OGH 10ObS250/88

OGH10ObS250/8822.11.1988

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Resch als Vorsitzenden, durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Angst als weitere Richter und durch die fachkundigen Laienrichter Dr.Sylvia Krieger (Arbeitgeber) und Werner Fendrich (Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Walentina N***, ohne Beschäftigung, 1020 Wien, Engerthstraße 232-238/4/16, vertreten durch Dr.Jörg Baumgärtel, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei P*** DER A***, 1021 Wien,

Friedrich Hillegeist-Straße 1, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten wegen Berufsunfähigkeitspension infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 1. Juni 1988, GZ 32 Rs 106/88-10, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 7.März 1988, GZ 6 Cgs 1192/87-6, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Oberste Gerichtshof stellt gemäß Art 89 Abs 2 B-VG beim Verfassungsgerichtshof den

A n t r a g ,

die Wortfolge "bei männlichen, nach Vollendung des 50.Lebensjahres bei weiblichen Versicherten" im § 236 Abs 1 Z 1 lit b ASVG und die Wortfolge "bei männlichen Versicherten bzw nach Vollendung des 50. Lebensjahres bei weiblichen Versicherten" im § 236 Abs 2 Z 1 ASVG gemäß Art 140 B-VG als verfassungswidrig aufzuheben.

Text

Begründung

Sachverhalt:

Die am 30.7.1924 geborene Klägerin hat bis Juli 1987 (Stichtag 1.8.1987) im November 1977 und von Juni 1978 bis Dezember 1985 92 Beitragsmonate der Pflichtversicherung und von Jänner 1986 bis Juli 1987 19 Ersatzmonate, insgesamt daher 111 Versicherungsmonate erworben.

Mit Bescheid vom 24.9.1987 wies die beklagte Partei den Antrag der Klägerin vom 30.7.1987 auf Zuerkennung einer Berufsunfähigkeitspension nach § 271 ASVG unter Berufung auf § 235 Abs 1 leg cit ab, weil die für die Erfüllung der Wartezeit (§ 236 ASVG iVm Art IV Abs 4 der 40.ASVGNov) erforderliche Mindestzahl von Versicherungsmonaten nicht vorliege.

In der dagegen rechtzeitig erhobenen Klage bestritt die Klägerin nicht, daß die Bescheidbegründung nach der von der beklagten Partei anzuwendenden Gesetzeslage richtig sei, weil die Wartezeit (ihrer Meinung nach) nur erfüllt wäre, wenn am Stichtag (mindestens) 180 Versicherungsmonate vorlägen. Der die Mindestzahl der zur Erfüllung der Wartezeit erforderlichen Versicherungsmonate anordnende § 236 Abs 1 Z 1 ASVG sei jedoch verfassungswidrig, weil er berufsunfähige Versicherte höheren Alters gegenüber jüngeren und weibliche Versicherte gegenüber männlichen ohne sachliche Rechtfertigung diskriminiere. Die Klägerin beantragte daher, die beklagte Partei zur Leistung einer Berufsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß ab 1.8.1987 zu verurteilen.

Die beklagte Partei beantragte die Abweisung der Klage. Das Erstgericht wies die Klage ab, weil die Wartezeit weder nach § 236 Abs 1 ASVG noch nach Abs 4 dieser Gesetzesstelle erfüllt sei. In der wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung erhobenen Berufung legte die Klägerin ihre schon in der Klage geäußerten Bedenken gegen die Verfassungsgemäßheit des § 236 ASVG näher dar, regte an, das Berufungsgericht möge beim Verfassungsgerichtshof den Antrag stellen, § 236 Abs 1 Z 1 lit a und lit b mit Ausnahme der Worte "60 Monate" und Abs 2 Z 1 zweiter Halbsatz aufzuheben und beantragte, das erstgerichtliche Urteil nach Aufhebung dieser Gesetzesstelle durch den Verfassungsgerichtshof im klagestattgebenden Sinn abzuändern.

Die Berufungsgegnerin beantragte, der Berufung ohne Anrufung des Verfassungsgerichtshofs nicht Folge zu geben.

