OGH 1Ob660/84

OGH1Ob660/8419.9.1984

SZ 57/142

Normen

ZPO §412
ZPO §502 Abs4 Z1
ZPO §412
ZPO §502 Abs4 Z1

 

Spruch:

Die Wahrung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes durch das Berufungsgericht gehört zu den tragenden Grundsätzen des Verfahrensrechts, deren Verletzung auch über eine außerordentliche Revision wahrzunehmen ist

OGH 19. 9. 1984, 1 Ob 660/84 (LG Klagenfurt 2 R 179/84; BG Feldkirchen 2 C 996/83)

Text

Die Eltern des Klägers, Gabriel und Ludmilla B, sind bücherliche Eigentümer der Liegenschaft EZ 299 KG F, zu deren Gutsbestand das Grundstück 408 Baufläche gehört. Dieses Grundstück ist zur Gänze mit dem Wohn- und Geschäftshaus F, A-Straße 4, an dessen Südostfront das auf dem Grundstück 86/4 errichtete Geschäftshaus der Beklagten zum Teil anschließt, verbaut. Vor der Auslagenfront dieses Gebäudes liegt ein befestigter Vorplatz, der an der Nordwestseite vom Haus der Eltern des Klägers abgeschlossen wird und in einer Tiefe von 5 m zum Grundstück 86/4 gehört. In der Front des Hauses der Eltern des Klägers zum Vorplatz hin sind zwei Fenster eingelassen, von welchen nicht nur das näher zur Straße hin gelegene, sondern seit einiger Zeit auch das näher zur Auslagenfront des Geschäftshauses der Beklagten befindliche, von außen nur über das Grundstück 86/4 erreichbare Fenster als Auslagen benützt werden.

Der Kläger, dem von seinen Eltern alle aus dem Liegenschaftseigentum erfließenden Rechte gegen die Beklagte abgetreten worden sind, begehrte - neben einer Feststellung, die nicht mehr Verfahrensgegenstand ist - die Verurteilung der Beklagten zur Freihaltung des Zugangs zu dem näher ihrer Geschäftsfront gelegenen Fenster sowohl zur Besichtung durch etwaige Interessenten als auch zum Zwecke der Reinigung der Auslage. Sie habe dem Umbau des Fensters zu einer Auslage zugestimmt; da der Kläger das Fenster nach dem Umbau jedenfalls als Schaufenster benützt habe, sei zumindest eine schlüssige Vereinbarung in diesem Sinne zustande gekommen.

Die Beklagte wendete ein, sie habe zwar der Vergrößerung des Fensters, nicht aber dessen Nutzung als Auslage zugestimmt; sie bestritt auch das Zustandekommen einer konkludenten Vereinbarung mit diesem Inhalt.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es stellte fest, der Vater des Klägers, Gabriel B, habe am 7. 10. 1952 im Zuge der Endbeschau seines Wohn- und Geschäftshauses durch die politische Expositur Feldkirchen, als festgestellt worden sei, daß entgegen der Plandarstellung an der Südostfront im Erdgeschoß zusätzlich zwei Fenster angebracht worden waren, mit der Voreigentümerin des Grundstücks der Beklagten vereinbart, daß die Fenster an der Südostfront seines Hauses zugemauert werden müßten, sollte das Grundstück 86/4 zur Gänze verbaut werden; diese Vereinbarung habe auch für die Rechtsnachfolger gelten sollen. Im Verlaufe der Bauarbeiten auf dem Grundstück 86/4 seien das östliche der beiden Fenster in der Südostfront und die Hausmauer des Hauses der Eltern des Klägers beschädigt worden. Über Ersuchen des Ehegatten der Beklagten, Josef J, habe sich Ludmilla B zur Vergrößerung dieses Fensters, das bisher ausschließlich als Wohnzimmerfenster gedient habe, bereitgefunden, Josef J habe sein Ansinnen mit der hiedurch bewirkten besseren Gesamtansicht der Baulichkeiten begrundet. Eine Vereinbarung, wonach das Fenster nach dem Umbau als Schaufenster dienen solle, sei nicht getroffen worden; auch über den Zugang zum Fenster sei nicht gesprochen worden. Ludmilla B habe für den Fensterrahmen, die Anbringung von Platten an der Außenfront und die Fassadenangleichung einen Betrag von 40 000 S aufgewendet; die Kosten der Verglasung seien von der Haftpflichtversicherung des von der Beklagten beauftragten Bauunternehmers getragen worden. Etwa seit einem halben Jahr nach Abschluß der Umbauarbeiten an diesem Fenster, das nach wie vor als Wohnzimmerfenster diene, habe Ludmilla B Waren in diesem Fenster ausgestellt; ein bis zwei Jahre lang sei das Fenster auch frei zugänglich gewesen. Seit der Eröffnung ihres Geschäftes habe die Beklagte auf der Grundfläche vor dem Fenster selbst Ausstellungsstücke aufgestellt. Daraus schloß das Erstgericht, es sei auch keine stillschweigende Vereinbarung über die Nutzung des Fensters als Auslage zustande gekommen, sodaß das Duldungsbegehren jedes Rechtsgrundes entbehre.

