OGH 8Ob242/78

OGH8Ob242/7815.2.1979

SZ 52/20

Normen

ABGB §1311
Kraftfahrgesetz 1967 §106 Abs1a 1. Satz
ABGB §1311
Kraftfahrgesetz 1967 §106 Abs1a 1. Satz

 

Spruch:

Zur teleologischen Interpretation von Schutznormen

Durch § 106 Abs. 1 a 1. Satz KFG 1967 soll für Kinder unter 12 Jahren die höhere Gefährdung auf den Vordersitzen eines Fahrzeuges hintangehalten werden

OGH 15. Feber 1979, 8 Ob 242/78 (OLG Linz 5 R 90/78; KG Wels 6 Cg 13/78,

Text

Am 18. Juni 1975 ereignete sich gegen 22 Uhr auf der Kreuzung Dragonerstraße-Kaiser Josef-Platz-Dr. Salzmann-Straße-Dr. Koss-Straße in Wels ein Verkehrsunfall, an dem W S als Lenkerin und Halterin eines PKW Alfa-Romeo und der Beklagte als Lenker eines VW-Transporters beteiligt waren. Dabei wurde die am Beifahrersitz des VW-Transporters mitfahrende minderjährige Tochter des Beklagten, S R (geboren am 3. Feber 1966) schwer verletzt. Wegen dieses Verkehrsunfalles wurde W S mit Urteil des Bezirksgerichtes Wels vom 2. Dezember 1975, 4 U 1470/75-12, nach § 88 Abs. 1 und 4 StGB rechtskräftig verurteilt; dies deswegen, weil sie den Vorrang des Lenkers des VW-Transporters, H R, mißachtet hatte. Das Strafverfahren gegen H R wurde gemäß § 90 StPO eingestellt.

Die verletzte minderjährige S R machte ihre Schadenersatzansprüche zu 6 a Cg 139/76 des Kreisgerichtes Wels gegen W S als Lenkerin und Halterin sowie gegen die Allgemeine Versicherungs-Aktiengesellschaft "D A" als Haftpflichtversicherer des unfallsbeteiligten PKW Alfa-Romeo geltend. Mit rechtskräftigem Urteil des Kreisgerichtes Wels vom 28. Feber 1977, wurden die beiden Vorgenannten zur ungeteilten Hand schuldig erkannt, an die minderjährige Klägerin S R den Betrag von 89 813.20 S zu bezahlen. Weiters wurde festgestellt,daß beide Vorgenannten der minderjährigen Klägerin auch für alle künftigen Folgen aus dem Verkehrsunfall vom 18. Juni 1975 im vollen Umfange zu haften haben; die zweitbeklagte Partei ("D A") allerdings nur im Rahmen des bestehenden Versicherungsvertrages.

Mit der vorliegenden Regreßklage begehrt die Klägerin "D A" Allgemeine Versicherungs-Aktiengesellschaft Verurteilung des Beklagten H R zur Zahlung eines Betrages von 50 692.33 S samt Anhang sowie Feststellung, daß der Beklagte H R der Klägerin für ein Drittel sämtlicher Leistungen zu haften habe, welche sie in Hinkunft auf Grund des Urteiles des Kreisgerichtes Wels zu 6 a Cg 139/76 an die minderjährige S R noch erbringen müsse. Dazu wurde vorgebracht, daß der Beklagte H R (Vater der beim Unfall verletzten minderjährigen S R) seine im Unfallszeitpunkt erst rund neunjährige Tochter neben sich auf der ersten Sitzreihe im VW-Transporter befördert habe. Er habe damit gegen § 106 Abs. 1 a KFG verstoßen, der die Beförderung von Minderjährigen auf unmittelbar hinter der Windschutzscheibe gelegenen Sitzreihen verbiete. Der Beklagte H R habe daher die Verletzungen seiner minderjährigen Tochter S R mitverschuldet, wobei dieses Mitverschulden mit einem Drittel zu veranschlagen sei. Da er somit gemeinsam mit der Klägerin (Haftpflichtversicherungsträgerin) gegenüber der beim Unfall verletzten minderjährigen S R hafte, und die Klägerin (Haftpflichtversicherungsträger) bisher Leistungen im Gesamtausmaß von 152 076.99 S an die minderjährige S R erbracht habe, sei die Klägerin im Rückgriffswege berechtigt, vom Beklagten H R den Ersatz von einem Drittel ihrer bisherigen Leistungen (Ein Drittel = 50