Das Berufungsgericht bestätigte das erstgerichtliche Urteil, weil es die verfassungsrechtlichen Bedenken der Klägerin nicht teilte. Die wachsende Wartezeit sei ein logischer Ausfluß des Versicherungs- und Solidaritätsprinzips und keine sachliche Diskriminierung älterer Versicherter. Daß die wachsende Wartezeit bei weiblichen Versicherten 5 Jahre früher einsetze als bei männlichen, sei eine direkte Folge des früheren Alterspensionsanfalls bei Frauen und ebenfalls nicht gleichheitswidrig.

Dagegen richtet sich die Revision der Klägerin wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung der Sache. Die Revisionswerberin wiederholt ihre schon in der Berufung näher ausgeführten verfassungsrechtlichen Bedenken, regt an, der Oberste Gerichtshof möge beim Verfassungsgerichtshof die Aufhebung der schon in der Berufung genannten Stellen des § 236 ASVG beantragen und beantragt, das Berufungsurteil nach Aufhebung dieser Gesetzesstellen durch den Verfassungsgerichtshof im klagestattgebenden Sinn abzuändern. Die beklagte Partei erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Rechtliche Beurteilung

Antragsvoraussetzungen:

Hat der Oberste Gerichtshof gegen die Anwendung eines Gesetzes aus dem Grund der Verfassungswidrigkeit Bedenken, so hat er nach Art 89 Abs 2 B-VG den Antrag auf Aufhebung dieses Gesetzes beim Verfassungsgerichtshof zu stellen.

Dieser Antrag ist von dem zur Entscheidung über das Rechtsmittel berufenen Senat des Obersten Gerichtshofs zu stellen und nur bei dessen Bedenken gegen ein von ihm anzuwendendes, für die Entscheidung über das Rechtsmittel präjudizielles Gesetz (Gesetzesstelle) zulässig.

Weil § 236 Abs 1 Z 1 lit a ASVG nur dann anzuwenden ist, wenn der Stichtag vor Vollendung des 55.Lebensjahres bei männlichen, vor Vollendung des 50.Lebensjahres bei weiblichen Versicherten liegt, hat der Oberste Gerichtshof diese Litera im vorliegenden Fall nicht anzuwenden, weil der Stichtag hier nach Vollendung des 63. Lebensjahres der Klägerin liegt. Auf die diesbezügliche Anregung der Revisionswerberin war daher nicht weiter einzugehen. Daß für eine Leistung aus einem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit oder des Todes die Wartezeit nach § 236 Abs 1 Z 1 lit a ASVG bei einem Stichtag vor Vollendung des 55. bzw. 50. Lebensjahres des männlichen bzw. weiblichen Versicherten mit 60 Versicherungsmonaten erfüllt ist, während sich die Wartezeit nach lit b der zitierten Ziffer bei einem späteren Stichtag je nach dem Lebensalter des (der) Versicherten für jeden weiteren Lebensmonat um jeweils ein Monat bis zum Höchstausmaß von 180 Monaten erhöht ("wachsende Wartezeit"), hält der erkennende Senat - abgesehen von der Ungleichbehandlung der Geschlechter - aus folgenden Überlegungen für verfassungsrechtlich unbedenklich:

Die österreichische Sozialversicherung baut auf dem Versicherungsprinzip auf, reichert dieses allerdings durch Versorgungs- und Fürsorgeelemente an (Tomandl, Grundriß des österreichischen Sozialrechts3, 30).

Wegen des Versicherungsprinzips sind die Leistungen der Pensionsversicherung mit Ausnahme der Abfindung nach § 269 Abs 1 Z 1 ASVG in der Regel unter anderem an die sekundäre Leistungsvoraussetzung der Wartezeit geknüpft, d.h., daß am Stichtag eine Mindestzahl von Versicherungszeiten vorliegen muß. Diese aus der Privatversicherung kommende Einrichtung soll sicherstellen, daß Pensionsleistungen erst nach entsprechend langer Beitragszahlung (Versicherungsdauer) in Anspruch genommen werden können, daß also nur Personen in den Genuß von Leistungen kommen, die der Versicherungsgemeinschaft bereits eine bestimmte Zeit angehören und durch ihre Beitragsleistung zur Finanzierung der Leistungsverpflichtungen dieser Gemeinschaft beigetragen haben (Tomandl aaO 115 f; Schrammel in Tomandl, SV-System 3.ErgLfg 143; Teschner ebendort 371).

