European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:1975:0020OB00283.75.0129.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die Klägerin ist schuldig, der Beklagten die mit 2.099,50 S (darin 155,50 S Umsatzsteuer; keine Barauslagen) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
Am 29. April 1974 fuhr die Klägerin mit einem Fahrrad auf dem Güterweg F*. Die * 1963 geborene A*, eine Tochter der Beklagten, überholte die Klägerin mit einem Fahrrad knapp vor der Zufahrt zu ihrem Elternhaus und bog unmittelbar danach nach rechts in diese Zufahrt ein. Die Klägerin kam zu Sturz und wurde verletzt.
Die Klägerin begehrt von der Beklagten Zahlung von 5.100 S an Verdienstentgang und 30.000 S an Schmerzengeld sowie die Feststellung der Haftung der Beklagten für künftige Unfallschäden. Sie behauptet ein Verschulden der Beklagten, weil diese als Erziehungsberechtigte ihrer Tochter A* ihre Obsorgepflicht verletzt habe. Durch Ankauf eines Kinderfahrrades, mit dem die Minderjährige schon längere Zeit habe fahren können, und dessen nicht ausreichende Verwahrung habe es die Beklagte ermöglicht, daß ihre noch nicht 12‑jährige Tochter auf einer öffentlichen Straße gefahren sei. Ein mögliches Verbot des Fahrens auf einer derartigen Straße dem Kinde gegenüber sei keine ausreichende Maßnahme gewesen.
Die Beklagte bestreitet eine Vernachlässigung der Obsorge und beantragt Klagsabweisung. Sie habe ihrer Tochter A* immer wieder und insbesondere auch am Unfallstag verboten, auf einer öffentlichen Straße zu fahren, und habe von dem stets folgsamen Kind erwarten können, daß es sich an das Verbot halte. Die Beklagte bestreitet das begehrte Schmerzengeld auch als überhöht, einen Verdienstentgang als nicht eingetreten und ein Feststellungsinteresse als nicht gegeben.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren vollinhaltlich ab.
Das Berufungsgericht bestätigte das Ersturteil und sprach aus, daß der Wert des Streitgegenstandes, über den es entschied, 50.000 S übersteige.
Die Klägerin erhebt Revision gegen das berufungsgerichtliche Urteil aus dem Revisionsgrund des § 503 Z. 4 ZPO mit dem Antrag, das Urteil des Berufungsgerichtes aufzuheben und die Rechtssache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht oder allenfalls an das Gericht erster Instanz zurückzuverweisen, hilfsweise auf Abänderung des angefochtenen Urteils im Sinne einer Klagsstattgebung dem Grunde nach und Rückverweisung der Rechtssache hinsichtlich der Höhe der Klagsansprüche an die zweite oder erste Instanz.
Die Beklagte erstattete eine Revisionsbeantwortung, mit der sie beantragt, der Revision der Klägerin nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist nicht gerechtfertigt.
Dem Urteil des Berufungsgerichtes liegen folgende Tatsachenfeststellungen zugrunde:
Die Beklagte ist Mutter der * 1963 geborenen A*, die mit vier jüngeren Geschwistern gemeinsam am elterlichen Hof lebt. Das Kind A* besuchte zunächst die Volksschule in M*. Da A* sehr schüchtern war und der Lernerfolg ausblieb, kam sie in die Sonderschule nach R*. Dort besucht sie die fünfte Klasse mit, bezogen auf das Leistungsbild der Klasse, durchschnittlichem Erfolg. Auch ihre Begabung ist eine durchschnittliche. „Disziplinäre Verfehlungen“ hat sich das Mädchen bisher nicht zuschulden kommen lassen. Sie ist meist folgsam und wird von ihrer Mutter streng erzogen. In der Schule waren Zurechtweisungen und Strafen kaum nötig.
Das Anwesen der Beklagten befindet sich in der Ortschaft A*. Das ca. 10 m vom Haus entfernte Wirtschaftsgebäude ist von einem Feldweg umgeben, der bei trockenem Wetter mit dem Fahrrad befahren werden kann. Die Verbindung des Hofes mit der nächsten öffentlichen Straße, dem nach M* führenden Güterweg F*, bildet ein in schlechtem Zustand befindlicher ca. 50 m langer Karrenweg. Der Güterweg F* hingegen ist asphaltiert und ca. 3,5 m breit. Er wird zur Tageszeit von Kraftfahrzeugen relativ wenig benützt.