Das Berufungsgericht gab dem Duldungsbegehren statt und sprach aus, daß der von der Abänderung betroffene Wert des Streitgegenstandes zwar 15 000 S, nicht aber 300 000 S übersteige, die Revision jedoch nicht zulässig sei. Es führte aus, die Beklagte habe durch ihren Ehegatten der Umgestaltung des Fensters ausdrücklich zugestimmt; es liege daher auf der Hand, daß das Fenster nach dem Umbau das äußere Bild eines Geschäftsauslagenfensters bieten sollte. Nach Art des Zustandekommens der Regelung der örtlichen Verhältnisse habe es für alle Beteiligten klar sein müssen, daß das vergrößerte Fenster demselben Zweck wie das benachbarte Schaufenster, dem es völlig angeglichen worden sei, dienen sollte. Nebst der Vereinheitlichung der Fassade könne nur dieser Verwendungszweck des Fensters der Vereinbarung der Streitteile zugrunde gelegen sein. Darüber hinaus habe der Kläger das Fenster ein bis zwei Jahre lang ungestört als Auslage benützt; daß ein halbes Jahr von der Fertigstellung der Umbauarbeiten bis zum Gebrauch des Fensters als Auslage verstrichen sei, finde seine Erklärung in den Adaptierungsarbeiten des Schaufensters, die einige Zeit in Anspruch genommen hätten. Aus dem Verhalten der Beklagten müsse - gerade unter Kaufleuten - zwangsläufig das Einverständnis zum Zutritt der Passanten zu diesem Fenster abgeleitet werden. Von ihrer Warte aus hätten der Kläger bzw. seine Eltern annehmen dürfen, daß ihnen die Beklagte die begehrten Rechte einräumen werde; bei der Auslegung von Willenserklärungen komme es gerade auf den Horizont des Erklärungsempfängers an.

Über Revision der Beklagten hob der Oberste Gerichtshof das Urteil des Berufungsgerichtes auf und verwies die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung an das Berufungsgericht zurück.

Rechtliche Beurteilung

Aus der Begründung:

