OGH 7Ob667/90

OGH7Ob667/9010.1.1991

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Wurz als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Warta, Dr. Egermann, Dr. Niederreiter und Dr. Schalich als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Astrid U*****, vertreten durch Dr. Julius Brändle, Rechtsanwalt in Dornbirn, wider die beklagte Partei Elfriede S*****, vertreten durch Dr. Wilfried Ludwig Weh und Dr. Reinhard Weh, Rechtsanwälte in Bregenz, wegen Zuhaltung eines Vergleiches (Streitwert 100.000 S sA), infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom 27. Juli 1990, GZ 4 R 103/90‑15, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichs Feldkirch vom 29. November 1989, GZ 10 Cg 254/89‑8, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 5.104 S (darin 849 S an Umsatzsteuer) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Begründung

Die Klägerin stellt das von ihr mit 100.000 S bewertete Begehren, die Beklagte sei schuldig, eine Aufsandungserklärung in notariell beglaubigter Form zu unterfertigen, in der beide Parteien auf Grund eines Vergleiches vom 31. 1. 1989 ihre ausdrückliche und unwiderrufliche Einwilligung erklären, dass - auch nur über einseitiges Einschreiten - auf den der Beklagten gehörigen 3/4-Anteilen einer näher bezeichneten Grundbuchseinlage das Eigentumsrecht zu 1/4 für die Klägerin einverleibt werde. Die Beklagte habe erklärt, sie fühle sich an den außergerichtlichen Vergleich vom 31. 1. 1989 nicht gebunden.

Die Beklagte beantragt die Abweisung der Klage. Es liege eine arglistige Irreführung seitens der Klägerin, zumindest jedoch ein von der Klägerin veranlasster Irrtum der Beklagten vor, der die Wesenheit des Gegenstandes betreffe; die Beklagte fechte den nicht redlich zustande gekommenen Vergleich auch aus dem Grund der Verletzung über die Hälfte an. In dem Vergleich vom 31. 1. 1989 sei unter anderem festgehalten worden, dass das strittige Grundstück „im Bauverbot“ zwischen anderen Grundstücken liege. Nach einer der Beklagten erteilten Auskunft würde einem Umwidmungsantrag jedoch die Zustimmung der Gemeinde erteilt werden. Die Beklagte gehe davon aus, dass der Klägerin dieser Umstand und damit der wahre Wert der Liegenschaft bekannt gewesen sei.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab.

Das Berufungsgericht gab der Klage statt. Es sprach aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands 50.000 S nicht übersteigt und dass die Revision jedenfalls unzulässig ist. Bei der nach § 500 Abs 2 Z 1 ZPO vorzunehmenden Bewertung des Entscheidungsgegenstands sei das Berufungsgericht an die von der Klägerin vorgenommene Bewertung nicht gebunden; nach § 500 Abs 3 ZPO sei auch die Bestimmung des § 60 Abs 2 JN sinngemäß anzuwenden. Danach sei der Wert einer grundsteuerpflichtigen unbeweglichen Sache der Einheitswert. Werde die Unterfertigung einer Aufsandungserklärung als Grundlage für die Einverleibung des Eigentumsrechts an einer Liegenschaft oder an einem ideellen Liegenschaftsanteil begehrt, so sei diese Liegenschaft der Streitgegenstand, für den die Bewertungsvorschrift des § 60 Abs 2 JN gelte. Eine Einschränkung auf Klagen aus einem dinglichen Recht enthalte § 60 Abs 2 JN nicht. Der Einheitswert der strittigen Liegenschaft betrage nach den vom Berufungsgericht bei der Bewertungsstelle des zuständigen Finanzamtes durchgeführten Erhebungen nur 3.000 S.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision der Beklagten ist unzulässig, worauf die Klägerin verwiesen hat.

