Spruch:
§ 101 JN ist im Sinne materieller Gegenseitigkeit zu verstehen
OGH 5. September 1978, 3 Ob 623/78 (LG Feldkirch R 143/78; BG Bezau C 394/77 )
Text
Die Klägerin richtete ihre am 19. Juli 1977 beim Erstgericht wegen Nichtzuhaltung eines zwischen den Parteien für die Zeit vom 10. Juli bis 27. Juli 1977 abgeschlossenen Gastaufnahmevertrages eingebrachte Mahnklage gegen den "derzeit Cafe Amely, 6991 Riezlern" befindlichen Beklagten. Der in Grevenbroich/Bundesrepublik Deutschland wohnhafte Beklagte wendete bereits im Widerspruch (AS 5), ferner in der ersten mündlichen Streitverhandlung (AS 16) u. a. örtliche Unzuständigkeit des angerufenen Gerichtes ein - sein Einwand des Fehlens internalionaler Zuständigkeit (inländischer Gerichtsbarkeit) wurde rechtskräftig abgewiesen, weil er zur Zeit der Klagszustellung weder einen Wohnsitz noch einen Aufenthalt in Österreich gehabt und sich lediglich als Besucher im Cafe Amely befunden habe.
Die Klägerin nahm zur Frage der Zuständigkeit des Erstgerichtes zunächst prozessual nicht Stellung. Sie legte allerdings sowohl ein Schreiben des Beklagten vom 10. Mai 1977 vor, in welchem er unter Bezugnahme auf ein Schreiben der Klägerin erklärte, seinen Sommerurlaub im Haus der Klägerin zu verbringen und ein Doppelzimmer ... zu benötigen, als auch den Durchschlag ihres Antwortschreibens, in welchem sie mitteilte, das verlangte Doppelzimmer fest gebucht zu haben. Erst vor Schluß der Verhandlung erster Instanz erklärte die Klägerin, die Zuständigkeit des angerufenen Gerichtes "insbesondere auch noch lauf den § 101 JN und § 29 dZPO" zu stützen (AS 51).
Mit seinem in das im wesentlichen klagsstattgebende Urteil aufgenommenen Beschluß wies das Erstgericht die Einrede der örtlichen Unzuständigkeit mit der Begründung ab, der - festgestellte - Aufenthalt des Beklagten im kleinen Walsertal in der Zeit vom 10. Juli bis 24. Juli 1977 genüge gemäß § 86 JN zur Begründung der örtlichen Zuständigkeit.
Mit dem angefochtenen Beschluß sprach das Berufungsgericht auf Grund der vom Beklagten erhobenen Berufung (§ 261 Abs. 3 ZPO) die örtliche Unzuständigkeit des Erstgerichtes aus, es hob deshalb das angefochtene Urteil sowie das diesem Urteil vorausgegangene Verfahren einschließlich Klagszustellung als nichtig auf und wies die Klage zurück.
Das Berufungsgericht führte im wesentlichen aus, der bloß 14tägige Aufenthalt des Beklagten in Riezlern als Feriengast reiche entgegen der Auffassung des Erstgerichtes zur Begründung der Zuständigkeit gemäß § 86 JN nicht aus; auch die Bestimmung des § 101 JN sei hier nicht anwendbar, weil es sich dabei um eine die "formelle Gegenseitigkeit" betreffende echte Retorsionsbestimmung handle, welche nur zur Anwendung komme, wenn Österreicher im Ausland schlechtergestellt sein als die Angehörigen dieses Staates, was bei der Zuständigkeitsnorm des § 29 dZPO nicht der Fall sei. Da das nach der Aktenlage zuständige Gericht im Ausland liege bzw. jedenfalls kein zuständiges inländisches Gericht feststellbar sei, könne nicht gemäß § 475 Abs. 2 ZPO vorgegangen werden, vielmehr müsse die Klage unter Aufhebung des erstgerichtlichen Urteils und des vorausgegangenen Verfahrens als nichtig zurückgewiesen werden.
Der Oberste Gerichtshof gab dem Rekurs Folge, hob den angefochtenen Beschluß auf und trug dem Berufungsgericht die neuerliche Entscheidung über die Berufung des Beklagten auf.
