein läßt sich allerdings die Kürzung der Unterhaltsvorschüsse auf den Differenzbetrag zwischen der Lehrlingsentschädigung und dem Geltunerhaltsbedarf des Minderjährigen Christian G***** nicht rechtfertigen. Eine solche Entscheidung hätte zur Folge, daß das Einkommen des Unterhaltsberechtigten nur einen Elternteil entlastet, obwohl gemäß § 140 ABGB beide beitragspflichtig sind, und zwar "anteilig". Tatsächlich ist ja der Geldunterhaltsbedarf eines Kindes mit eigenem Einkommen, das - mangels Selbsterhaltungsfähigkeit - noch im Familienverband lebt, nur deshalb so gering, weil es die Betreuung im elterlichen Haushalt in Anspruch nehmen kann. Auch dieser Unterhaltsanspruch oder -bedarf vermindert sich insoweit, als das Kind eigene Einkünfte hat (§ 140 Abs 3 ABGB). Darum ist ein angemessener Teil der eigenen Einkünfte des Unterhaltsberechtigten dazu zu verwenden, die rechtmäßig in Anspruch genommenen Betreuungsleistungen jenes Elternteils abzugelten, der dadurch seinen Unterhaltsbeitrag leistet. Ob er seinem Kind diesen finanziellen Beitrag tatsächlich abverlangt, ist belanglos, weil es jedem Elternteil freisteht, dem Kind Zuwendungen zu machen. Die Bemessung der Geldunterhaltsansprüche eines Kindes mit eigenem Einkommen wird jedenfalls der durch § 140 ABGB gebotenen Gleichbehandlung der Eltern nur dann gerecht, wenn die aus den Einkünften des Kindes resultierende Verringerung der Unterhaltspflicht beiden zugutekommt (vgl Jus Extra OGH-Z 553).

Wie dieses Ergebnis zu erzielen ist, bleibt der jeweiligen Entscheidung im Einzelfall vorbehalten, weil eine Unterhaltsbemessung immer die konkreten Umstände zu berücksichtigen hat. So sind etwa Fälle denkbar, in denen der Berufseinstieg des Unterhaltsberechtigten nicht nur zur Erzielung eigener Einkünfte, sondern auch zu einem abnehmenden Bedarf an elterlichen Betreuungsleistungen führt, sodaß sich die Verminderung des Unterhaltsanspruchs bzw. -bedarfs nach außen hin nur mehr in einer Herabsetzung des Geldunterhalts niederschlägt. Auch die gebotene Rücksichtnahme auf die finanzielle Leistungsfähigkeit des jeweils unterhaltspflichtigen Elternteils könnte sich in dieser Weise auswirken. Darum bedarf es bei der Entscheidung, wie die Eigeneinkünfte eines Kindes bei der Bemessung seiner Unterhaltsansprüche zu veranschlagen sind, in der Regel einer sorgfältigen Erhebung seiner eigenen Lebensverhältnisse und der seiner Eltern. Im gegenständlichen Fall ergibt sich diese Notwendigkeit nur deshalb nicht, weil eine auf § 7 Abs 1 Z 1 UVG iVm § 19 Abs 1 UVG gestützte Herabsetzung gewährter Unterhaltsvorschüsse begründete Bedenken voraussetzt, daß die im Exekutionstitel festgesetzte Unterhaltspflicht von der gesetzlichen abweicht. Derartige Bedenken bestehen nach der Aktenlage nicht, weil die Vorinstanzen offensichtlich selbst davon ausgegangen sind, daß der erst 15-jährige Christian G***** in normalem Ausmaß der elterlichen Betreuung bedarf und diese Betreuung von der Mutter auch in Anspruch nimmt. Nach den dargestellten Erwägungen ist daher ein angemessener Teil seiner Lehrlingsentschädigung dadurch gebunden, daß mit ihm auch die Unterhaltspflicht der Mutter verringert werden soll. Die Beschaffung weiterer Entscheidungsgrundlagen über die Höhe dieses Anteils erübrigt sich, weil er jedenfalls mit den zur Diskussion stehenden S 400,-- monatlich veranschlagt werden kann. Damit fehlt es aber an der für eine Herabsetzung der Unterhaltsvorschüsse notwendigen Voraussetzung, daß sich der gesetzliche Unterhaltsanspruch des Minderjährigen Christian G***** gegen seinen Vater von S 1.700,-- monatlich auf S 1.300,-- monatlich verringert hat, weil er eine Lehrlingsentschädigung bezieht.

Aus allen diesen Gründen war wie im Spruch zu entscheiden.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte