OGH 2Ob293/70

OGH2Ob293/7030.9.1971

SZ 44/150

Normen

ABGB §1325
ABGB §1325

 

Spruch:

Für den Schmerzengeldanspruch ist nicht erforderlich, daß der Verletzte seine Schmerzen mit klarem Bewußtsein erlebt und rational verarbeitet

OGH 30. 9. 1971, 2 Ob 293/70 (OLG Graz 4 b R 13/69; LG Klagenfurt 19 Cg 271/65)

Text

Am 27. 9. 1965 stießen ein von Josef P gelenktes Moped und ein vom Beklagten gelenkter VW-Kombiwagen, dessen Halter der - ursprünglich - mitbeklagte Josef M war, in Klagenfurt auf der Kreuzung Thomas Schmid-Gasse - Wiesengasse zusammen. Dabei wurde Josef P verletzt. Er verstarb am 17. 5. 1966 an den Folgen dieser Verletzungen. Der Beklagte wurde deswegen des Vergehens nach § 335 StG schuldig gesprochen. Es wurde ihm zur Last gelegt, er sei unvorsichtig und unaufmerksam gefahren und habe den Rechtsvorrang des Josef P nicht beachtet.

Mit der am 22. 10. 1965 eingebrachten Klage verlangte Josef P, vertreten durch seine Ehegattin Gertrude als gerichtlich bestellte Kuratorin, Zahlung eines Schmerzengeldes von S 50.000.-. Diese Klagsführung wurde pflegschaftsbehördlich genehmigt.

Die Verlassenschaft des Josef P wurde seiner Gattin zu 1/4 und seinem ehelichen Sohn mj Siegfried zu 3/4 eingeantwortet. Die Erben traten in den Rechtsstreit ein und werden daher im folgenden als Erstklägerin und Zweitkläger bezeichnet. Ein Widerruf der Vollmacht des Klagevertreters ist nicht erfolgt. Die Erstklägerin verlangt nunmehr den Ersatz der Kosten eines Grabsteines im Betrag von S 8460.- und der Grabgebühr für die nächsten 10 Jahre von S 60.- einschließlich des auf sie entfallenden Teiles des Schmerzengeldes von S 12.500.-, somit insgesamt S 21.020.- sA. Der Zweitkläger begehrt Zahlung von S 37.500.- sA, das ist der seiner Erbquote entsprechende Teil des Schmerzengeldes.

Da die Klage gegen den Halter Josef M rechtskräftig abgewiesen wurde, werden im folgenden nur die den Beklagten Friedrich M betreffenden Verfahrensergebnisse dargestellt.

Der Beklagte beantragte Abweisung des Klagebegehrens. Er wendete unter anderem ein, den Josef P treffe ein Mitverschulden.

Das Erstgericht verurteilte den Beklagten zur Zahlung von S 4230.- sA an die Erstklägerin und wies das Mehrbegehren ab. Es ging davon aus, daß ein Schmerzengeld nicht gebühre, weil Josef P infolge der vom Unfall bis zum Ableben andauernden Störung des Bewußtseins Schmerzen im eigentlichen Sinn nicht empfunden habe. Die Grabgebühr von S 60.- könne nicht verlangt werden, denn sie zähle nicht zu den Kosten der Errichtung und ersten Ausstattung der Grabstätte. Von den Kosten der Errichtung der Grabstätte von S 8460.- gebühre der Erstklägerin die Hälfte, weil sie sich ein gleichteiliges Mitverschulden des Josef P anrechnen lassen müsse.

Die Berufung der Kläger hatte teilweise Erfolg. Das Berufungsgericht änderte das Ersturteil nach teilweiser Wiederholung des Beweisverfahrens dahin ab, daß es der Erstklägerin S 15.720.- sA (das sind 3/4 von S 12.500.- und S 8460.-) und dem Zweitkläger S 28.125.- sA (das sind 3/4 von S 37.500.-) zuerkannte und die Mehrbegehren von S 5300.- und S 9375.- je sA abwies. Es bejahte den Schmerzengeldanspruch in vollem Umfang, hielt aber eine Schadensteilung im Verhältnis 3:1 zu Lasten des Beklagten für angemessen. Es stimmte mit dem Erstgericht insoweit überein, als es den Anspruch der Erstklägerin auf Ersatz der Kosten der Grabstättenerrichtung bejahte, den auf Ersatz der Grabgebühr aber verneinte.