Rechtliche Beurteilung
Aus der Begründung:
Der gegen diesen Beschluß von der Klägerin erhobene, gemäß § 519 Z. 2 ZPO zulässige Rekurs ist in einem Punkt seiner Ausführungen gerechtfertigt.
Soweit die Klägerin die örtliche Zuständigkeit des Erstgerichtes aus den Bestimmungen der §§ 86, 88 Abs. 1 und 99 JN ableiten zu können glaubt, kann ihr allerdings nicht gefolgt werden.
Zunächst ist, wie bereits das Berufungsgericht zutreffend ausführte, ein 14tägiger Urlaubsaufenthalt einer Person an einem bestimmten Ort nicht geeignet, den einen Aufenthalt von "längerer Dauer" voraussetzenden Gerichtsstand gemäß § 86 JN zu begrunden. Insbesondere ist den Rekursausführungen entgegenzuhalten, daß die im Rekurs zitierte Entscheidung SZ 42/98 einen längeren Besuch, nämlich einen solchen in der Dauer von rund 1 1/2 Jahren (mit Unterbrechungen) betraf, sowie daß es die "Bedürfnisse der Praxis und des modernen Fremdenverkehrs" keinesfalls rechtfertigen, jeden Urlauber wegen sämtlicher Vermögensstreitigkeiten an einem oft weit vom Schwerpunkt seines sonstigen Lebens entfernten Urlaubsort klagen zu können, falls die Klagszustellung noch am Urlaubsort bewirkt werden kann (was oft vom Zufall abhängt).
Für den Gerichtsstand gemäß § 88 Abs. 1 JN fehlt es am urkundlichen Nachweis der Vereinbarung eines bestimmten Ortes als Erfüllungsort; in dem von der Klägerin vorgelegten Schreiben des Beklagten vom 10. Mai 1977 kann entgegen ihrer Auffassung eine derartige Urkunde nicht erblickt werden (vgl. EvBl. 1956/370; RZ 1977/135 u. a.).
Zur Begründung eines etwaigen Vermögensgerichtsstandes im Sinn des § 99 JN hat die Klägerin in erster Instanz überhaupt nichts vorgebracht, es kann daher ununtersucht bleiben, ob ein Urlaubsreisender, welcher im Inland keinen Wohnsitz hat, tatsächlich schon an jedem Ort geklagt werden kann, an welchem er irgendwie verwertbare Reiseeffekten - etwa bloß einen Fotoapparat - mit sich führt (vgl. hiezu Fasching I,479).
Berechtigt ist der Rekurs jedoch, soweit er die Auffassung des Berufungsgerichtes bekämpft, daß hier die Bestimmung des § 101 JN unanwendbar sei, weil es sich dabei um einen "echten Retorsionsgerichtsstand" handle.
Dem Berufungsgericht ist zuzugeben, daß nicht nur die von ihm zitierten Lehrmeinungen - Fasching I, 487 und Scheucher, JBl. 1959, 223 f. -, sondern auch eine Reihe weiterer Autoren - Grünberg, Der Gerichtsstand der Gegenseitigkeit (1903), 9 f.; Sperl, 128 f.; Pollak, System[2], 60 - die Bestimmung des § 101 JN als eine die sogenannte "formelle Gegenseitigkeit" betreffende Anordnung ansehen. Bemerkenswert ist jedoch, daß ein Teil dieser Autoren in erster Linie Beispiele für die Anwendung des § 101 JN anführt und in diesem Zusammenhang auch Zuständigkeitsbestimmungen anderer Staaten als "retorsionsauslösende" Benachteiligung bloß der jeweiligen Ausländer ansieht, obwohl sie formell nicht nur für Ausländer normiert sind - etwa Art. 14 des französischen Code Civil, obwohl ein gleichartiger Gerichtsstand durch Art. 15 CC auch gegen Inländer gewährt wird -, die also in Wahrheit nur in ihren Auswirkungen ausschließlich bzw. vorwiegend Ausländer benachteiligen (vgl. § 99 JN, der faktisch gleichfalls hauptsächlich gegen Ausländer zum Tragen kommt).