A* kann ungefähr seit ihrem 7. Lebensjahr radfahren. Sie und auch ihre jüngere Schwester F* erlernten es mit einem Kinderfahrrad im Bereich des elterlichen Hofes. Die Eltern der Kinder hatten nichts dagegen einzuwenden, daß die Kinder radfuhren, weil sie beabsichtigten, diese zu gegebener Zeit mit dem Fahrrad zur Schule zu schicken. Sie ermahnten die Kinder aber immer wieder, nicht auf dem Güterweg F* zu fahren. Die Vorschrift des § 65 StVO, wonach Kinder unter 12 Jahren ohne Beaufsichtigung nicht auf öffentlichen Straßen mit dem Fahrrad fahren dürfen, war den Eltern bekannt. Die mj. A* hat das Verbot der Eltern fast immer beachtet.
Zu ihrem 11. Geburtstag erhielt A* ein „Auto‑Minifahrrad“ geschenkt. Die Fahrräder der Familie waren im ebenerdig gelegenen Vorhaus des Anwesens untergebracht. Sie waren unversperrt. Auch die Haustür ist normalerweise tagsüber nicht abgeschlossen, sodaß die Fahrräder für die Kinder leicht zugänglich waren.
Am Unfallstag hatte die Beklagte, da ihr Ehegatte G* im Krankenhaus weilte, ihre fünf Kinder (im Alter von 11, 9, 8, 7 und 1 Jahr) allein zu beaufsichtigen. An diesem Tage wurde die elfjährige A* von ihrer Freundin S* gebeten, mit dem Rad mit nach M* zu fahren. A* bat die Beklagte um Erlaubnis hiezu, die Beklagte erlaubte es jedoch nicht. A* nahm hierauf entgegen dem Verbot ihrer Mutter das Fahrrad aus dem Vorhaus und fuhr mit ihrer Freundin und ihrer jüngeren Schwester F* weg. Auf dem Rückweg von M* ereignete sich der Unfall. A* überholte kurz vor Erreichen der Zufahrt zum Hof der Eltern die auf dem Güterweg in derselben Richtung mit dem Fahrrad fahrende Klägerin. Unmittelbar nach dem Überholen lenkte A* ihr Rad nach rechts, um die Zufahrt zu erreichen und schnitt dabei der Klägerin den Weg ab, wodurch diese zum Sturz kam und sich dabei einen Bruch des linken Unterarms zuzog. Da die Beklagte im Haushalt anderweitig beschäftigt war, hatte sie das Wegfahren der Kinder nicht bemerkt. Der Unfall wurde angezeigt, das Strafverfahren jedoch gemäß § 90 StPO eingestellt.
In rechtlicher Hinsicht vertrat das Erstgericht die Auffassung, daß der Beklagten eine Vernachlässigung der Obsorge über ihre Tochter A* nicht angelastet werden könne. Einer besonderen Beaufsichtigung des Kindes hätte es nicht bedurft, weil dieses – wenn auch Sonderschülerin – durchschnittlich begabt, gegenüber seinen Eltern folgsam gewesen sei und auch in der Schule keinen Hang zu „disziplinärem Fehlverhalten“ gezeigt habe. Wegen der Überlastung der Beklagten durch ihre Sorgepflicht für fünf Kinder wäre der Beklagten auch eine dauernde Beaufsichtigung der 11‑jährigen Tochter nicht zumutbar gewesen. Der Ankauf des Fahrrades stelle kein Verschulden dar. Da die Beklagte mit der Benützung des Fahrrades auf einer öffentlichen Straße durch die Kinder wegen der beim Anwesen vorhandenen Feldwege nicht habe rechnen müssen, sei auch eine besondere Verwahrung des Rades nicht erforderlich gewesen.
