Spruch:
Sind pflegebefohlene Pflichtteilsberechtigte vorhanden, so hat das Abhandlungsgericht von Amts wegen ein Inventar zu errichten, es sei denn, ein Zweifel, ob der Noterbe in seinem Pflichtteil verletzt wurde, kann ausgeschlossen werden
OGH 29. 3. 1984, 6 Ob 548/84 (LGZ Wien 44 R 12/84; BG Mödling 2 A 456/83)
Text
Kurt E ist am 10. 8. 1983 gestorben. Mit seinem Testament vom 12. 3. 1974 hatte er seine Ehefrau zur Alleinerbin eingesetzt und seine beiden ehelichen Kinder Gabriele und Eva auf den gesetzlichen Pflichtteil gesetzt. Die Witwe gab zunächst auf Grund des genannten Testamentes zum gesamten Nachlaß die Erbserklärung mit Vorbehalt der Rechtswohltat des Inventars ab, änderte aber in der Folge ihre Erbserklärung in eine unbedingte und erstattete ein eidesstättiges Vermögensbekenntnis. In diesem sind als Aktiven Liegenschaftsanteile mit Wohnungseigentum an einem Büro und Wertpapiere mit einem einbekannten Gesamtwert von 745 851 S und als Passiven Bankforderungen aus einem Girokonto im Betrag von 111 549.92 S, Steuerschulden im Betrag von 123 000 S, Bestattungskosten im Gesamtbetrag von 37 353.51 S sowie Bankforderungen aus einer Mithaftung für Kredite im aushaftenden Gesamtbetrag von 2 219 685 S und demgemäß eine Überschuldung von 1 745 737.43 S ausgewiesen.Nach der Forderungsanmeldung der Bank beruht die gesamtschuldnerische Kredithaftung des Erblassers, die zum Todestag mit 2 219 685 S bekanntgegeben wurde, auf einer Kreditgewährung an die nunmehrige Alleinerbin.Das Abhandlungsgericht hat mit seinem Beschluß vom 23. 11. 1983 die Umwandlung der Erbserklärung der Witwe zur Kenntnis genommen, diese unbedingte Erbserklärung zu Gericht angenommen und das Erbrecht der testamentarischen Alleinerbin als ausgewiesen erklärt, ausgesprochen, daß das Vermögensbekenntnis der Abhandlung zugrunde gelegt wird, die Pflichtteilsentschlagungserklärung der volljährigen Tochter Gabriele zur Kenntnis genommen, die Witwe, der die Besorgung und Verwaltung des Nachlasses bereits früher überlassen worden war, zu Verfügungen über ein Wertpapierdepot ermächtigt, Gebühren des Gerichtskommissärs bestimmt, für die mj. Tochter Eva einen Kollisionskurator bestellt und (mit Punkt 8) die Übersendung der Akten an ein Rechtshilfegericht zur Errichtung eines (Teil-)Inventars über das in die Verlassenschaft fallende Wohnungseigentumsobjekt angeordnet. Diese Anordnung der Inventarserrichtung begrundete das Abhandlungsgericht mit dem Verdacht, daß der Verkehrswert der zu den Aktiven zählenden Liegenschaftsanteile den im Vermögensbekenntnis ausgewiesenen anteiligen steuerlichen Einheitswert erheblich übersteigen könnte. Zum anderen führte das Erstgericht zur Begründung der Kuratorenbestellung aus, daß die gesamtschuldnerische Mitverpflichtung des Erblassers gegenüber der Bank auf einer Kreditaufnahme der nunmehrigen Witwe und Alleinerbin beruhe. Das Abhandlungsgericht erachtete die (amtswegige) Anordnung der Errichtung eines Inventars im § 92 AußStrG begrundet.Das Rekursgericht änderte infolge Anfechtung durch die Alleinerbin Punkt 8 des abhandlungsgerichtlichen Beschlusses iS einer Aufhebung der amtswegig angeordneten Inventarserrichtung ab, weil die mj. Tochter keine Erbserklärung abgegeben, aber auch noch keinen Antrag iS des § 92 Abs. 1 AußStrG, § 804 ABGB gestellt habe. Der Sache nach verneinte das Rekursgericht die Zulässigkeit einer amtswegigen Inventarserrichtung und teilte offenkundig die erweiternde Auslegung des Wortes "Erbe" im § 92 Abs. 2 Z 1 AußStrG in dem Sinne, daß darunter auch Pflichtteilsberechtigte zu verstehen wären, nicht.Der Oberste Gerichtshof stellte über Revisionsrekurs der mj. pflichtteilsberechtigten Tochter den Punkt 8 des Beschlusses des Erstgerichtes wieder her.