Demgegenüber vertritt jedoch eine ganze Reihe namhafter Rechtslehrer die Auffassung, daß die Bestimmung des § 101 JN ebenso wie die zuvor in Geltung gestandene Bestimmung des § 29 lit. d JN "1854" (RGBl. 1852/251) auch dann anzuwenden ist, falls die ausländische, der JN fremde Zuständigkeitsnorm zwischen den Angehörigen ihres eigenen Staates und den Ausländern keinen Unterschied macht, also nach dem Gesetzeswortlaut keine Benachteiligung der Ausländer vorsieht (sogenannte "materielle Gegenseitigkeit"), nämlich (bei den zuerst genannten Autoren zur Zeit der Geltung des § 29 JN 1854 und deshalb chronologisch zitiert) Ullmann, Zivilprozeßrecht[2] (1887), 89;
Schreiber, GZ 1888, 217 f., Walker, Streitfragen (1897), 110;
Horten, Die Jurisdiktionsnorm und ihr Einführungsgesetz (1898), 308;
Demelius, Der neue Civilprozeß (1902), 114; Canstein[3], 309 f.;
Schuster - Bonnott[4], 89; Neumann[3], 272f. bzw. Neumann[4] 247/248; Petschek - Stagel, 107 und Novak, JBl. 1964, 62.
Auch die Rechtsprechung hat vor 1900 wie nach 1900 diese Auffassung vertreten (GlU 8277, 9563, bzw. GlUNF 2409, 4813), teilweise gerade im Zusammenhang mit § 29 dZPO (GlUNF 3098 und 5153); in letzter Zeit allerdings nur in der bisher unveröffentlichten Entscheidung 1 Nd 516/77, da die Entscheidung SZ 28/118 = ZfRV 1960, 40 zur gegenständlichen Frage deshalb nicht verwertbar ist, weil sie offenbar davon ausging, daß die Zuständigkeit des angerufenen Gerichtes gemäß § 101 JN im Anlaßfall jedenfalls - also auch bei Beschränkung der Anwendbarkeit des § 101 JN auf Fälle "formeller Gegenseitigkeit" - zu bejahen ist.
Bei Beurteilung des Anwendungsbereiches der Bestimmung des § 101 JN ist zunächst von deren Wortlaut auszugehen, welcher - wie auch Scheucher (a. a. O., 225) einräumt - für seine Anwendung ohne Rücksicht darauf spricht, ob die betreffende ausländische Zuständigkeitsnorm nur für (dortige) Ausländer oder in gleicher Weise für Inländer und Ausländer gilt. Falls nämlich der Gesetzgeber eine Einschränkung auf Zuständigkeitsbestimmungen, welche sich bloß gegen jeweils Fremde richtet - derartige Bestimmungen sind an sich sehr selten zu finden -, anordnen wollte, wäre es naheliegend gewesen, diese Einschränkung deutlich - etwa durch Einfügung des Wortes "nur" vor der Formulierung "gegen österreichische Staatsangehörige" - zum Ausdruck zu bringen. Aus der gewählten Formulierung "... gegen österreichische Staatsangehörige ...", welche in Wahrheit bloß die Prozeßpassivseite umschreibt, kann daher entgegen der Auffassung Pollaks (a. a. O,) nichts für den von ihm vertretenen Standpunkt abgeleitet werden.
Ferner war entgegen den Ausführungen Scheuchers (a. a. O., 225) bei Einführung des § 101 JN die von ihm abgelehnte Auffassung in Lehre und Rechtsprechung "herrschend" (ebenso Fasching a. a. O. und Hendel, JBl. 1931, 22; vgl. auch die JMVO vom 8. August 1885, VBl. Nr. 56, in welcher die damals neue Bestimmung des § 29 dZPO einfach zwecks "Beobachtung der Reziprozität" bekanntgegeben wurde). Gerade wenn die Absicht bestanden haben sollte, daran etwas zu ändern, wäre es sehr naheliegend gewesen, daß diese Absicht in den Materialien irgendwie ihren Niederschlag gefunden hätte. Außerdem weisen mehrere der zitierten Autoren zutreffend darauf hin, daß die Tendenz damals eher dahin ging, vor allem im Verhältnis zwischen Österreich und Ungarn die jeweils im anderen Land bekannten Gerichtsstände wechselweise zuzulassen.