Gemäß § 502 Abs. 4 Z 1 ZPO ist eine nicht schon nach § 502 Abs. 2 und 3 ZPO unzulässige und nicht schon nach § 502 Abs. 4 Z 2 oder Abs. 5 ZPO jedenfalls zulässige Revision auch zulässig, wenn die Entscheidung von der Lösung einer Rechtsfrage des Verfahrensrechtes abhängt, der zur Wahrung der Rechtseinheit, Rechtssicherheit oder Rechtsentwicklung erhebliche Bedeutung zukommt. Mit der Aufnahme des Verfahrensrechts neben dem materiellen Recht in den § 502 Abs. 4 Z 1 ZPO sollte gewährleistet werden, daß nicht nur das Verfahrensrecht auch im Zulassungsbereich weiterentwickelt und konkreter ausgelegt werden kann, sondern auch Verfahrensfehler der zweiten Instanz von erheblicher Bedeutung der Prüfung durch den OGH unterliegen und damit die Einzelfallgerechtigkeit hinreichend gewahrt bleibt (AB 1337 BlgNR 15. GP 19). Angefochten werden kann damit - bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen - eine Entscheidung der zweiten Instanz nicht nur wegen Nichtigkeit (§ 503 Abs. 1 Z 1 ZPO; vgl. Fasching, Zivilprozeßrecht Rdz. 1891) und unrichtiger rechtlicher Beurteilung (§ 503 Abs. 1 Z 4 ZPO), sondern auch wegen Vorliegens erheblicher Verfahrensmängel (§ 503 Abs. 1 Z 2 ZPO; AB 1337 BlgNR

15. GP 20), wenn die Rechtseinheit oder die Rechtssicherheit gefährdet ist. Erhebliche Bedeutung kommt einer Entscheidung jedenfalls dann zu, wenn tragende Grundsätze des Verfahrensrechts auf dem Spiel stehen. Zu den tragenden Grundsätzen des Verfahrensrechts gehört (im Rahmen der gesetzlichen Einschränkungen) der Unmittelbarkeitsgrundsatz. Das Berufungsgericht hat seiner Entscheidung die im Urteil der ersten Instanz festgestellten Ergebnisse der Verhandlung und Beweisführung zugrunde zu legen, soweit diese nicht durch die Berufungsverhandlung selbst eine Berichtigung erfahren haben (§ 498 Abs. 1 ZPO). Will das Berufungsgericht von den Tatsachenfeststellungen des Erstgerichtes in Wahrnehmung einer entsprechenden Beweisrüge der Berufung abgehen, muß es alle zur Feststellung der rechtserheblichen Tatsachen erforderlichen Beweise, die das Erstgericht unmittelbar aufgenommen hat, selbst wiederholen (SZ 53/117; EvBl. 1978/194; EvBl. 1974/72; SZ 23/112 uva.; Fasching, Komm. IV 308) oder das Protokoll über die Beweisaufnahme in erster Instanz unter den Voraussetzungen des § 281 a ZPO verlesen; eine Verletzung dieses Grundsatzes stellt eine erhebliche Verletzung einer Rechtsvorschrift des Verfahrensrechts dar, die der Wahrung der Rechtssicherheit dient (Fasching, Zivilprozeßrecht, Rdz. 679). Eine Verletzung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes liegt auch vor, wenn das Berufungsgericht seine rechtliche Beurteilung unter Abweichung von den Tatsachenfeststellungen des Erstgerichtes ohne Durchführung einer Beweiswiederholung trifft.

Die Beklagte rügt die Annahme des Berufungsgerichtes, der Vereinbarung zwischen Ludmilla B und der durch ihren Ehegatten vertretenen Beklagten über den Umbau des Wohnzimmerfensters des Klägers sei die Verwendung dieses Fensters als Auslage unterstellt, als Verstoß gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz nach den §§ 498, 488 ZPO. Das Erstgericht habe ausdrücklich festgestellt, eine solche Vereinbarung sei nicht getroffen worden; dennoch habe das Berufungsgericht, ohne die Beweise zu wiederholen, eine solche Vereinbarung angenommen.