Der Oberste Gerichtshof gab der Revision des Beklagten nicht Folge.

Rechtliche Beurteilung

Aus den Entscheidungsgründen:

Josef P befand sich vom 27. 9. 1965 bis 14. 4. 1966 in stationärer Behandlung des Landeskrankenhauses Klagenfurt, wo er bewußtlos aufgenommen und operiert wurde. Es bestand bei ihm als Folge des Unfalles eine Impressionsfraktur des Scheitel- und Schläfenbeines links, ein Schädelbasisbruch und eine Hirnquetschung. Es fanden sich ein geringes subdurales Hämatom sowie mehrere Hirnrindenprellungsherde. Josef P wurde, ohne das volle Bewußtsein erlangt zu haben, in das Rehabilitationszentrum der Arbeiterunfallversicherungsanstalt überstellt, wo er bis zu seinem Ableben am 17. 5. 1966 in stationärer Behandlung blieb.

Die beim Unfall sofort eingetretene tiefe Bewußtlosigkeit hielt bei Josef P mehrere Wochen an und ging dann schrittweise in einen Zustand hochgradiger Bewußtseinsveränderung über, in dem sowohl das Selbst- als auch das Situationsbewußtsein tiefgreifend gestört waren. Er reagierte auf Umweltreize nur im Bereich einfacher reflektorischer Vorgänge. Geordnete sprachliche Äußerungen waren nicht möglich. Höhere Sinneseindrücke optischer und akustischer Art konnten nicht verarbeitet werden. Dieser Zustand wurde durch eine völlige oder weitgehende Durchtrennung jener Bahnen bestimmt, die die Verbindung zwischen dem Hirnmantel und den subkortikalen Hirnzentren herstellen. Derartige Verletzungen werden in der Regel nicht überlebt. Auch bei ihm war der Tod die Folge des beim Unfall erlittenen Schädel-Hirntraumas. Er erlangte die Klarheit seines Bewußtseins bis zu seinem Ableben nicht wieder.

Josef P erlitt ein sogenanntes apallisches Syndrom. Dieses ist durch eine primitive Bewußtseinshelligkeit ohne Inhalte, neurologische Hirnstammzeichen und das Fehlen sinnvoller Reaktionen charakterisiert. Es handelt sich um eine funktionelle Trennung von Hirnstamm- und Hirnrindenfunktion, wobei der Schwerpunkt der Verletzung sowohl die Hirnrinde als auch den Hirnstamm betreffen kann. Meist liegt eine ausgedehnte Marklagerschädigung vor. Das Bewußtsein ist auf primitiver Stufe erhalten, im übrigen aber scheint jede psychische Tätigkeit erloschen zu sein. Trotz Bestehens einer massiven zerebralen Schädigung treten beim apallischen Syndrom Schmerzreaktionen auf. Auch bei einem derart schweren, tödlich endenden Schädelhirntrauma treten Schmerzzustände auf, wie das auch beim Säugling oder beim großhirnlosen Tier beobachtet werden kann, bei denen auf Schmerzreize elementare oder komplizierte Abwehrreaktionen erfolgen, die mit Ausdrucksbewegungen verbunden sind. Die Schmerzempfindungen sind bei derart Geschädigten meist nur aus Unruhe und Abwehrbewegungen zu schließen. Eine rationelle Verarbeitung der Schmerzempfindungen war bei Josef P infolge der schweren Schädigung des Zentralorgans nicht möglich. Es werden aber auch von Personen mit derart schweren Schädel-Hirntraumen oft äußerst heftige subkortikale Schmerzen verspürt. Die Aufhebung des Bewußtseins stellt nicht die Aufhebung des Schmerzempfindens dar.