692.33 S) zu verlangen. Des weiteren bestehe im Hinblick auf die künftig noch zu erbringenden Leistungen der Klägerin (Haftpflichtversicherungsträgerin) an die minderjährige S R auch ein rechtliches Interesse der Klägerin auf Feststellung dahingehend, daß der Beklagte der Klägerin auch für diese in Hinkunft noch zu erbringenden Leistungen zu einem Drittel zu haften habe.

Der Beklagte wendete ein, es sei wohl richtig, daß er durch die Mitnahme seiner neunjährigen Tochter auf dem Beifahrersitz gegen § 106 Abs. 1 a KFG verstoßen und somit rechtswidrig gehandelt habe. Dessenungeachtet habe er nur für jene Schäden zu haften, die vom Schutzzweck der Verbotsnorm umfaßt seien; also nur für jene Schäden, die die Verbotsnorm geradezu verhindern wolle. Dieser Schutzzweck gehe nur dahin, Verletzungen von Minderjährigen durch ein Schleudern gegen die Windschutzscheibe zu verhindern, nicht aber dahin, jedwede Verletzungen, wie etwa durch Deformierung des Frontgehäuses, hintanzuhalten. Im vorliegenden Fall sei die minderjährige S R nicht durch ein Schleudern gegen die Windschutzscheibe, sondern infolge Deformierung des Frontgehäuses des VW-Transporters und damit verbundenen Einklemmens des linken Beines verletzt worden, so daß der Verstoß des Beklagten gegen die Verbotsnorm des § 106 Abs. 1 a KFG in keinem spezifischen Rechtswidrigkeitszusammenhang mit dem Unfall und den entstandenen Verletzungsfolgen stehe.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab.

Es traf im wesentlichen folgende Feststellungen:

Die am 3. Feber 1966 geborene S R fuhr am 18. Juni 1975 in dem von ihrem Vater H R (Beklagter) gelenkten VW-Transporter auf dem Beifahrersitz mit. Dieser VW-Transporter hatte nur eine einzige Sitzreihe. Auf der Kreuzung Dragonerstraße-Kaiser Josef-Platz-Dr. Salzmann-Straße-Dr. Koss-Straße in Wels kam es dann zu einem Zusammenstoß mit einem von W S gelenkten und gehaltenen sowie bei der Klägerin haftpflichtversicherten PKW Alfa-Romeo, wobei dieser Zusammenstoß von W S durch Mißachtung des Vorranges verschuldet wurde. Die minderjährige S R wurde während des Unfalles nach rechts verdreht, sie erlitt ihre Verletzungen in Sitzposition dadurch, daß ihr linkes Bein infolge der Deformierung der Frontpartie des VW-Transporters eingeklemmt wurde. Es kam dabei zu einem offenen Bruch des linken Unterschenkels sowie zu ausgedehnten Wunden am linken Unterschenkel mit Weichteilquetschungen.

In rechtlicher Hinsicht führte das Erstgericht aus, daß der Beklagte durch die Mitnahme seiner damals neunjährigen Tochter auf dem Beifahrersitz gegen § 106 Abs. 1 a KFG verstoßen habe, der das Befördern von Kindern unter 12 Jahren auf unmittelbar hinter der Windschutzscheibe gelegenen Sitzplätze verbiete; sein Verhalten sei somit rechtswidrig gewesen. Er habe jedoch auf Grund seines rechtswidrigen Verhaltens gleichwohl nur für diejenigen verursachten Schäden zu haften, die vom Schutzzweck der Verbotsnorm umfaßt seien. Die angezogene Gesetzesstelle solle nur Verletzungen von Kindern durch Auffallen auf die Windschutzscheibe verhindern, nicht aber Unfälle wie den vorliegenden.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin teilweise Folge und änderte das Ersturteil dahin ab, daß es der Klägerin - ausgehend von einer Verschuldensaufteilung im Verhältnis von 1 : 4 zu ihren Lasten - 30 415.40 S samt Anhang zuerkannte und dem Feststellungsbegehren im Umfange von 20% der künftigen Haftpflicht-Leistungen stattgab. Das Mehrbegehren wies es - unangefochten - ab.

