OGH 10ObS96/90

OGH10ObS96/908.5.1990

Der Oberste Gerichtshof hat als Rekursgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Angst als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Raimund Kabelka (AG) und Monika Fischer (AN) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Walter G***, Pensionist, B-1030 Brüssel, 51 rue d'Locht, Belgien, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wider die beklagte Partei P*** DER A***,

1021 Wien, Friedrich Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Alfred Kasamas, Rechtsanwalt in Wien, wegen Hilflosenzuschuß, infolge Rekurses der beklagten Partei gegen den Beschluß des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 27. November 1989, GZ. 34 Rs 78/89-46, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 18. Oktober 1988, GZ. 2 Cgs 1023/87-40, aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.

Aus Anlaß des Rekurses wird jedoch der angefochtene Beschluß als nichtig aufgehoben, soweit er die Abweisung des Klagebegehrens für die Zeit vom 12.9.1985 bis 31.12.1987 betrifft.

Text

Begründung

Das Erstgericht erkannte die beklagte Partei schuldig, dem Kläger ab 1.1.1988 den Hilflosenzuschuß im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren, und wies das auf Gewährung des Hilflosenzuschusses für die Zeit vom 12.9.1985 bis 31.12.1987 gerichtete Klagemehrbegehren ab. Es stellte die Leistungsfähigkeit des Klägers aus "neurologisch-psychiatrischer", "interner", "chirurgischer" und "augenärztlicher Sicht" fest. Hievon ist hervorzuheben, daß sich aus "neurologisch-psychiatrischer" und aus "interner Sicht" keine Einschränkungen bei der Ausführung der lebensnotwendigen Verrichtungen ergeben, daß der Kläger aus "chirurgischer Sicht" fremder Hilfe bedarf, um die Wohnung "großgründlich" zu machen, Fenster zu putzen, Vorhänge abzunehmen und die große Wäsche zu waschen, daß er aber ua. selbständig Einkäufe tätigen, Lebensmittel einholen und selbst kochen kann, und daß der Kläger aus "augenärztlicher Sicht" seit 1.1.1988 zwar noch in der Lage ist, die ständig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens, wie Waschen und Anziehen, selbst durchzuführen, daß ihm jedoch das Hantieren mit Feuer unmöglich ist und er ohne Begleitperson nicht die Straße betreten kann. Im Anschluß daran stellte das Erstgericht fest, daß der Kläger mit seiner Frau und seiner Tochter in einer Wohnung wohnt, die über eine Zentralheizung verfügt und in der mit einem Gasherd gekocht ist, und daß er weder in der Lage ist, selbst zu kochen, noch ohne Frau oder Kind die Straße zu betreten. Zur rechtlichen Beurteilung der Sache führte das Erstgericht aus, daß der Kläger infolge seines Augenleidens und seinen im chirurgischen Fachgebiet liegenden Einschränkungen seit 1.1.1988 ständig der Wartung und Hilfe im Sinne des § 105 a ASVG bedürfe und ihm daher der Hilflosenzuschuß ab diesem Zeitpunkt zuzuerkennen sei. Das Berufungsgericht hob das Urteil des Erstgerichtes infolge Berufung der beklagten Partei zur Gänze auf und verwies die Rechtssache mit einem Rechtskraftvorbehalt zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurück. Aus dem Befund, den der dem Verfahren beigezogene Sachverständige für Augenheilkunde aufgenommen habe, ergebe sich, daß die Sehschärfe des Klägers durch eine Staroperation und eine Linseninplantation verbessert werden könne, wobei aber durch die starke Myopie ein erhöhtes Risiko der Netzhautablösung bestehe. Die beklagte Partei verweise in diesem Zusammenhang darauf, daß dem Kläger eine Staroperation zumutbar sei, wobei sein Zustand wesentlich gebessert werden könne. Um die Frage der Zumutbarkeit beurteilen zu können, seien jedoch Feststellungen dazu notwendig, ob die Operation beim Kläger im Hinblick auf sein Alter und seinen Gesundheitszustand gefahrlos möglich sei, mit welchen Auswirkungen dabei gerechnet werden müsse, ob die Operation mit besonderen Schmerzen oder Unannehmlichkeiten verbunden sei und insbesondere welche Erfolgsaussichten gegeben seien.