Rechtliche Beurteilung
Aus der Begründung:Gemäß § 92 Abs. 2 Z 1 AußStrG ist ein Inventar von Amts wegen ua. dann aufzunehmen, wenn für einen Erben zum Behufe der Verlassenschaftsabhandlung ein Kurator bestellt wird. Die herrschende Rechtsprechung versteht unter dem in der erwähnten Gesetzesstelle genannten Erben auch Pflichtteilsberechtigte. In der Entscheidung GlUNF 4764 nahm der OGH einen Analogiefall ("die gleichen Gründe") an. In der Entscheidung JBl. 1936, 38 folgte er unter Zitierung der genannten Entscheidung aus dem Jahre 1909 ohne Darlegung neuer Argumente der Rechtsprechung, nach der der Ausdruck "Erbe" nicht im engeren Sinne, sondern derart zu fassen sei, daß darunter auch der Noterbe zu verstehen sei. In der Entscheidung 8 Ob 206/66 legte der OGH mit der Formulierung, daß als Erbe auch ein Noterbe gelte, eine erweiternde Auslegung des § 92 Abs. 2 Z 1 AußStrG zugrunde, die nur mit dem Zitat der Entscheidung JBl. 1936, 38 belegt wurde. In der Entscheidung NZ 1974, 13 verneinte der OGH unter Zitierung der zu 8 Ob 206/66 gefällten Entscheidung das Vorliegen einer offenbaren Gesetzwidrigkeit. Dies tat er auch in der zu 7 Ob 752, 753/78 ergangenen Entscheidung mit dem Hinweis, er habe bereits wiederholt zum Ausdruck gebracht, daß eine Inventierung des Nachlasses zwingend vorgesehen sei, wenn minderjährige Noterben vorhanden seien. In der Entscheidung JBl. 1955, 746 wertete der OGH das Absehen von der Errichtung eines Inventars ungeachtet des Vorhandenseins minderjähriger Pflichtteilsberechtigter nicht als amtshaftungsbegrundendes Fehlverhalten, weil zwar nach Lehre und Rechtsprechung beim Vorhandensein von minderjährigen Pflichtteilsberechtigten ein Inventar errichtet werden müsse, das Gesetz dies aber doch nicht ausdrücklich anordne. Demgegenüber fällt auf, daß im Fall des Vermächtnisses eines Bruchteiles des reinen Nachlasses zugunsten eines Minderjährigen - ungeachtet vergleichbarer Interessenslage (vgl. § 160 AußStrG) - kein Grund für eine von Amts wegen anzuordnende Inventarserrichtung erkannt wurde (SZ 12/306; SZ 42/55).
In einem Fall, in dem die Vorinstanzen das Vorliegen der Voraussetzungen nach § 92 Abs. 2 Z 3 AußStrG unterschiedlich beurteilt hatten, billigte der OGH die amtswegige Anordnung der Inventarserrichtung mit Erwägungen aus § 2 Abs. 3 Z 10 AußStrG (GlU 13 808). Diese allgemeine Verfahrensregel kann allerdings im Fall positiver Sonderregelungen (wie hier § 92 Abs. 2 AußStrG) nicht unmittelbar angewendet, sondern nur im Zweifelsfall zur Auslegung herangezogen werden. Rintelen billigt in seinem Grundriß des Verfahrens außer Streitsachen S 65 mit dem Bemerken, daß § 92 AußStrG hier extensiv wohl auch auf Pflichtteilsberechtigte auszudehnen sei, die Entscheidung GlUNF 4764. Ehrenzweig führt diese Entscheidung in seinem System[2], II/2, S 525 in der FN 11 ohne eigene Stellungnahme an. Kralik gibt für die in seinem Erbrecht S 288 geäußerte Meinung, daß unter Erbe auch ein Noterbe zu verstehen sei, keine Begründung.
