OGH 5Ob559/76

OGH5Ob559/766.4.1976

SZ 49/50

Normen

ABGB §142
ABGB §142

 

Spruch:

Ist ein Elternteil unbekannten Aufenthaltes, steht grundsätzlich dem anderen Elternteil das Recht auf Pflege und Erziehung des ehelichen Kindes zu, das ihm nur bei Vorliegen der strengen Voraussetzungen der §§ 176 bis 178 ABGB genommen werden darf; die Vornahme einer bloßen Interessenabwägung wie bei einer Entscheidung nach § 142 ABGB ist offenbar gesetzwidrig

OGH 6. April 1976, 5 Ob 559/76 (KG Leoben R 727/75; BG Bruck a. d. Mur P 128/70)

Text

Die Minderjährige stammt aus der am 8. Feber 1969 geschlossenen und bereits am 3. März 1970 wieder geschiedenen Ehe des Karl und der Annemarie R. Mit dem vor der Scheidung geschlossenen, sodann pflegschaftsbehördlich genehmigten Vergleich wurde die Minderjährige der Mutter in Pflege und Erziehung überwiesen. Der Vater hielt sich weitgehend in der Bundesrepublik Deutschland auf und überwies nur zeitweise Unterhaltsbeträge, so daß im Jahre 1970 die Bezirksverwaltungsbehörde Bruck an der Mur zur Unterhaltshereinbringung zum besonderen Sachwalter bestellt werden mußte. Die Mutter kümmerte sich kaum um das Kind, das sie bald auf einem Pflegeplatz unterbrachte. Sie nahm das Kind zwar später zu sich, verließ aber am 1. April 1971 ihren zweiten Ehegatten Peter S unter Zurücklassung des Kindes. Mit Beschluß des Erstgerichtes vom 7. Mai 1971 wurde die im Rahmen der Erziehungshilfe von der Bezirkshauptmannschaft Bruck an der Mur, Jugendfürsorgereferat, erfolgte Unterbringung des Kindes auf einem Pflegeplatz gemäß § 26 Abs. 2 JWG pflegschaftsbehördlich genehmigt. Zu Beginn des Jahres 1972 kam das Kind zu den mütterlichen Großeltern Blasius und Anna P und wird seither von ihnen sorgsam und liebevoll erzogen und betreut. Vom Vater an die Mutter überwiesene Unterhaltsbeträge wurden von dieser für sich verbraucht. Die Mutter ist am 24. Juni 1975 auch aus dem Haus ihres dritten Ehegatten Otmar P in O unter Zurücklassung zweier später geborener Kinder fortgezogen und nunmehr unbekannten Aufenthaltes.

Im August 1975 stellte der Vater den Antrag, ihm das Kind in Pflege und Erziehung zu übergeben. Er habe inzwischen eine modern eingerichtete Zweizimmerwohnung in K gemietet, sei als Kraftfahrer beschäftigt und erziele eingutes Einkommen. Er lebe mit Ludmilla H zusammen und beabsichtige, sie in Kürze zu heiraten. Sie habe sich ausdrücklich bereit erklärt, ihre Berufstätigkeit aufzugeben und sich ausschließlich dem Haushalt und der Minderjährigen zu widmen. Die Wohnung der mütterlichen Großeltern sei klein und ungünstig gelegen, die Großeltern könnten sich wegen zahlreicher anderer Verpflichtungen nicht ausreichend um das Kind kümmern.

Am 3. September 1975 stellten der mütterliche Großvater Blasius P und später auch dessen Ehegattin Anna den Antrag, das Kind ihnen in Pflege und Erziehung zu überlassen. Das Kind kenne seinen Vater überhaupt nicht, er habe sich um es überhaupt nicht gekümmert. Das Kind befinde sich praktisch seit dem Jahre 1970 bei ihnen. Sie hätten eine zirka 80 m2 große Wohnung, in der sie, zwei 16 und 12 Jahre alte Kinder und die Minderjährige wohnten. Jeder Großelternteil sei nur jeweils halbtags beschäftigt, so daß immer einer das Kind beaufsichtigen könne.

Die Bezirksverwaltungsbehörde Bruck an der Mur äußerte sich dahin, die Pflege- und Erziehungsverhältnisse bei den mütterlichen Großeltern seien vollkommen in Ordnung, sie hätten das Kind praktisch unentgeltlich erhalten, da sie von den Eltern des Kindes Unterhaltsbeiträge nicht bekommen hätten. Der Vater habe zwar wohl teilweise Zahlungen von 24 000 S geleistet, jedoch an die Mutter, die die erhaltenen Beträge veruntreut habe. Die Unterbringungsverhältnisse bei den Großeltern seien ausreichend. Die Bezirksverwaltungsbehörde beantragte, die Pflege und Erziehung durch die mütterlichen Großeltern auch formell zu genehmigen.