Abwehrbewegungen des Josef P, welche auf Schmerzempfindungen schließen lassen, wurden in der Krankengeschichte des Arbeiterunfallkrankenhauses erwähnt.

Vom medizinischen Standpunkt aus wird die Bewußtlosigkeit als höchster Grad der Beeinträchtigung des Lebensgefühles anerkannt, weil sie das bewußte Erleben auslöscht und in dieser Hinsicht einem Schmerzzustand gleichgesetzt werden kann. Josef P hatte daher vom Unfall bis zu seinem Ableben etwa je zur Hälfte sehr starke und starke Schmerzen rein physischer Art, die mit Wahrscheinlichkeit praktisch anhaltend waren. Seelische Schmerzen konnte er nicht empfinden, weil infolge der schweren Schädigung der Zentralorgane die rationelle Verarbeitung aufgehoben war. Im Hinblick auf den zwischen Unfall und Ableben liegenden Zeitraum von 232 Tagen, in dem Josef P andauernd starke bzw sehr starke Schmerzen hatte, erschien dem Berufungsgericht das begehrte Schmerzengeld von S 50.000.- angemessen.

Der Revisionswerber vertritt die Auffassung, es gebühre überhaupt kein Schmerzengeld, weil Josef P vom Unfall bis zu seinem Ableben bewußtlos und somit in einem todesähnlichen Zustand gewesen sei, in dem er Schmerzen nicht ausgestanden und seinen Zustand nicht erfaßt habe. Er bekämpft auch die Ansicht, daß Bewußtlosigkeit oder hochgradige Bewußtseinsveränderung einem Schmerzzustand gleichzuhalten sei.

Richtig ist, daß Voraussetzung des Schmerzengeldanspruches ist, daß der Verletzte zufolge der Körperverletzung Schmerzen gehabt hat. Nach den vorinstanzlichen Feststellungen hat sich aber Josef P in der Zeit ab Unfall keineswegs in einem todesähnlichen Zustand voller Bewußtlosigkeit befunden, sondern es ging der Zustand der Bewußtlosigkeit schon nach einigen Wochen in einen Zustand hochgradiger Bewußtseinsveränderung über, in dem das Bewußtsein, wenn auch auf primitiver Stufe, erhalten blieb und in dem, wie aus beobachteten Abwehrbewegungen zu schließen war. Schmerzempfindungen bestanden. Dieser Zustand erstreckte sich demnach auf den größten Teil der Zeit zwischen Unfall und Ableben des Josef P. Geht man davon aus, daß Josef P während des größten Teiles des erwähnten Zeitraumes Schmerzen gehabt hat, dann ist der Anspruch auf Bezahlung eines Schmerzengeldes gegeben, denn für diesen Anspruch ist nicht erforderlich, daß der Verletzte seine Schmerzen mit klarem Bewußtsein erlebt und rational verarbeitet.

Auf die Frage, ob Bewußtlosigkeit oder hochgradige Bewußtseinsveränderung einem Schmerzzustand gleichzuhalten sei, bzw ob Bewußtlosigkeit als höchster Grad der Beeinträchtigung des Lebensgefühles und als Schmerzzustand anzusehen sei, braucht hier nicht eingegangen zu werden, weil die Schwere der Verletzungen des Josef P und die Dauer des Zeitraumes, in dem er - wenn auch bei eingeschränktem Bewußtsein - Schmerzen empfunden hat, ein Schmerzengeld von S 50.000.- als angemessen erscheinen läßt.

Soweit der Beklagte darauf verweist, daß Josef P persönlich gar nicht in die Lage gekommen sei, einen Anspruch auf Zahlung eines Schmerzengeldes geltend zu machen, ist ihm entgegenzuhalten, daß für ihn seine Gattin zur Kuratorin bestellt wurde, die ihn - so wie der gesetzliche Vertreter einen mj Beschädigten - diesbezüglich rechtswirksam vertreten hat (vgl GlUNF 6530 und SZ 23/295).

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