OGH 7Ob147/73

OGH7Ob147/7322.8.1973

SZ 46/77

Normen

Allgemeine Bedingungen für die Unfallversicherung Art2 Z1
VersVG §181
Allgemeine Bedingungen für die Unfallversicherung Art2 Z1
VersVG §181

 

Spruch:

Es genügt in der Regel, wenn der Versicherte Umstände dartut, die die Möglichkeit eines Unfalles im Sinne des Art. 2 Z. 1 AUVB 1965 naheliegend erscheinen lassen. Sache des Versicherers ist es, Umstände darzutun, die für einen Freitod oder eine Selbstverstümmelung des Versicherten sprechen. Ist dies geschehen, so muß der Versicherte beweisen, daß sich , dessen ungeachtet der Unfall unabhängig von seinem Willen ereignet hat

OGH 22. August 1973, 7 Ob 147/73 (OLG Innsbruck 2 R 120/73; LG Innsbruck 8 Cg 606/70)

Text

Der Kläger schloß am 7. Dezember 1965 mit der "D-Allgemeinen Versicherungs-AG" (im folgenden kurz "D" genannt) vorläufig auf die Dauer von zehn Jahren eine Unfallversicherung ab. Bestandteil des Versicherungsvertrages bilden die "Allgemeinen Bedingungen für die Unfallversicherung(AUVB 1965). Die vereinbarten Versicherungsleistungen betragen für den fall des Unfalltodes 600.000 S und bei bleibender Invalidität 1.200.000 S. Am 6. Feber 1968 wurde dem Kläger auf seinem Schrottlagerplatz in W-S beim Zerkleinern von Metallstücken mit einer Doppelschrottschere DBS 1 der Produktionsfirma Sch. ohne Beisein irgendwelcher Zeugen der linke Daumen an der Basis des Grundgelenkes abgetrennt. In seiner an die "D" erstatteten Unfallsanzeige vom 9. Feber 1968 (Beilage 13) beschrieb der Kläger den Unfallshergang wie folgt: "Beim Schrottzerkleinern rutschte ich mit dem Daumen in das Schlagmesser."

In gleicher Weise schilderte der Kläger das Unfallsereignis den erhebenden Gendarmeriebeamten des Gendarmeriepostenkommandos Kufstein (Beilage 21). Mit Schreiben vom 6. September 1968 teilte die "D" dem Kläger nach § 12 Abs. 3 VersVG mit, daß sie den auf den Unfallversicherungsvertrag gestützten Anspruch auf Bezahlung von 240.000 S ablehne, weil das Geschehen vom 6. Feber 1968 keinen Unfall im Sinne des Art. 2 Z. 1 AUVB 1965 darstelle. Die von Rechtsanwalt Dr. Z dem Beklagten, im Auftrag des Klägers innerhalb der sechsmonatigen Frist des § 12 Abs. 3 VersVG beim Landesgericht für ZRS Wien eingebrachte Klage wurde mit dessen Beschluß vom 11. März 1969, 37 d Cg 54/69, wegen sachlicher Unzuständigkeit zurückgewiesen. Der Zurückweisungsbeschluß blieb unangefochten. Die neuerliche Einbringung der Deckungsklage beim zuständigen Handelsgericht Wien war nicht mehr möglich, weil inzwischen die sechsmonatige Klagefrist des § 12 Abs. 3 VersVG abgelaufen war.

Der Kläger war in den Jahren 1967 und 1968 von zahlreichen Exekutionen verfolgt. Zu einer Versteigerung kam es jedoch nur in einem Exekutionsverfahren (E 6559/68 des Bezirksgerichtes Kufstein; betreibende Gläubigerin Volksbank K), das eine vollstreckbare Forderung von 120.000 S samt Anhang zum Gegenstand hatte. In diesem Verfahren wurde am 24. März 1968 (richtig 1969) ein LKW, ein PKW, ein Wohnzimmerschrank und ein Fernsehapparat des Klägers mit einem erzielten Erlös von insgesamt 77.200 S öffentlich versteigert. Im Jahre 1969 erhielt der Kläger von der Finanzlandesdirektion für Tirol und Innsbruck Abgabenrückvergütungen in der Höhe von 98.773.36

S.

Mit seiner beim Erstgericht eingebrachten Klage begehrte der Kläger vom Beklagten die Bezahlung von 240.000 S samt 4% Zinsen seit 6. Feber 1968 mit der Behauptung, daß ihm durch dessen Verschulden (Einreichung der Deckungsklage beim unzuständigen Gericht) ein Schade in der vorgenannten Höhe entstanden sei. Hätte der Beklagte die Klage beim zuständigen Handelsgericht Wien eingebracht, so wäre die "D" zur Bezahlung von 240.000 S samt Anhang (bei Verlust eines Daumens hat der Unfallversicherer nach Art. 10 Z. 1 AUVB 1965 20% der für den Fall der bleibenden Invalidität vereinbarten Versicherungsleistung zu entrichten) verurteilt worden. Der Beklagte beantragte Klagsabweisung und behauptete seinerseits, daß dem Kläger durch sein (schuldhaftes) Verhalten kein Schaden entstanden sei. Denn die Deckungsklage des Klägers wäre auch bei ihrer Einreichung beim zuständigen Handelsgericht Wien abgewiesen worden. Die Abtrennung des linken Daumens des Klägers sei nämlich nicht beim einem Unfall im Sinne des Art. 2 Z. 1 AUVB 1965 erfolgt. Deshalb habe der Unfallversicherer auch mit Recht den Eintritt in den Schadensfall abgelehnt.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Nach seinen Feststellungen wies die Doppelschrottschere DBS 1, an der sich der Unfall ereignete, links einen sich beim Betrieb nicht bewegenden, der Höhe nach verstellbaren "Niederhalter" und rechts das Schlagmesser auf. Zwischen diesen beiden Bestandteilen befand sich ein 9 cm breiter abgestufter Auflagebalken. Die zu zerkleinernden Metallstücke waren von links nach rechts dem Schlagmesser zuzuführen. Den von der "D" beigezogenen Sachverständigen Dozent Dr. P und Dipl.-Ing. Sch schilderte der Kläger den Unfall in der Weise, daß das von ihm mit der linken Hand gehaltene Stück einer Stoßstange bei der Zerkleinerung durch das Niedergehen des Schlagmessers gegen den Niederhalter hochgeschlagen worden sei, an dem ihm der linke Daumen abgetrennt worden sein müsse. Die von Dozent Dr. P an einer Leichenhand durchgeführten Rekonstruktionsversuche ergaben jedoch, daß die Gegenbewegung des Werkstückes gegen den Niederhalter bei Niedergehen des Schlagmessers an einem menschlichen Daumen nur Quetschwunden und Hautzerreißungen, nicht jedoch Knochenverletzungen hervorzurufen imstande ist. In seiner Parteienaussage erklärte schließlich der Kläger, er könne nicht mehr mit Sicherheit sagen, ob er mit dem Daumen in das Schlagmesser der Schrottschere hineingerutscht oder dessen Abtrennung dadurch erfolgt sei, daß es ihm die linke Hand auf den Niederhalter hinaufgeschlagen habe. Tatsächlich erfolgte die Abtrennung des linken Daumens des Klägers durch das Schlagmesser der Schrottschere, wobei eine durch den Kläger vorsätzlich bewirkte Abtrennung wahrscheinlicher ist als ein Unfall, der jedoch nicht mit völliger Sicherheit ausgeschlossen werden könne.