Das Berufungsgericht bejahte den spezifischen Rechtswidrigkeitszusammenhang zwischen dem Verstoß des Beklagten gegen die Bestimmung des § 106 Abs. 1 a KFG 1967 und der Verletzung der minderjährigen Silvia und gelangte bei der Gegenüberstellung mit der Vorrangverletzung durch den Versicherungsnehmer der Klägerin einer Verschuldensaufteilung im Verhältnis von 1 : 4 zu Lasten der Klägerin.

Der Oberste Gerichtshof gab der Revision des Beklagten nicht Folge.

Rechtliche Beurteilung

Aus den Entscheidungsgründen:

Die Revision des Beklagten steht weiterhin auf dem Standpunkt, daß ein spezifischer Rechtswidrigkeitszusammenhang zwischen der Übertretung der Verbotsnorm durch den Beklagten und der Verletzung des Kindes nicht bestehe. Ihre Ausführungen sind jedoch nicht stichhältig.

Richtig geht die Revision davon aus, daß auf Grund des rechtswidrigen Verhaltens nur für jenen Schaden gehaftet wird, der vom Schutzzweck der Verbotsnorm erfaßt wird. Der Schutzzweck der Norm ergibt sich - wie der OGH wiederholt ausgesprochen hat - aus ihrem Inhalt. Das Gericht hat das anzuwendende Schutzgesetz teleologisch zu interpretieren um herauszufinden, ob die jeweilige Vorschrift, die übertreten wurde, den in einem konkreten Fall eingetretenen Schaden verhüten wollte (ZVR 1974/265 u. v. a.). Bei Prüfung dieser Frage hat das Berufungsgericht zutreffend dargelegt:

Zu dem durch die KFG-Novelle 1971 eingeführten Verbot der Beförderung von Kindern unter 12 Jahren auf den Vordersitzen eines Kraftfahrzeuges (§ 106 Abs. 1 3. Satz KFG i. d. F. der KFG-Novelle 1971 "Kinder unter 12 Jahren dürfen mit Kraftwagen und Motordreirädern nicht auf Sitzplätzen der vordersten Reihe befördert werden;" führte der AB I (510 BlgNR, XII. GP) aus: "Kinder unter 12 Jahren können weder mit Sicherheitsgurten noch immer mit eigenen Kindersitzkörbchen für Kleinkinder geschützt werden. Sie sind meist auch noch nicht in der Lage, sich selbst in geeigneter Weise an Haltegriffen anzuhalten. Ein Verbot ihrer Beförderung auf Plätzen der vordersten Sitzreihe ist daher zur Erhöhung ihrer Sicherheit erforderlich." In die gleiche Richtung des Schutzes von Kindern weist auch die Motivierung, wie sie den stenographischen Protokollen zum Nationalrat, XII. GP, 3902, entnommen werden kann.