Bei diesem Meinungsstand ist es zur Rechtfertigung einer erweiternden Auslegung oder analogen Anwendung des § 92 Abs. 2 Z 1 AußStrG, daß iS dieser Gesetzesstelle als Erbe auch ein Pflichtteilsberechtigter zu verstehen sei, geboten, einerseits den Zweck des Inventars und andererseits die besonderen gerichtlichen Aufgaben bei der Abhandlungspflege in Ansehung pflegebefohlener Erben zum einen und in Ansehung von pflegebefohlenen Pflichtteilsberechtigten zum anderen zu bedenken. Das Inventar soll einen - vorläufigen - Überblick über die Zusammensetzung und den Gesamtwert der Verlassenschaft bieten. Dem pflegebefohlenen Erben kann es dabei zunächst eine Entscheidungshilfe an die Hand geben, ob eine Erbserklärung abzugeben oder die Erbschaft auszuschlagen sei. Vor allem dient das Inventar aber dem Gericht, die gemäß § 165 AußStrG gebotene Erbteilung zu beurteilen. Demgegenüber ist die Geltendmachung des Pflichtteilsanspruches im Vergleich zu einer Erbserklärung, wenn auch unter der Rechtswohltat des Inventars, mit vergleichbar geringeren Risken verbunden. Vor allem aber hat das Gericht in Ansehung pflegebefohlener Pflichtteilsberechtigter gemäß § 162 AußStrG nur in dem dort umschriebenen Zweifelsfall von Amts wegen auf den Pflichtteilsausweis zu dringen. In solchen Fällen ist es dann zur Beurteilung der Pflichtteilsausmessung auf ein Inventar als Grundlage angewiesen.
Aus dieser Sicht der Funktion und des Bedarfes nach einem Inventar erscheint die langjährige, jetzt nicht mehr besonders begrundete, sondern nur noch als herrschend dargestellte Rechtsprechung, daß beim Vorhandensein pflegebefohlener Pflichtteilsberechtigter in sinngemäßer Anwendung des § 92 Abs. 2 Z 1 AußStrG von Amts wegen ein Inventar zu errichten sei, mit der Einschränkung gerechtfertigt, daß von der amtswegigen Inventarerrichtung abzusehen wäre, wenn die im § 162 AußStrG umschriebenen Zweifel ausgeschlossen werden könnten. Dies ist in der anhängigen Abhandlung aber sicher nicht der Fall. Wegen der Ausführungen im Rekurs der Alleinerbin gegen die erstinstanzliche Anordnung der Inventarserrichtung sei vorangestellt, daß auch eine zu erwartende Nachlaßüberschuldung die gebotene Errichtung des Inventars nicht entbehrlich macht (SZ 8/99). Gegrundete Bedenken bestehen gegen die Bewertung des Büro-Wohnungseigentums bloß mit dem Anteil des steuerlichen Einheitswertes, vor allem aber gegen die Veranschlagung der Verpflichtung des Erblassers gegenüber der Bank aus seiner Mithaftung für die Kredite seiner nunmehrigen Witwe und Alleinerbin ohne jede Prüfung des Innenverhältnisses der beiden Gesamtschuldner. Im Extremfall könnte als Aktivpost eine volle Regreßpflicht der Kreditnehmerin bestehen. Allein der Umstand, daß die Alleinerbin ungeachtet der von ihr ausgewiesenen Nachlaßüberschuldung im Ausmaß von etwa 1 3/4 Millionen Schilling ihre bedingte Erbserklärung in eine unbedingte umwandelte, mußte die mit der Abhandlungspflege befaßten Gerichte an dem Vermögensstand, wie er sich aus dem eidesstättigen Vermögensbekenntnis ergibt, zweifeln lassen.
Aus diesen Erwägungen war in Stattgebung des Revisionsrekurses Punkt 8 des erstinstanzlichen Beschlusses wiederherzustellen.
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