Die Wartezeit entfällt für Leistungen aus den Versicherungsfällen der geminderten Arbeitsfähigkeit und des Todes nur, wenn der Versicherungsfall die Folge eines Arbeitsunfalls, einer Berufskrankheit oder Dienstbeschädigung oder vor dem 27. Lebensjahr eingetreten ist und der Versicherte bereits mindestens 6 Versicherungsmonate erworben hat (§ 235 Abs 3 ASVG). In diesen Fällen war der Versicherte aus nicht von ihm zu vertretenden Gründen nicht in der Lage, seine Versicherungspflicht (Beitragsleistungen) zu erbringen (Teschner aaO 372).

Während die Wartezeit bei den Alterspensionen

180 Versicherungsmonate (15 Versicherungsjahre) beträgt, die innerhalb der letzten 360 Kalendermonate (30 Jahre) liegen müssen (lange Wartezeit), genügen für die Versicherungsfälle der geminderten Arbeitsfähigkeit und des Todes bei einem Stichtag vor der Vollendung des 55. bzw. 50.Lebensjahres 60 Versicherungsmonate (5 Versicherungsjahre) (kurze Wartezeit), die innerhalb der letzten 120 Kalendermonate (10 Jahre) liegen müssen.

Wie schon ausgeführt, erhöht sich die kurze Wartezeit bei einem späteren Stichtag für jeden weiteren Lebensmonat um einen Versicherungsmonat bis zum Höchstausmaß von 180 Monaten (§ 236 Abs 1 Z 1 lit b ASVG), wobei sich die vorerwähnte Rahmenfrist von 120 Kalendermonaten (10 Jahren) für jeden weiteren Lebensmonat um zwei Kalendermonate bis zum Höchstausmaß von 360 Kalendermonaten (30 Jahren) vor dem Stichtag erhöht (Abs 2 Z 1 zweiter Halbsatz der zitierten Gesetzesstelle).

Diese durch die 40.ASVGNov BGBl 1984/484 eingeführten Änderungen im Bereich der Wartezeit standen im engen Zusammenhang mit der Einführung der ewigen Anwartschaft durch den Wegfall der Deckungsvorschriften (Halb- und Dritteldeckung). Durch die Erfüllung der Wartezeit innerhalb bestimmter Rahmenfristen soll der Nachweis einer entsprechend langen Versicherungszugehörigkeit erbracht werden, wobei bei Eintritt des Versicherungsfalls in den Jahren 1985 bis 1991 eine Übergangsregelung getroffen wurde (RV 327 BlgNR 16.GP, 24).

Mit der durch die 40.ASVGNov eingeführten langsamen Anhebung der kleinen Wartezeit wird diese mit zunehmendem Alter des Versicherten allmählich der für die Alterspension geltenden langen Wartezeit angeglichen. Damit wird erreicht, daß Versicherungsfälle der geminderten Arbeitsfähigkeit und des Todes mit dem Erreichen des normalen Alterspensionsalters nur dann Leistungen auslösen, wenn die Wartezeit für die Alterspension erfüllt wird. Spekulatorische Überlegungen, durch eine kurzfristige Versicherung bei bereits eingetretener Minderung der Arbeitsfähigkeit eine Invaliditäts- oder Berufsunfähigkeitspension auch nach Überschreiten der Altersgrenze zu erlangen, werden dadurch hinfällig (Sedlak, 40.Novelle zum ASVG DRdA 1985, 60).

Trotz des Gleichheitsgrundsatzes, dessen Verletzung hier allein für eine Verfassungswidrigkeit maßgebend sein könnte, kommt dem einfachen Gesetzgeber eine - freilich nicht

unbegrenzte - rechtspolitische Gestaltungsfreiheit zu, die - außer bei einem Exzeß - nicht der verfassungsgerichtlichen Kontrolle unterliegt und insoweit auch nicht mit den aus dem Gleichheitsgrundsatz ableitbaren Maßstäben zu messen ist. Innerhalb dieser Grenzen ist die Rechtskontrolle nicht zur Beurteilung der Rechtspolitik berufen (VfSlg 9583 mwN).