Aus dem Wortsinn der Bestimmung des § 106 Abs. 1 3. Satz i d F KFG-Novelle 1971 ergibt sich bei teleologischer Interpretation - wie das Berufungsgericht richtig erkannte - eindeutig, daß es sich hiebei um eine spezifische Schutzvorschrift im Sinne des § 1311 ABGB handelt, mit der für Kinder unter 12 Jahren im Hinblick auf die Unmöglichkeit, sie durch geeignete Vorrichtungen zu schützen, und deren geringere Fähigkeit, sich selbst zu schützen, die höhere Gefährdung auf den Vordersitzen eines Fahrzeuges hintangehalten werden soll. Diese Schutzvorschrift des § 106 Abs. 1 3. Satz KFG i. d. F. der KFG-Novelle 1971 wurde nun - wie das Berufungsgericht zutreffend darlegte - durch die KFG-Novelle 1974 insofern einer Änderung unterzogen, als diese nunmehr unter § 106 Abs. 1 a KFG wie folgt lautet: "Kinder unter 12 Jahren dürfen mit Kraftwagen und Motordreirädern nicht auf unmittelbar hinter der Windschutzscheibe gelegenen Sitzplätze befördert werden;" Anlaß zu dieser Abänderung war die am ursprünglichen § 106 Abs. 1 3. Satz KFG i. d. F. der KFG-Novelle 1971 entstandene Kritik, die sich dagegen richtete, daß die genannte Bestimmung für Schulfahrten unklare Ausnahmebestimmungen enthielt und nicht eindeutig genug das Verbot der Beförderung von Kindern auf dem gefährlichsten Fahrzeugsitz aussprach (vgl. Soche, Kinderbeförderung, ZVR 1972/107). Dieser letztangeführten Kritik

wurde mit der Formulierung " .... unmittelbar hinter der Windschutzscheibe gelegenen Sitzplätzen" .... Rechnung getragen,

womit klargestellt wurde, daß das Verbot auch bei Vorhandensein nur einer einzigen Sitzreihe gilt. Am Sinngehalt der Schutzvorschrift wurde jedoch durch die vorangeführte Abänderung des Gesetzestextes - wie das Berufungsgericht mit Recht darlegte - nichts geändert. Entgegen den Revisionsausführungen kann auch aus der Neufassung durch die KFG-Novelle 1974 nicht geschlossen werden, daß diese spezielle Schutzvorschrift mit dem Zweck der Verhinderung einer Kindergefährdung auf den Vordersitzen eines Kraftfahrzeuges auf irgendwelche Teile des Kraftfahrzeuges oder auf bestimmte Körperreaktionen gegen bestimmte Teile des Kraftfahrzeuges, wie etwa den Anprall gegen die Windschutzscheibe, beschränkt sei.

Mit Recht hat das Berufungsgericht hieraus für den vorliegenden Fall gefolgert, daß der Beklagte durch die Mitnahme seiner erst neunjährigen Tochter S auf dem Beifahrersitz rechtswidrig gehandelt hat und daß auch der spezifische Rechtswidrigkeitszusammenhang mit den eingetretenen Unfallsverletzungen seiner Tochter gegeben ist. Die minderjährige S ist beim Zusammenstoß nach rechts verdreht und mit dem linken Bein eingeklemmt worden, womit aber gerade jene Verletzungsfolge eingetreten ist, die durch die Schutzvorschrift des § 106 Abs. 1 KFG i. d. F. der KFG-Novelle 1974 verhindert werden soll. Daraus erfließt, wie das Berufungsgericht zutreffend darlegte, das Mitverschulden des Beklagten an den Unfallsverletzungen seiner Tochter, so daß er zusammen mit der Klägerin (Haftpflichtversicherungsträgerin) dafür zur ungeteilten Hand haftet. Der dem Beklagten als Übertreter einer Schutznorm im Sinne des § 1311 ABGB obliegende Entlastungsbeweis ist von diesem nicht erbracht worden. Ob auch eine erwachsene Person am Vordersitze verletzt worden wäre, ist hiefür bedeutungslos.

Was die Verschuldensaufteilung anlangt, so hat das Berufungsgericht dem Umstand, daß Vorrangverletzungen schwerer wiegen als andere Verkehrswidrigkeiten, dadurch ausreichend Rechnung getragen, daß es dem Versicherungsnehmer der Klägerin das weitaus überwiegende Verschulden zur Last legte. Hingegen kann der Beklagte - entgegen seinen Revisionsausführungen - nicht von jeglicher Mithaftung losgezählt werden.

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