Das Berufungsgericht führte in seiner rechtlichen Beurteilung aus, Voraussetzung der Inanspruchnahme der Haftung nach § 1309 ABGB sei abgesehen von der Schadensverursachung durch einen Unmündigen, daß der Belangte seine ihm obliegende Aufsichtspflicht schuldhaft verletzt habe. Das Maß der Aufsichtspflicht bestimme sich stets nach dem, was angesichts des Alters, der Eigenschaften, der Entwicklung des Aufsichtsbedürftigen und der wirtschaftlichen Lage des Aufsichtsführenden von letzterem vernünftigerweise verlangt werden kann. Hiebei seien die eigenen Lebensverhältnisse und beruflichen Obliegenheiten des Aufsichtspflichtigen zu berücksichtigen.
Richtig sei, daß die mj. A* im Unfallszeitpunkt Sonderschülerin war. Da sich das Kind aber bereits in der fünften Klasse befand, nach dem Leistungsbild der Klasse durchschnittlich begabt und in der Regel folgsam gewesen sei, auch keinen Hang zu verbotswidrigem oder gefährlichem Verhalten gezeigt habe, sei es schon im Hinblick auf das Alter des Kindes im Unfallszeitpunkt von 11 Jahren nicht erforderlich gewesen, es ständig im Auge zu behalten oder zu überprüfen, ob es sich immer an die erteilten Weisungen – so insbesondere am Unfallstag an das Verbot, nach M* mit dem Fahrrad zu fahren – halte. Da Kinder während des Schulweges der Aufsicht der Eltern oder anderer Erziehungsberechtigter in der Regel überhaupt entzogen seien, habe es umsoweniger einer besonderen Aufsicht bedurft, wenn sich das Kind in der Nähe des elterlichen Anwesens aufhielt. Dafür, daß der Beklagten bekannt gewesen sei, daß A* oder andere ihrer Kinder gegen das Verbot des Radfahrens auf einer öffentlichen Straße bereits verstoßen hatten, liege weder eine Prozeßbehauptung der Klägerin noch ein Beweisergebnis vor. Sei der Beklagten dies aber ohne ihr Verschulden nicht bekannt gewesen, dann habe für sie auch keine Veranlassung bestanden, insbesondere am Unfallstag zu überprüfen, ob A* sich an das wiederholt ausgesprochene generelle Verbot der Benützung der öffentlichen Straßen mit dem Fahrrad halte. Im konkreten Falle habe daher das an das Kind gerichtete Verbot, nach M* zu fahren, genügt, zumal eine ständige intensive Beaufsichtigung aller fünf Kinder durch die Beklagte, deren Mann sich im Krankenhaus befand, dieser unmöglich und unzumutbar gewesen sei. Wenn es der Beklagten unter den gegebenen Umständen entgangen sei, daß die mj. A* mit dem Rad auf der öffentlichen Straße fuhr, könne dies nicht als schuldhaftes Verhalten der Beklagten angesehen werden. Ebensowenig liege in dem Ankauf eines Fahrrades und dessen unversperrtem Abstellen im Parterre des Anwesens ein Verschulden, zumal, weil die Benützung eines Fahrrades durch ein noch nicht 12 Jahre altes Kind auf einer nicht öffentlichen Verkehrsfläche, nicht verboten sei.
Als Hauptargument – das unter fünfmaliger (!) Wiederholung vorgetragen wird – der auch sonst weitwendigen Revisionsausführungen macht die Klägerin geltend, daß die Beklagte gegen die an die Aufsichtspflichtigen gerichtete Schutznorm des § 65 StVO 1960 verstoßen habe und daher, mangels des von ihr gemäß § 1311 ABGB zu erbringenden Gegenbeweises, nach dieser Gesetzesstelle für den Schaden der Klägerin hafte.
Hieran ist richtig, daß Normen der Straßenverkehrsordnung grundsätzlich Schutzvorschriften im Sinne des § 1311 ABGB sind (ZVR 1959/264; ZVR 1961/18; uam; Koziol, Haftpflichtrecht II, 85; Koziol-Welser I3, 307). Es trifft auch zu, daß sich die Schutzvorschrift des § 65 StVO 1960 an die hinsichtlich radfahrender Kinder aufsichtspflichtigen Personen richtet, deren Verschulden sich daher auch nicht auf die Zufügung des Schadens, sondern auf die Übertretung der Schutznorm im engeren Sinne beziehen muß (ZVR 1974/242; Koziol, Haftpflichtrecht II, 88). Nach der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes macht jedoch nicht schon die objektive Übertretung einer Schutznorm haftbar, sondern es muß die Übertretung verschuldet sein, wobei den Beweis für die Schuldlosigkeit der Schädiger (Übertreter) zu erbringen hat (SZ 37/159 = ZVR 1965/195; ZVR 1966/157; EvBl 1970/310 = ZVR 1970/232; auch Ehrenzweig, Recht der Schuldverhältnisse, § 301, Anm. 33; Gschnitzer, Schuldrecht, 171; für den Rechtsbereich der BRD Palandt 34, Anm. 9 c zu § 823 BGB). Die aufsichtspflichtige Beklagte würde demnach für den Schaden nur dann, haften, wenn sie nicht den Beweis dafür zu erbringen imstande wäre, daß sie selbst nicht schuldhaft die Obsorge vernachlässigt hat.
Das Maß der Aufsichtspflicht bestimmt sich nach dem, was angesichts des Alters, der Eigenschaften und der Entwicklung des Aufsichtsbedürftigen einerseits sowie der wirtschaftlichen Lage und der Lebensbedingungen des Aufsichtspflichtigen andererseits vernünftigerweise verlangt werden kann (EvBl 1968/379 ua; zuletzt 8 Ob 7/72). Zutreffend sind danach die Untergerichte zu der Auffassung gelangt, daß das konkrete Verbot der Beklagten an ihr Kind, mit dem Fahrrad nach M* zu fahren, ausreichte, um ihrer Aufsichtspflicht zu genügen.
Wenn die Revisionswerberin demgegenüber meint, dieses Verbot sei nicht ausreichend gewesen, es hätte vielmehr eines generellen Verbotes und einer strengeren Beaufsichtigung – weil das Kind minderbegabt (Sonderschülerin) sei – bedurft, zumal es das Fahrrad erst kurz vorher geschenkt bekommen habe, und ein Verschulden der Beklagten liege auch darin, daß das Fahrrad unversperrt verwahrt wurde, so sind die diesbezüglichen Ausführungen nicht geeignet, die Richtigkeit der rechtlichen Beurteilung und ihrer ausführlichen Begründung durch das Berufungsgericht zu erschüttern. Entscheidend bleibt, ob die Beklagte, die fünf Kinder allein zu versorgen und zu beaufsichtigen sowie nach der Aktenlage eine Kleinlandwirtschaft zu betreuen hatte, damit zu rechnen brauchte, daß das Kind A* das auf seine spezielle Bitte hin ausgesprochene Verbot der Mutter, mit dem Rad nach M* zu fahren, mißachten werde. Für eine derartige Annahme reichen aber die tatsächlichen Feststellungen der Untergerichte nicht aus. Nach dem Alter des Kindes, seinem geistigen Entwicklungsstand und seinem im allgemeinen folgsamen Verhalten, aber auch nach dem, was der aufsichtspflichtigen Mutter in Berücksichtigung ihres sonstigen großen Pflichtenkreises zumutbar war, konnte von der Beklagten mehr zu tun, als dem Kind die Radfahrt nach M* zu verbieten, vernünftigerweise nicht verlangt werden.
Die von der Revision mit der Rechtslage beim Betrieb von Kraftfahrzeugen gezogenen Vergleiche und die dazu zitierten Entscheidungen, denen durchwegs anders gelagerte Sachverhalte zugrunde liegen, sind für die Lösung des gegebenen Falles unbrauchbar.
Der Revision war daher ein Erfolg zu versagen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 41, 50 ZPO. Die verzeichneten Barauslagen waren der Beklagten nicht zuzusprechen, weil sie Verfahrenshilfe genießt und als obsiegende Partei von der Beibringung der Gerichtsgebühren endgültig befreit ist (§§ 64 Abs. 1 Z. 1 a und 70 ZPO.)
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)