Der Gleichheitsgrundsatz verbietet dem Gesetzgeber ferner nur Differenzierungen zu schaffen, die sachlich nicht begründbar sind (VfSlg 6884 mwN), so daß eine unterschiedliche Regelung, die aus entsprechenden Unterschieden im Tatsachenbereich gerechtfertigt werden kann, nicht gleichheitswidrig ist (VfSlg 7400 mwN, 7947, 8600). Dem Gesetzgeber ist es auch nicht verwehrt, von einem einmal gewählten Ordnungsprinzip abzugehen, sofern die betreffende Regelung in sich sachlich begründet ist (VfSlg 7040, 7705 ua). Bei Berücksichtigung dieser verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung bestehen gegen die durch die 40.ASVGNov eingeführte wachsende Wartezeit keine verfassungsrechtlichen Bedenken, weil die 10 Jahre vor dem normalen Alterspensionsalter einsetzende, jeden weiteren Lebensmonat um einen Monat bis zur für die Alterspension geforderten langen Wartezeit schrittweise Erhöhung der kurzen Wartezeit durch den relativ kurzen Zeitraum bis zum Erreichen des normalen Pensionsalters gerechtfertigt werden kann. In diesem Zusammenhang kann nicht übersehen werden, daß bei einem Stichtag, der mehr als 10 Jahre vor dem normalen Pensionsalter liegt, die kurze Wartezeit von 5 Versicherungsjahren nur dann erfüllt ist, wenn diese innerhalb der letzten 10 Kalenderjahre vor dem Stichtag liegen, während sich bei der wachsenden Wartezeit die letztgenannte Rahmenfrist für jeden weiteren Lebensmonat um zwei Kalendermonate bis zum Höchstausmaß von 30 Jahren vor dem Stichtag erhöht. Damit kann zur Auffüllung der wachsenden Wartezeit auf wesentlich länger zurückliegende Versicherungsmonate zurückgegriffen werden als bei der kurzen Wartezeit, wobei sich die Rahmenfrist überdies nach § 236 Abs 3 ASVG um hineinfallende neutrale Monate verlängert.

Da die neu eingeführte wachsende Wartezeit in sich sachlich begründet ist, durfte der Gesetzgeber diese für die letzten 10 Jahre vor dem normalen Alterspensionsalter an die Stelle der bisherigen kurzen Wartezeit setzen, wobei Härten durch die im Art IV der

40. ASVGNov enthaltenen umfangreichen Übergangsbestimmungen gemildert werden.

In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, daß die Klägerin, die ihren ersten Beitragsmonat erst nach Vollendung des 50. Lebensjahres erwarb, nach der durch die 40.ASVGNov geänderten alten Fassung des § 236 Abs 1 Z 1 ASVG nicht 60, sondern mindestens 96 anrechenbare Versicherungsmonate gebraucht hätte. Weiters ist § 236 Abs 1 Z 1 lit b ASVG idF des Art II Z 4 der 40.ASVGNov nach deren Art IV Abs 12 hinsichtlich des Höchstausmaßes der Versicherungsmonate mit der Maßgabe anzuwenden, daß dieses bei Versicherungsfällen, wenn der Stichtag im Jahre 1987 liegt, 120 - und nicht wie von den Parteien und den Vorinstanzen angenommen - 180 beträgt. Dies zeigt, daß der Gesetzgeber eine abrupte Beendigung derartiger Leistungserwartungen vermeiden wollte (Sedlak aaO 61).

Der erkennende Senat hat gegen den im vorliegenden Fall unter Bedachtnahme auf Art IV Abs 12 und 13 der 40.ASVGNov anzuwendenden § 236 Abs 1 Z 1 lit b und Abs.2 Z 1 zweiter Halbsatz ASVG allerdings insoweit Bedenken, als die Erhöhung der Wartezeit und die Verlängerung der Rahmenfrist bei männlichen Versicherten erst nach Vollendung des 55.Lebensjahres, bei weiblichen Versicherten hingegen schon nach Vollendung des 50.Lebensjahres beginnt.

Diese Verschiedenheit ist eine direkte Folge des unterschiedlichen Anfallsalters der normalen Alterspension, auf die der Versicherte nach Vollendung des 65.Lebensjahres, die Versicherte schon nach Vollendung des 60.Lebensjahres Anspruch hat (§ 253 Abs 1 ASVG).