Rechtliche Beurteilung

Der von der beklagten Partei gegen diesen Beschluß des Berufungsgerichtes erhobene Rekurs ist nicht berechtigt. Die Streitsache ist schon deshalb nicht zur Entscheidung reif, weil die Feststellungen des Erstgerichtes widerspruchsvoll sind. Das Erstgericht verkannte, daß es nicht darauf ankommt, welchen Einschränkungen der Pensionsberechtigte aus der Sicht der einzelnen medizinischen Fachgebiete unterliegt, sondern allein darauf, auf welche Weise die Fähigkeit zur Ausführung der lebensnotwendigen Verrichtungen insgesamt eingeschränkt ist. In den Feststellungen heißt es einerseits, daß der Kläger aus "interner" und "chirurgischer Sicht" in der Lage sei, Nahrungsmittel einzuholen und zu kochen, andererseits stellte das Erstgericht aber fest, daß der Kläger weder selbst kochen, noch ohne "Frau oder Kind" die Straße betreten könne. Dies schließt aber die Fähigkeit, Nahrungsmittel selbständig einzukaufen, aus; hiezu ist der Kläger aber nach den Feststellungen nicht nur aus "interner" und "chirurgischer", sondern auch aus "neurologisch-psychiatrischer Sicht" imstande. Überdies kann der Kläger aus "interner" und "chirurgischer Sicht" auch selbständig kochen.

Das Erstgericht wird daher in erster Linie unabhängig von den einzelnen medizinischen Fachgebieten festzustellen haben, welche der lebensnotwendigen Verrichtungen der Kläger noch selbständig ausführen kann und zu welchen dieser Verrichtungen er der Hilfe eines anderen bedarf. Mit Recht verlangt die beklagte Partei in diesem Zusammenhang in ihrem Rekurs, daß zur Behinderung beim Kochen auch festgestellt wird, worauf diese zurückgeht und ob sie für jede Art des Kochens besteht. Nach den bisher getroffenen Feststellungen des Erstgerichtes besteht nämlich die Möglichkeit, daß der Kläger nur deshalb zum Kochen nicht fähig ist, weil er nicht mit Feuer hantieren kann, daß er aber auf einer elektrischen Kochgelegenheit selbst kochen könnte. In der Wohnung des Klägers wird zwar auf einem Gasherd gekocht. Die beklagte Partei macht aber zutreffend geltend, daß es dem Kläger zuzumuten ist, sich (zusätzlich) eine elektrische Kochgelegenheit zu beschaffen, wenn er sich damit die Speisen selbst zubereiten könnte.

Das Erstgericht wird somit im fortzusetzenden Verfahren zunächst die Feststellungen in der aufgezeigten Richtung zu ergänzen haben. Sollte es auf Grund dieser ergänzten Feststellungen zur Ansicht gelangen, daß dem Kläger der Hilflosenzuschuß wegen der Einschränkungen gebührt, die auf seine Sehschwäche zurückgehen, so wird es sodann die vom Berufungsgericht aufgetragene Ergänzung der Feststellungen vorzunehmen haben. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, daß sich der Oberste Gerichtshof in der bisher noch nicht veröffentlichten Entscheidung vom 27.2.1990, 10 Ob S 40/90, ausführlich mit der Frage der Zumutbarkeit einer Operation befaßt hat und zu dem Ergebnis gekommen ist, daß die Grenze der Zumutbarkeit in den Fällen überschritten wird, in denen für den deutschen Rechtsbereich § 65 des Sozialgesetzbuches eine Ausnahme von der dort durch andere Bestimmungen allgemein angeordneten Untersuchungs- und Behandlungspflicht statuiert. Ob eine Untersuchung, eine Behandlung oder ein operativer Eingriff zumutbar ist oder die Grenze des Zumutbaren überschreitet, könne jeweils nur unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles entschieden werden, wobei insbesondere auf die mit der Maßnahme verbundenen Gefahren, die Erfolgsaussichten einer Behandlung oder Operation, die Schwere des Eingriffes und seine Folgen unter Berücksichtigung auch einer erforderlichen Nachbehandlung sowie die damit verbundenen Schmerzen Bedacht zu nehmen sei. Diese Grundsätze wird das Erstgericht gegebenenfalls zu berücksichtigen haben. Das Erstgericht ist schließlich darauf hinzuweisen, daß nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes (vgl. SSV-NF 3/32) im Rahmen der rechtlichen Beurteilung auch die Erwägungen zu den Kosten der notwendigen Hilfe, von denen der Anspruch auf Hilflosenzuschuß abhängt (SSV-NF 1/46 uva.), darzulegen sind.

Aus Anlaß des zwar nicht berechtigten, aber zulässigen Rekurses war schließlich zu beachten, daß das Berufungsgericht das Urteil des Erstgerichtes auch in seinem abweisenden Teil aufgehoben hat, obwohl es in diesem Punkt nicht angefochten und daher rechtskräftig wurde. Die Nichtbeachtung der Rechtskraft, und zwar auch der Teilrechtskraft, stellt nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs im Hinblick auf die Bestimmungen des § 240 Abs. 3 und § 411 Abs. 2 ZPO einen im § 477 ZPO nicht aufgezählten Nichtigkeitsgrund dar (SZ 20/266; SZ 30/48; SZ 47/96 ua; zur Teilrechtskraft 1 Ob 205/72; 8 Ob 268/80; 8 Ob 142/82 ua), der auch dann, wenn er nicht geltend gemacht wurde, aus Anlaß eines zulässigen Rechtsmittels aufzugreifen ist.

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