Aus den Feststellungen des Erstgerichtes kann der vom Berufungsgericht der Vereinbarung zwischen den Streitteilen unterstellte Verwendungszweck (als Schaufenster) in der Tat nicht abgeleitet werden. Das erkannte auch der Kläger in seiner Berufung, der den "Kern" der Feststellungen des Erstgerichtes richtig darin erblickte, eine Vereinbarung, daß das Fenster nach seiner Vergrößerung als Auslage dienen sollte, sei nicht getroffen worden. Das Erstgericht hat sogar festgestellt, nur Josef J habe Interesse an der Vergrößerung des Fensters, das im übrigen nach wie vor als Wohnzimmerfenster dient, bekundet und mit der hiedurch bewirkten Gesamtansicht der (beiden) Baulichkeiten begrundet. Hiezu führt es - im Rahmen der Beweiswürdigung - aus, daß der Vorschlag zum Umbau von der Beklagten ausgegangen sei, leuchte ein, weil die zweifellos bessere Optik nach der Vergrößerung des Fensters hauptsächlich der Beklagten, deren gesamte Auslagenfront neben diesem Fenster liege, zugute komme, während der Kläger ohnedies über ausreichende Schaufensterflächen verfügt habe; es wäre nicht einzusehen, warum die Beklagte an "dieser Fensterfunktion" hätte interessiert sein sollen.

Das Erstgericht hat demnach keine Tatsachen festgestellt, aus welchen der Schluß auf den vom Berufungsgericht unterstellten Verwendungszweck als Auslage oder überhaupt auf Einräumung von Rechten dem Kläger oder seinen Eltern gegenüber gezogen werden könnte. Daß die getroffene Vereinbarung "nebst der Fassadenvereinheitlichung" auch noch anderen Zwecken oder auch den Interessen des Klägers bzw. seiner Eltern - die immerhin Gefahr liefen, das Fenster auch zumauern zu müssen - dienen sollte, ist keineswegs selbstverständlich. Insbesondere war nach den Feststellungen des Erstgerichtes davon, daß Fremden der Zutritt zum Grundstück der Beklagten gestattet werden sollte, nie die Rede; die Gestattung des Zutritts hätte immerhin die Bestellung einer Servitut bedeutet und konnte für die Beklagte, die auf das Zumauern der Fensteröffnung hätte dringen können, keinesfalls eine selbstverständliche Folge ihrer Initiative, die von ganz anderen Zielvorstellungen bestimmt war, sein. Die Einräumung einer Servitut durch die Beklagte könnte wohl nur angenommen werden, wenn sie vom Kläger oder von seinen Eltern ausdrücklich verlangt und von der Beklagten bewilligt worden wäre. Bei der Beurteilung der Frage, ob eine Verpflichtung stillschweigend eingegangen wurde, erscheint nämlich größte Zurückhaltung geboten; sie kann nur bejaht werden, wenn der Nichtzustimmende nach der Verkehrssitte, nach Treu und Glauben oder nach dem Gesetz reden hätte müssen (JBl. 1974, 373; MietSlg. 25.126/27; EvBl. 1969/97; SZ 37/59 und 119; JBl. 1955, 405 uva.). Allein daß die Beklagte bis zur Eröffnung ihres Geschäftes den Zugang der Passanten zum Fenster des Klägers nicht beeinträchtigte, läßt nicht auf ihren Willen, damit ein Recht einzuräumen, schließen.

Auf Grund der Feststellungen des Erstgerichtes wäre demnach das Urteil des Erstgerichtes zu bestätigen. Der OGH kann jedoch nicht in der Sache selbst erkennen, weil sich das Berufungsgericht seiner Ansicht gemäß mit der Beweisrüge der Berufung des Klägers, die immerhin auch eine ausdrückliche Zustimmung der Beklagten zu seinem Vorhaben festgestellt haben will, nicht befaßt hat. Deshalb ist dem Gericht zweiter Instanz die neuerliche Entscheidung aufzutragen. Der Kläger hat zwar nicht die Anordnung einer Berufungsverhandlung beantragt - auch die Bekämpfung der erstgerichtlichen Beweiswürdigung ersetzt einen solchen Antrag nicht -, doch hat das Gericht zweiter Instanz von sich aus eine Berufungsverhandlung anzuberaumen und in dieser die Beweise in dem davon betroffenen Umfang zu wiederholen, wenn es Bedenken gegen die Beweiswürdigung des Erstgerichtes hegt (§ 492 Abs. 2 zweiter Satz ZPO; 5 Ob 88/71 uva.). Ob es sich dazu veranlaßt sieht, bleibt seiner Beurteilung überlassen.

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