Während die Anfallsaltersverschiedenheit die weiblichen Versicherten begünstigt, werden diese durch die früher beginnende Erhöhung der Wartezeit gegenüber männlichen Versicherten grundsätzlich benachteiligt, obwohl nicht verkannt werden soll, daß die wachsende Wartezeit für beide Geschlechter 10 Jahre vor dem normalen Alterspensionsalter beginnt.

Diese Benachteiligung wirkt sich allerdings im vorliegenden Fall nicht aus, weil die Wartezeit im Hinblick auf Art IV Abs 12 der

40. ASVGNov höchstens 120 Versicherungsmonate beträgt, während sie dann, wenn die Erhöhung wie bei einem männlichen Versicherten erst mit der Vollendung des 55.Lebensjahres, also mit 1.8.1979 beginnen würde, bis zum Stichtag (ohne Berücksichtigung der zitierten Übergangsbestimmungen) 156 Versicherungsmonate betrüge. Dies ändert jedoch nichts daran, daß der Oberste Gerichtshof gegen die Anwendung der erwähnten Gesetzesstellen aus dem Grund der Verfassungswidrigkeit Bedenken und daher nach Art 89 Abs 2 B-VG den Antrag auf deren Aufhebung beim Verfassungsgerichtshof zu stellen hat. Denn nach ständiger Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes kommt es nicht darauf an, ob die Regelung im Anlaßfall den Beschwerdeführer belastet und ob sich die Unsachlichkeit einer Regelung auf den Anlaßfall auswirkt (VfSlg 3585, 8806, 9755; G 35, 36, 83, 84/81 ua; Walter-Mayer, Grundriß6 Rz 1158). Der erkennende Senat hat in seinem Beschluß vom 11.10.1988 10 Ob S 71/88, in dem er beim Verfassungsgerichtshof die Aufhebung der Wortfolge "nach Vollendung des 60.Lebensjahres, die Versicherte" im § 253b Abs 1 ASVG beantragte, seine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen eine unterschiedliche Regelung des Alterspensionsalters für männliche und weibliche Versicherte nach Darstellung der rechtshistorischen Entwicklung und der in der Literatur vertretenen Meinungen im wesentlichen so begründet:

"Gegen eine sich aus der körperlichen Beschaffenheit der Frauen ergebende frühere Arbeitsunfähigkeit spricht vor allem die erheblich höhere durchschnittliche Lebenserwartung der Frauen gegenüber jener der Männer. Sie betrug im Jahr 1986 für damals geborene Männer 71 Jahre, für Frauen 77.73 Jahre, für damals 55jährige Männer 21.04 Jahre, für Frauen 25.63 Jahre, für damals 60jährige Männer

17.36 Jahre, für Frauen 21.29 Jahre, für damals 65jährige Männer

13.91 Jahre, für Frauen 17.18 Jahre !Demographisches Jahrbuch Österreichs 1986, 156 f; Statistisches Handbuch für die Republik Österreich 1987, 49, was im Zusammenhang mit dem früheren Pensionsalter zu einer wesentlich höheren Pensionsbezugsdauer der Frauen führt (vgl dazu Ivansits aaO 469). In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, daß der Gesetzgeber bei den öffentlich Bediensteten keinen Unterschied im Anfallsalter zwischen Männern und Frauen macht. Zwar handelt es sich beim öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis und bei der Materie des Sozialversicherungswesens um tiefgreifend verschiedene Rechtsgebiete (VfSlg 5241/1966; VfGH 16.3.1988, JBl 1988, 442), doch müßte die in den Sozialversicherungsgesetzen angenommene frühere Arbeitsunfähigkeit von Frauen aufgrund ihrer körperlichen Konstitution wohl auch für Frauen im öffentlichen Dienst gelten, bedenkt man, daß in vielen Fällen pragmatisierte Frauen die gleiche Tätigkeit wie Vertragsbedienstete verrichten, jedoch eine unterschiedliche Pensionsregelung besteht. Andererseits hat der Gesetzgeber im § 255 Abs 4 ASVG bei der (erleichterten) Invaliditätspension Männer und Frauen gleich behandelt. Bei beiden Geschlechtern nimmt hier der Gesetzgeber an, daß ein 55 Jahre alter Versicherter nicht mehr auf andere Tätigkeiten verwiesen werden kann als jene, die er in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag in mindestens der Hälfte der Beitragsmonate ausgeübt hat. Dazu kommt, daß die derzeitige gesetzliche Regelung nicht berücksichtigt, welche Tätigkeit eine Frau verrichtet hat, sondern alle Frauen gleich behandelt. Es ist sicherlich denkbar, daß in Berufen, die mit größerer körperlicher Anstrengung verbunden sind, Frauen wegen ihrer körperlich schwächeren Konstitution früher arbeitsunfähig werden als Männer und bezüglich solcher Berufe eine unterschiedliche Pensionsregelung sachlich gerechtfertigt wäre. In zahlreichen Berufen, vor allem auf dem Angestelltensektor, spielt jedoch die körperliche Belastung - wenn überhaupt - nur eine untergeordnete Rolle. Ob die bei ein bis zwei Drittel aller Frauen in der Postmenopause auftretenden klimakterischen Beschwerden (vgl Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch255, 861) für sich allein eine allgemeine Senkung des Pensionsalters von Frauen gegenüber Männern rechtfertigt, kann bezweifelt werden. Gegen die vom Gesetzgeber zur Begründung herangezogenen Argumente bestehen daher jedenfalls wesentliche Bedenken.