Das Erstgericht war der Ansicht, daß der Versicherungsnehmer nach Art. 2 Z. 1 AUVB 1965 den unfreiwilligen Eintritt des Unfallgeschehens zu beweisen habe. In der Regel seien allerdings an den vom Versicherungsnehmer zu erbringenden Beweis keine allzu hohen Anforderungen zu stellen. Bestehe aber der begrundete Verdacht einer Selbstbeschädigung, dann sei an die Beweisführung des Versicherungsnehmers ein strenger Maßstab anzulegen. Derartige Verdachtsmomente habe der Beklagte dargetan. Denn einerseits habe der Kläger dem Sachverständigen Dozent Dr. P und Dipl.-Ing. Sch eine von der Schadensmeldung völlig abweichende Unfallschilderung gegeben, die sich als unmöglich herausgestellt habe, andererseits habe sich der Kläger im Zeitpunkt seiner Verletzung in ungünstigen wirtschaftlichen Verhältnissen befunden, so daß der Verdacht einer Selbstbeschädigung auch aus diesem Gründe nicht von der Hand zu weisen sei. Unter diesen Umständen sei aber an die Beweispflicht des Klägers ein strenger Maßstab anzulegen. Ihm obliege es daher nicht nur, die äußeren Tatsachen des Geschehensablaufes, sondern auch die Unfreiwilligkeit des Ereignisses zu beweisen. Eine solche Beweisführung sei aber dem Kläger nicht gelungen. Seine Deckungsklage wäre daher auch im Falle ihrer Erhebung beim zuständigen Gericht abgewiesen worden. Der Schadenersatzanspruch des Klägers bestehe daher nicht zu Recht.

Das Berufungsgericht bestätigte das Ersturteil. Es übernahm die Feststellungen des Erstgerichtes als unbedenklich und teilte auch dessen rechtliche Beurteilung.

Der Oberste Gerichtshof gab der Revision des Klägers nicht Folge.

Rechtliche Beurteilung

Aus den Entscheidungsgründen:

In seiner Rechtsrüge beharrt der Revisionswerber auf seinem bereits in der Berufungsschrift vertretenen Standpunkt, daß er den Beweis der Unfreiwilligkeit des Unfallgeschehens erbracht habe. Ihm obliege nur der Beweis, daß die festgestellten Tatumstände nicht geeignet seien, einen Unfall auszuschließen. Schwerwiegende Bedenken gegen die Unfreiwilligkeit seiner Verletzungen seien aber schon deshalb nicht vorhanden, weil diese nach den Feststellungen der Untergerichte keineswegs mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit nicht durch einen Unfall entstanden sein können. Ein solcher Unfall sei vielmehr nicht mit Sicherheit auszuschließen. Auf Grund seines Vorlebens und seiner Persönlichkeitsstruktur sei eine Selbstverstümmelung ebenfalls unwahrscheinlich. An seine Beweispflicht für die Unfreiwilligkeit des Unfallgeschehens seien daher entgegen der Ansicht der Unterinstanzen keine hohen Anforderungen zu stellen.

Auch diese Ausführungen vermögen nicht zu überzeugen. Im Hinblick auf den Wortlaut des § 181 Abs. 1 Satz 1 VersVG hat wohl der Leistungsfreiheit in Anspruch nehmende Versicherer zu beweisen, daß der vom Unfall Betroffene diesen vorsätzlich herbeigeführt hat. Diese gesetzliche Regelung enthält aber, wie bereits die Unterinstanzen zutreffend hervorgehoben haben, kein zwingendes Recht und kann daher zugunsten des Versicherers abgeändert werden (Prölls