Die Beklagte macht geltend, der Ausspruch über den Wert des Entscheidungsgegenstandes sei nicht bindend, wenn zwingende Bewertungsvorschriften verletzt worden seien. Im vorliegenden Verfahren gehe es um die Vornahme einer persönlichen Leistung, um die Abgabe einer Willenserklärung der Beklagten; es sei deshalb die Bestimmung des § 59 JN anzuwenden und nicht jene des § 60 Abs 2 JN. Das Berufungsgericht habe bei seiner Bewertung die Grundsätze eines ordnungsgemäßen Verfahrens verletzt, insbesondere Art 6 Abs 1 MRK und Art 94 B-VG. Nach dem Grundsatz des uneingeschränkten Parteiengehörs sei jede Art von Erhebungsergebnis mit den Parteien zu erörtern. Das Berufungsgericht habe dies nicht getan und damit die Beklagte in ihrem Recht auf Parteiengehör beeinträchtigt. Der in einem verwaltungsbehördlichen Verfahren festgestellte Einheitswert von 3.000 S sei sachwidrig. Die Bindung eines Gerichts an eine verwaltungsbehördliche Entscheidung sei mit Art 6 MRK nur vereinbar, wenn das verwaltungsbehördliche Verfahren selbst den Anforderungen des Art 6 MRK entsprochen habe.

Nach Art 6 Abs 1, erster Satz, der MRK hat jedermann Anspruch darauf, dass seine Sache in billiger Weise öffentlich gehört wird, und zwar von einem unabhängigen, auf dem Gesetz beruhenden Gericht, das über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen zu entscheiden hat. Zu den Garantien, die Art 6 Abs 1 MRK gewährleistet, zählt auch das rechtliche Gehör, und es ist allgemein anerkannt, dass das rechtliche Gehör im Sinne dieser Bestimmung im Zivilverfahren nicht nur verletzt wird, wenn einer Partei die Möglichkeit, sich im Verfahren zu äußern, überhaupt genommen wurde, sondern auch dann, wenn einer gerichtlichen Entscheidung Tatsachen und Beweisergebnisse zugrunde gelegt wurden, zu denen sich die Beteiligten nicht äußern konnten. Das Gericht hat daher den Parteien Verfahrensvorgänge, die erkennbar für sie wesentliche Tatsachen betreffen, bekanntzugeben und ihnen die Möglichkeit zu eröffnen, dazu Stellung zu nehmen (SZ 54/124 mwN). Der Anspruch auf Anhörung in billiger Weise, auf ein „fair trial“, wird von der Konvention nicht im Einzelnen definiert. Grundlegendes Element dieses Anspruchs ist der Grundsatz, dass den Parteien ausreichende, angemessene und gleiche Gelegenheit zur Stellungnahme in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht gegeben wird und dass die eine Partei nicht gegenüber der anderen benachteiligt wird. Die Beteiligten haben also Anspruch auf Gelegenheit zur tatsächlichen und rechtlichen Äußerung. In Zivilsachen hat aber das Gericht nicht die Verpflichtung, durch Belehrung der Parteien darauf hinzuwirken, dass sie sich zu allen Rechtsfragen äußern, die sich nach Ansicht des Gerichts im konkreten Fall stellen (Frowein/Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, 136, Golsong ua, Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention, Rz 347 f zu Art 6).

Es bleibt auch unter der Voraussetzung, dass der Grundsatz des Zugangs zu den Gerichten gewahrt ist, die weitere Ausgestaltung der Gerichtsbarkeit dem Ermessen der Staaten überlassen. Das Recht auf Zugang zu den Gerichten gewährt kein Recht auf einen Instanzenzug oder - wo ein solcher besteht - auf Gerichtsbarkeit in allen Instanzen, es gewährt keinen Zugang zu einem Höchstgericht (Golsong aaO, Rz 272 und 378). Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs ist deshalb nicht absolut, sondern unterliegt Einschränkungen (Golsong aaO, Rz 351). Im Rechtsmittelverfahren wird jedenfalls dann keine mündliche Verhandlung für nötig gehalten, wenn eine solche in erster Instanz stattgefunden hat (Golsong aaO, Rz 378).

Besteht aber nach der Menschenrechtskonvention kein Recht auf einen Instanzenzug, bleiben im Sinn der vorstehenden Ausführungen die näheren Umstände, unter denen der Zugang zu einer höheren Instanz gewährt wird, dem Ermessen der Staaten überlassen. Rechtsmittelbeschränkungen auf Grund des Wertes des Entscheidungsgegenstandes bilden dementsprechend ebensowenig einen Verstoß gegen die Menschenrechtskonvention wie Bestimmungen über die Bewertung des Streitgegenstandes. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat infolge dessen auch die Anwendbarkeit des Art 6 MRK auf die Streitwertfestsetzung ausdrücklich verneint (Frowein/Peukert aaO 127).