Aber auch die von der Lehre zur Begründung herangezogene Doppelbelastung der Frau durch Beruf und Haushalt stellt kein entscheidendes Argument für die unterschiedliche Behandlung dar. Hier berücksichtigt das Gesetz zunächst nicht, daß ein nicht unerheblicher, durchaus ins Gewicht fallender und daher nicht zu vernachlässigender Teil der berufstätigen Frauen alleinstehend ist. Für sie unterscheidet sich die Belastung durch Beruf und Haushalt nicht von jener der alleinstehenden Männer. Wenngleich die in der Revision enthaltene Statistik über den Prozentsatz der kinderlosen Frauen nicht ohne weiteres aussagekräftig ist, weil sie Frauen bereits ab dem 15.Lebensjahr einbezieht, also ab einem Alter, in dem auch Frauen üblicherweise noch nicht verheiratet sind und auch noch keine Kinder haben, kann doch nicht übersehen werden, daß vor allem in der jüngeren Generation die Tendenz, keine familiären Bindungen einzugehen, sowohl bei Männern als auch bei Frauen zunimmt. Auch von den Frauen der älteren Generation, die jetzt in das Pensionsalter kommen, sind aufgrund des durch den Zweiten Weltkrieg verursachten Männermangels viele unverheiratet und ohne Nachkommen geblieben. Auch für sie gilt das Argument von der Doppelbelastung daher nicht allgemein. Dazu kommt aber noch die seit der Neuordnung der persönlichen Rechtswirkungen der Ehe durch das Gesetz BGBl 1975/412 geänderte Rechtslage. Während das seinerzeitige Recht in den §§ 91 und 92 ABGB aF davon ausging, daß der Mann das Haupt der Familie ist, in dieser Eigenschaft das Hauswesen zu leiten hat und die Frau ihm in der Haushaltung und Erwerbung nach Kräften beizustehen hat, ist seither die einvernehmliche Gestaltung der ehelichen Lebensgemeinschaft, besonders der Haushaltsführung und der Erwerbstätigkeit im § 91 ABGB gesetzlich festgelegt. Soweit aber Änderungen im Bereich eines Rechtsgebietes die für ein anderes Rechtsgebiet maßgeblichen tatsächlichen Verhältnisse ändern, ist bei Beurteilung der Verfassungsgemäßheit der Regelung dieses anderen Rechtsgebietes auf die so geschaffenen Verhältnisse Bedacht zu nehmen (VfGH 26.6.1980 RdA 1981, 141). Wenngleich sich sicherlich in der älteren Generation der Grundsatz der partnerschaftlichen Ehe noch nicht in größerem Umfang durchgesetzt hat und bezüglich dieser allenfalls zu berücksichtigen wäre, daß deren jetzt in das Pensionsalter kommende Frauen noch einen Großteil ihres Ehe- und Familienlebens unter der alten Familienrechtslage zugebracht haben, ist gerade in der jüngeren Generation in dieser Richtung sicher ein Umdenken im Gang, was letzten Endes auch mit ein Grund für die Änderung der gesetzlichen Bestimmungen war. Da seit der Änderung der Gesetzeslage immerhin bereits 12 Jahre vergangen sind, kann davon ausgegangen werden, daß sich der Grundsatz der partnerschaftlichen Ehe bereits in einem nicht unerheblichen Ausmaß durchgesetzt hat, so daß die Zahl der nun nicht mehr doppelbelasteten Frauen keine zu vernachlässigende Größe mehr darstellt. Würde der gegenwärtige gesetzliche Zustand unverändert beibehalten, so würde sich die Ungleichbehandlung der Geschlechter weiter verstärken. Es können jedoch nur solche Ungleichbehandlungen (vorübergehend) sachlich sein, die wenigstens in Richtung eines Abbaues der Unterschiede wirken würden (VfGH 26.6.1980 RdA 1981, 