Richtig ist, daß ein solcher Beweis besonders dann, wenn für den Unfall keine Zeugen vorhanden sind, nur sehr schwer erbracht werden kann. Nach der ständigen Rechtsprechung des BGH (VersR 1965/797, 946, 1966/29, 1969/609, zuletzt 1972/244), der auch der Oberste Gerichtshof gefolgt ist (7 Ob 42/73), sind daher an dem vom Versicherten zu erbringenden Beweis der Unfreiwilligkeit des Unfallgeschehens keine hohen Anforderungen zu stellen. Denn es ist eine Lebenserfahrung, daß sich ein Mensch in der Regel ohne besondere Veranlassung keine Verletzungen zufügt oder den Tod sucht. Dies folgt schon aus der Natur des dem Menschen innewohnenden Selbsterhaltungstriebes. Es genügt daher in der Regel schon, wenn der Versicherte Umstände dartut, die die Möglichkeit eines Unfalls naheliegend erscheinen lassen, wenn sich auch nicht mehr genau aufklären läßt, wie es zu dem Unfall gekommen ist (Prölls - Martin 84 f., VersR 1965/797, 946, 1966/29, 1969/609 f., 1972/244, 7 Ob 42/73). Sache des Versicherers ist es vielmehr, Umstände darzutun, die für einen Freitod oder eine Selbstverstümmelung des Versicherten sprechen und daher geeignet sind, den vorgenannten Erfahrungssatz in Zweifel zu ziehen. Hiezu ist aber keineswegs (wie der Revisionswerber meint) ein absolut sicherer Beweis dafür, daß die Verletzungen des Versicherten oder dessen Tod nicht durch einen unfreiwilligen Unfall erfolgt sein können, erforderlich. Es genügt vielmehr der Beweis von Umständen, die geeignet sind, berechtigte Zweifel an dem Vorliegen eines unfreiwilligen Unfalles aufkommen zu lassen. Ist dies geschehen, so muß der Versicherte (Kläger) beweisen, daß sich dessenungeachtet der Unfall unfreiwillig ereignet hat (Prölls - Martin 984, VersR 1965/797, 1966/29, 1969/609, 7 Ob 42/73). Erst nach Würdigung der vom Versicherer vorgebrachten Verdachtsgrunde kann daher beurteilt werden, welche Anforderungen an den vom Versicherten zu erbringenden Beweis der Unfreiwilligkeit des erlittenen Unfalles zu stellen sind (VersR 1966/29).

Den Unterinstanzen ist darin beizupflichten, daß vom Beklagten Verdachtsmomente für das Vorliegen einer Selbstbeschädigung durch den Kläger dargetan wurden. Denn nach dem Gutachten des Sachverständigen Univ.-Prof. Dr. B könnte die Abtrennung des linken Daumens durch das Schlagmesser der Schrottschere nur bei Vorliegen einer besonderen Unachtsamkeit des Revisionswerbers erfolgt sein (dieser hätte, um in das Schlagmesser geraten zu können, mit der Hand eine Strecke von 40 cm überwinden müssen), so daß eine Selbstbeschädigung wahrscheinlicher ist als ein unfreiwilliger Unfall. Auch die vom Revisionswerber gemachten, einander widersprechenden Angaben über den Unfallshergang in Verbindung mit dessen schlechten Vermögensverhältnissen im Unfallszeitpunkt, die schließlich zur Versteigerung der zu seinem Betrieb gehörigen Kraftfahrzeuge (ein LKW und ein PKW) führten, lassen Zweifel daran aufkommen, ob es sich bei der Abtrennung des linken Daumens des Revisionswerbers tatsächlich um einen unfreiwilligen Unfall gehandelt hat. Mit Recht haben daher die Untergerichte an die Beweispflicht des Revisionswerbers einen strengen Maßstab angelegt und den vollen Beweis der Unfreiwilligkeit des Unfallgeschehens gefordert. Dieser Beweis ist aber dem Revisionswerber schon deshalb nicht gelungen, weil nach den Feststellungen der Unterinstanzen eine Selbstbeschädigung wahrscheinlicher ist als ein unfreiwilliger Unfall. Die vom Revisionswerber vermißte Feststellung, daß er auch ausgerutscht und in das Schlagmesser der Schrottschere geraten sein könnte, ist daher entbehrlich. In der Abweisung des Klagebegehrens durch die Unterinstanzen kann somit ein Rechtsirrtum nicht erblickt werden.

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