Das Erstgericht überließ die Minderjährige ihren mütterlichen Großeltern Blasius und Anna P in Pflege und Erziehung; der Vater wurde mit seinen Antrag auf Übergabe des Kindes in seine Pflege und Erziehung auf diese Entscheidung verwiesen. Der Vater habe von 1971 bis 1975 nur in unregelmäßigen Abständen Unterhaltszahlungen geleistet, die von der Mutter für sich verbraucht worden seien. Um das persönliche Wohl seines Kindes habe er sich nicht gekümmert, sondern sei unbekannten Aufenthaltes gewesen. Unter diesen Umständen müsse im wohlverstandenen Interesse des Kindes erkannt werden, daß es ein allzu großes Risiko wäre, dem Vater das Kind, zu dem er überhaupt keine persönliche Bindung habe, nunmehr in Pflege und Erziehung zu übergeben und gleichzeitig aus der bisher gewohnten Umgebung zu nehmen, in der es sorgsam und liebevoll erzogen und gut betreut worden sei. Es stehe also das Wohl des Kindes in Frage, so daß dem Antrag seines Vaters nicht stattgegeben werden könne.

Das Rekursgericht bestätigte die Entscheidung des Erstgerichtes. Bei der Entscheidung über die Überlassung der Pflege und Erziehung eines Kindes an einen Elternteil sei in erster Linie das Wohl des Kindes maßgebend. Die Bedachtnahme darauf stelle das Grundprinzip des Pflegschaftsverfahrens dar. Es liege vor allem die gleichmäßige Erziehung im Interesse des Kindes. Es sei seit Jahren bei seinen mütterlichen Großeltern und werde dort sorgfältig erzogen. Die Vermeidung eines Pflegeplatzwechsels liege im wohlverstandenen Interesse des Kindes. In diesem Sinn erfahre das nach Aufgabe der Erziehungsrechte durch die Mutter vom Gesetz dem Vater eingeräumte Erziehungsrecht eine Einschränkung. Die Frage der möglichen Verletzung der Unterhaltsverpflichtungen des Vaters, die von ihm in Abrede gestellt würden, brauche bei dieser Sachlage nicht aufgerollt werden. Mit Recht habe das Pflegschaftsgericht auf die fehlenden persönlichen Bindungen des Vaters zum Kind hingewiesen, die bei einer Übergabe des Kindes an den Vater psychische Nachteile befürchten ließen. Dem Abbau der bestehenden Entfremdung zwischen Kind und Vater und der Herbeiführung gegenseitiger Kontakte werde die Einräumung eines entsprechenden Besuchsrechtes dienen, auf das der Vater verwiesen sei.

Der Oberste Gerichtshof gab dem Revisionsrekurs des Vaters Folge. Die Beschlüsse der Untergerichte wurden aufgehoben. Die Sache wurde zur Ergänzung des Verfahrens und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Rechtliche Beurteilung

Aus der Begründung:

Gemäß § 139 ABGB haben die ehelichen Eltern die Verbindlichkeit, ihre Kinder zu erziehen; es handelt sich hiebei nicht nur um eine Pflicht, sondern es steht ihnen auch primär das Recht zu, diese Erziehung durchzuführen (EvBl. 1975/229 u. a.). Die gemeinschaftliche Erziehung ehelicher Kinder durch beide Elternteile hat jedoch die Lebensgemeinschaft der Eltern zur Voraussetzung. Besteht eine solche nicht, wird eine gemeinschaftliche Erziehung unmöglich. Wird die Ehe geschieden, hat das Gericht darüber zu entscheiden, ob das aus der Ehe stammende Kind dem Vater oder der Mutter zu überlassen ist (§ 142 Abs. 1 ABGB). Das primäre Recht, das Kind zu pflegen und zu erziehen, bleibt damit bei den Eltern, es kann nur wegen ihrer Trennung nur mehr von einem einzigen Elternteil ausgeübt werden. Stirbt ein Elternteil, kann es dem überlebenden Gatten nicht verwehrt werden, das eheliche Kind in seine Pflege und Erziehung zu nehmen; eine andere Regelung sieht das Gesetz vor, wenn die Voraussetzungen der §§ 176 bis 178 ABGB gegeben sind und durch die bestehenden Umstände das Wohl des Kindes gefährdet ist. Der OGH hat in einem solchen Fall bereits dargetan, daß die Rechtsmeinung, daß über diese Vorschriften des bürgerlichen Rechtes hinaus die Rechte des überlebenden Elternteiles allein schon durch das Wohl und die Interessen des Kindes ihre Schranken finden, offenbar gesetzwidrig ist (SZ 27/83; vgl. EvBl. 1972/57; JBl. 1967, 433). Der OGH hat weiterhin bereits ausgesprochen, daß bei der Entscheidung über die Frage, in wessen Pflege und Erziehung ein eheliches Kind nach dem Ableben eines Elternteiles zu kommen hat, nur die Voraussetzungen der §§ 176 bis 178 ABGB von Amts wegen zu prüfen sind und zu klären ist, ob eine Schädigung oder Gefährdung des leiblichen, geistigen und sittlichen Wohles des Kindes zu befürchten ist (SZ 27/83; in diesem Sinne auch EvBl. 1974/120). Auch wenn die Voraussetzungen für ein Ruhen der elterlichen Gewalt gegeben sind, vereinigt sich die gesamte Erziehungsgewalt in Händen jenes Elternteiles, dessen Erziehungsgewalt durch die gerichtliche Entscheidung nicht betroffen ist (SZ 46/88). Nur wenn auch dieser Elternteil unter Beachtung der strengen Voraussetzungen der §§ 176 bis 178 ABGB zur Erziehung nicht geeignet ist, kann sodann die Erziehungsgewalt einer dritten Person oder Stelle übertragen und das Kind dann auch auf einem geeigneten Pflegeplatz untergebracht werden (EvBl. 1974/120; SZ 46/88 u. a.). Für die Unterbringung bei einem Dritten muß ein Erziehungsnotstand vorliegen, der gegeben ist, wenn die Eltern für das Kind überhaupt nicht sorgen oder die Fürsorge so unzulänglich ist, daß das Wohl des Kindes oder der Allgemeinheit gefährdet wird; nur wenn aus schwerwiegenden Gründen die Erziehungseignung beider Eltern verneint werden muß, kann deren primäres Erziehungsrecht ausgeschaltet werden. Schwierigkeiten, die sich aus der Zuweisung eines Kindes zu einem Elternteil in psychischer Hinsicht ergeben könnten, können nur dann berücksichtigt werden, wenn sich daraus eine konkrete ernste Gefahr für die Entwicklung des Kindes und nicht bloß eine vorübergehende Gefahr ergeben würde (EvBl. 1975/229; JBl. 1967, 433). Es müßte ein Mißbrauch des Sorgerechtes vorliegen, wenn also etwa durch den geforderten Wechsel in der Erziehung und des Aufenthaltes schwere seelische und Erschütterungen beim Kind hervorgerufen werden würden und seine seelische Entwicklung gestört oder gefährdet wäre (EvBl. 1972/57). Grundsätzlich kommt demnach, wenn ein Elternteil die Pflege und Erziehung übernehmen will und kann und nicht die dargestellten schweren Bedenken bestehen, eine Überlassung der Pflege und Erziehung an dritte Personen, auch an Großeltern, nicht in Betracht (JBl. 1960, 638; EvBl. 1958/301 u.a.). Keine anderen Grundsätze können in einem Fall wie dem vorliegenden gelten, in dem die Mutter zwar nicht gestorben oder entmundigt, aber unbekannten Aufenthaltes ist und sich offensichtlich um das Kind überhaupt nicht kümmert. Auch in einem solchen Fall steht dann das Recht auf Pflege und Erziehung primär dem Vater zu. Die Anwendung der Grundsätze des § 142 Abs. 1 ABGB auf eine Entscheidung, ob ein eheliches Kind seinem Vater oder den mütterlichen Großeltern in Pflege und Erziehung überlassen wird, ist offenbar gesetzwidrig.

Den Untergerichten ist eine solche Gesetzwidrigkeit unterlaufen, als sie nur eine Interessenabwägung vornahmen, wie sie allein bei einer Entscheidung nach § 142 ABGB stattzufinden hat. Sie haben überhaupt nicht geklärt, ob und inwieweit eine Pflege und Erziehung beim Vater dem Kind schaden könnte, wie die persönlichen und charakterlichen Verhältnisse des Vaters sind, wie er wohnt, welche psychische Verfassung das Kind hat, ja nicht einmal, warum sich der Vater in der Vergangenheit nicht oder wenig um das Kind kümmerte und ob er überhaupt bzw. warum er seinen Unterhaltsverpflichtungen nicht nachkam. Es gibt zudem nicht selten Fälle, in denen noch jugendliche Väter zunächst ihre Pflichten verkennen, später mit zunehmendem Alter aber sehr wohl einen geordneten Lebenswandel führen und dann bereit und in der Lage sind, ihre Pflichten als Väter voll zu erfüllen. Nur wenn die oben dargestellten gewichtigen, noch zu klärenden Umstände dagegen sprechen, daß das Kind zu seinem Vater kommt, wird sein Antrag abgelehnt werden dürfen. Daß formell die gerichtliche Erziehungshilfe noch nicht aufgehoben wurde, ist nicht von wesentlicher Bedeutung, da sie offenbar auch die Bezirksverwaltungsbehörde nicht mehr für notwendig hält und eine Maßnahme der Erziehungshilfe ohnehin aufzuheben ist, wenn die Erreichung ihres Zweckes auf andere Weise sichergestellt ist, was gewiß gesagt werden könnte, wenn die Verhältnisse beim Vater so wären, daß kein Erziehungsnotstand mehr angenommen werden müßte.

Um über die Anträge des Vaters und der mütterlichen Großeltern unter Beachtung obiger Grundsätze abschließend entscheiden zu können, bedarf es einer Ergänzung des Verfahrens erster Instanz. Die Beschlüsse der Untergerichte sind demnach aufzuheben und die Sache zur Ergänzung des Verfahrens und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen.

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