Nach der insoweit zutreffenden Bekundung aller Autoren ist nun eine etwaige Änderungsabsicht aus den Materialien nicht ersichtlich, ebensowenig kann ihnen entnommen werden, weshalb es zu den - geringfügigen - Änderungen der Überschrift und des Wortlautes der Bestimmung des § 101 JN (gegenüber § 29 lit. d JN 1854 bzw. der ursprünglichen Regierungsvorlage) kam. Es ist daher entgegen der Meinung Sperls (a. a. O., 130) verfehlt, allein aus diesen Änderungen eine wesentliche Änderung des Inhaltes der gegenständlichen Bestimmung ableiten zu wollen, zumal der in der Überschrift eingeführte Ausdruck "Gegenseitigkeit" in Wahrheit vollkommen wertneutral ist - er bedeutet in vielen Fällen Begünstigung (vgl. § 57 Abs. 2 Z. 1 ZPO) und nicht Vergeltung - und daher keinesfalls die Anordnung einer eindeutigen "Vergeltungsnorm" indiziert. Ferner kann auch einer die "materielle" Gegenseitigkeit voraussetzenden Zuständigkeitsbestimmung durchaus die Überlegung Pate gestanden haben, daß auch das Bestehen von Zuständigkeitsnormen, welche nach ihrem Wortlaut keine unterschiedliche Behandlung von Inländern und Ausländern vorsehen, sich faktisch "häufiger und drückender" gegen Ausländer auswirkt (in diesem Punkt ist Sperl a. a. O. beizutreten). Außerdem muß es durchaus nicht dem Streben nach "Vergeltung" entspringen, wenn ein Ausländer in Österreich genauso behandelt wird wie in seinem eigenen Land (und zusätzlich Österreicher im betreffenden ausländischen Staat).
Aus allen diesen Erwägungen sind die von den Vertretern der sogenannten "formellen Gegenseitigkeit" gebrauchten Argumente als nicht stichhältig anzusehen (ein Teil von ihnen begnügt sich ohnedies mit der apodiktischen Behauptung, die Bestimmung des § 101 JN sei bei Vorliegen einer sich in gleicher Weise auf Inländer und Ausländer beziehenden ausländischen Zuständigkeitsbestimmung nicht anzuwenden).
Demzufolge hält der OGH an seiner Rechtsprechung fest, daß auch bei ausländischen Zuständigkeitsnormen, die ohne Unterschied für In- und Ausländer gelten, die Bestimmung des § 101 JN anzuwenden ist.
Im vorliegenden Fall bestimmt nun § 29 Abs. 1 dZPO, daß für Streitigkeiten aus einem Vertragsverhältnis und über dessen Bestehen das Gericht des Ortes zuständig ist, an welchem die strittige Verpflichtung zu erfüllen ist. Nach dieser Bestimmung bedarf es somit für den "Gerichtsstand des Erfüllungsortes" abweichend von § 88 Abs. 1 JN keiner urkundlich nachzuweisenden Vereinbarung, zuständigkeitsbegrundend ist vielmehr bereits der nach dem Inhalt des jeweiligen Vertrages gesetzlich vorgesehene Erfüllungsort (ebenso Baumbach - Lauterbach - Albers - Hartmann, dZPO, Anm. 2 und 3 zu § 29 u.a.).
Als Erfüllungsort ist beim gegenständlichen Vertrag Mittelberg anzusehen, die örtliche Zuständigkeit des Erstgerichtes ist daher unter der Voraussetzung, daß es sich beim Beklagten um einen Staatsangehörigen der Bundesrepublik Deutschland handelt, zu bejahen, wobei es zufolge § 473 Abs. 2 ZPO Aufgabe des Berufungsgerichtes gewesen wäre, diese Staatsangehörigkeit vor seiner Entscheidung zu ermitteln.
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