Gemäß § 60 Abs 2 JN ist als Wert einer grundsteuerpflichtigen unbeweglichen Sache jener Betrag anzusehen, der als Steuerwert für die Gebührenbemessung in Betracht kommt, wobei nach § 12 GrStG Besteuerungsgrundlage der für den Veranlagungszeitraum maßgebende Einheitswert des Steuergegenstandes ist. Der in Art 94 B-VG verankerte Grundsatz der Gewaltentrennung, der Trennung der Staatsfunktionen, Gerichtsbarkeit und Verwaltung in allen Instanzen, wird durch die genannte Bestimmung der JN nicht verletzt; das Berufungsgericht ist durch Anwendung dieser Bestimmung keineswegs als Verwaltungsbehörde tätig geworden (vgl hiezu Ringhofer, Die österreichische Bundesverfassung, 290 f).

In seiner Entscheidung vom 28. 6. 1990, EuGRZ 1990, 209, ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zum Ergebnis gekommen, die Annahme einer Bindungswirkung von Verwaltungsentscheidungen, die eine zivilrechtliche Vorfrage betreffen, durch die in einem Zivilrechtsstreit zuständigen Gerichte verletze das Recht auf Zugang zum Gericht gemäß Art 6 Abs 1 EMRK, wenn die Verwaltungsentscheidungen selbst nicht einer den Anforderungen des Art 6 Abs 1 EMRK entsprechenden Überprüfung unterliegen, und es liege ein solcher Fall jedenfalls dann vor, wenn der betreffenden Verwaltungsbehörde ein gesetzlich nicht näher geregeltes Ermessen eingeräumt ist, dessen Ausübung der Verwaltungsgerichtshof nicht überprüfen kann.

Der Einheitswertbescheid, auf dessen Grundlage die zweite Instanz den Entscheidungsgegenstand bewertete, betrifft keine zivilrechtliche Vorfrage, an die sich etwa das Berufungsgericht bei seiner Sachentscheidung gebunden gefühlt hätte. Der genannte Bescheid war vielmehr auf die Sachentscheidung der Vorinstanz ohne jeden Einfluss und nur für den weiteren Instanzenzug von Bedeutung. Die Regelung des Instanzenzuges aber liegt, worauf bereits hingewiesen wurde, im Ermessen des Staates und wird von der Verfahrensgarantie des Art 6 MRK nicht umfasst.

Das Berufungsgericht hat den Streitgegenstand entgegen der Ansicht der Beklagten zu Recht nach § 60 Abs 2 JN bewertet. Das Klagebegehren ist auf Einwilligung der Beklagten in die Einverleibung des Eigentums der Klägerin auf einen Teil einer der Beklagten zu 3/4 gehörigen Liegenschaft gerichtet. Das Streitinteresse wird daher ausschließlich vom Wert dieser Liegenschaft bestimmt. Darauf, auf welchen Rechtsgrund die Klägerin ihr Begehren stützt und aus welchen Gründen dieses Begehren bestritten wird, kommt es dabei nicht an; eine Einschränkung auf Klagen aus einem dinglichen Recht enthält § 60 Abs 2 JN nicht (RZ 1990/38; 7 Ob 577/86; 1 Ob 571/88; 6 Ob 635/88; 4 Ob 548/89; iglS SZ 55/186).

Nach den Erhebungen des Berufungsgerichts beträgt der Einheitswert der strittigen Liegenschaft 3.000 S, so dass der Wert des Entscheidungsgegenstandes im Sinne des § 500 Abs 2 Z 1 ZPO, wie das Berufungsgericht ausgesprochen hat, 50.000 S nicht übersteigt und die Revision nach § 502 Abs 2 ZPO jedenfalls unzulässig ist.

Die Revision war deshalb zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung erfolgte nach den §§ 41, 50 ZPO.

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