141), was hier nicht der Fall wäre. Diesen Umstand übersieht auch die Entscheidung des deutschen Bundesverfassungsgerichtes vom 28.1.1987 (EuGRZ 1987, 291 und NJW 1987, 1541), worin ausgesprochen wurde, es sei mit Art 3 Abs 2 GG vereinbar, daß Frauen Altersruhegeld aus der gesetzlichen Rentenversicherung im Unterschied zu Männern bereits mit Vollendung des 60.Lebensjahres beziehen können. Das Bundesverfassungsgericht meinte in diesem Zusammenhang, der Wandel der tatsächlichen Verhältnisse, der sich schon vollzogen habe und noch vollziehe und die Angleichung der Rechtsordnung an die gebotene Gleichstellung von Frau und Mann ließe erwarten, daß die Umstände, welche die verfassungsrechtliche Prüfung unter dem Gesichtspunkt des Nachteilsausgleiches beeinflussen, im Laufe der weiteren Entwicklung an Einfluß verlieren würden. Wann dies der Fall sein werde und welche Folgerungen daraus zu ziehen seien, habe aber in erster Linie der Gesetzgeber zu beurteilen. Abgesehen davon, daß dadurch im Falle der Untätigkeit des Gesetzgebers die Notwendigkeit entsteht, in regelmäßigen Abständen den Verfassungsgerichtshof anzurufen, wird hiedurch die Ungleichbehandlung laufend weiter verstärkt. Ob der Gesetzgeber durch Übergangsregelungen eine vorübergehende Ungleichbehandlung in sachlich gerechtfertigter Weise aufrechterhalten könnte, ist im vorliegenden Fall nicht zu prüfen, weil solche Übergangsregelungen nicht vorliegen. Der Gesetzgeber hat vielmehr unterschiedslos und ohne Rücksicht auf die auch zahlenmäßig ins Gewicht fallenden Teile der männlichen und weiblichen Versicherten, für die völlig gleiche Voraussetzungen vorliegen, das Pensionsalter der Frauen generell niedriger festgesetzt, als jenes der Männer. Auch die weiteren Ausführungen des Bundesverfassungsgerichtes sind keine zwingende Rechtfertigung der unterschiedlichen Behandlung der Geschlechter im Pensionsrecht. Er meint, würde es sich allein um einen Ausgleich für die Doppelbelastung der Frauen handeln, könnte es zweifelhaft sein, ob eine unterschiedliche Behandlung auch zugunsten von Frauen ohne diese Doppelbelastung und zum Nachteil von Männern mit einer solchen statthaft wäre. Der Gesetzgeber habe aber weitere Umstände in typisierender Betrachtungsweise berücksichtigen dürfen, so zB daß das Ausbildungsdefizit der Frauen, das ihre berufliche Stellung und damit ihr Arbeitsentgelt sowie ihre Rentenerwartung in der Vergangenheit maßgeblich beeinträchtigt habe, in typischen Fällen durch eine Antizipierung der erwarteten Stellung der Frau als spätere Mutter verursacht worden sei. Ähnliche Ursachen dürften auch vielfach die Beschäftigung in unteren Lohngruppen und die geringeren Aufstiegschancen der Frau im Beruf haben. Die typischen Unterbrechungen einer entgeltlichen Tätigkeit durch Zeiten von Schwangerschaft, Geburt und Kindererziehung hätten zudem bei Frauen häufig zur Folge, daß sie im Gegensatz zu Männern von der Inanspruchnahme des (der vorzeitigen Alterspension bei langer Versicherungsdauer vergleichbaren) flexiblen Altersruhegeldes bei Vollendung des 63.Lebensjahres deswegen keinen Gebrauch machen könnten, weil sie die besonderen Voraussetzungen einer 35jährigen Versicherungszeit nicht erfüllten. All das lasse sich aber im Kern auf die Funktion oder jedenfalls die mögliche Stellung weiblicher Versicherter als Ehefrau und Mutter, also auf biologische Umstände zurückführen. Hier wird nach Ansicht des erkennenden Senates übersehen, daß die unbestrittenermaßen bestehenden beruflichen Nachteile der Frauen durch Schwangerschaft und Geburt, die für die jetzt in das Pensionsalter tretenden Frauen noch nicht durch gesetzliche Maßnahmen ausgeglichen wurden !vgl die Verbesserung der Ersatzzeitenregelung in § 227 Abs 1 Z 3 und 4 ASVG sowie Kindererziehung und die aus diesen Gründen vielleicht erfolgte Beschäftigung in unteren Lohngruppen und die geringeren Aufstiegschancen nicht dadurch ausgeglichen werden können, daß den Frauen das Recht zur früheren Pensionierung eingeräumt wird. Denn gerade ein früherer Pensionsantritt verstärkt noch die Benachteiligung der Frauen, da sie hiedurch noch weniger anrechenbare Zeiten erlangen und damit die Höhe der Pension noch geringer wird. Von einer bestehende Benachteiligung ausgleichenden Regelung kann daher in diesem Zusammenhang kaum gesprochen werden. Dagegen, daß der Gesetzgeber durch die unterschiedliche Regelung des Pensionsanfallsalters die durch die Unterbrechung einer entgeltlichen Tätigkeit durch Schwangerschaft, Geburt und Kindererziehung bei Frauen bestehenden schlechteren Versicherungsverläufe ausgleichen wollte, spricht im übrigen auch die durch die 40.ASVG-Novelle getroffene Neuregelung der Wartezeit für Leistungen aus dem Versicherungsfall der verminderten Arbeitsfähigkeit im § 236 ASVG. Diese beträgt bei männlichen Versicherten, wenn der Stichtag vor Vollendung des 55.Lebensjahres liegt, bei weiblichen Versicherten, wenn der Stichtag vor Vollendung des 50.Lebensjahres liegt, 60 Monate. Wenn der Stichtag nach Vollendung des 55.Lebensjahres bei männlichen Vesicherten und nach Vollendung des 50.Lebensjahres bei weiblichen Versicherten liegt, beträgt die Wartezeit je nach Lebensalter des Versicherten für jeden weiteren Lebensmonat jeweils ein Monat mehr bis zum Höchstausmaß von 180 Versicherungsmonaten. Diese Bestimmung bedeutet eine Benachteiligung weiblicher Versicherter. Während etwa für einen Mann mit 55 Jahren eine Wartezeit von 60 Monaten für den Anspruch auf eine Pensionsleistung wegen verminderter Arbeitsunfähigkeit erforderlich ist, gelangt eine Frau gleichen Alters nur dann in den Genuß der Leistung, wenn sie 120 Versicherungsmonate aufzuweisen hat. Schließlich ist auch noch auf die zunehmende, bereits nicht unbeträchtliche Zahl von Frauen mit Teilzeitbeschäftigung zu verweisen, bei denen naturgemäß die Doppelbelastung durch Beruf und Haushaltsführung nicht mehr so schwer ins Gewicht fällt."

Diese Bedenken gegen eine unterschiedliche Regelung des Alterspensionsalters für männliche und weibliche Versicherte gelten auch für die im vorliegenden Fall anzuwendenden Bestimmungen über den an das geschlechtsunterschiedliche Alterspensionsalter anknüpfenden geschlechtsunterschiedlichen Beginn der Erhöhung der Wartezeit und der Verlängerung der Rahmenfrist.

Der Oberste Gerichtshof sieht sich daher auch in diesem Fall veranlaßt, dem Verfassungsgerichtshof die Möglichkeit zu geben, diese Bestimmungen auf ihre Verfassungsgemäßheit zu überprüfen und stellt daher gemäß Art 89 Abs 2 B-VG beim Verfassungsgerichtshof den aus dem Spruch ersichtlichen Antrag.

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