Spruch:
Der gerichtlich bestellte Sachverständige ist kein Organ im Sinne des § 1 AmtshaftungsG.
Entscheidung vom 4. Mai 1955, 1 Ob 274/55.
I. Instanz: Bezirksgericht Völkermarkt; II. Instanz: Landesgericht Klagenfurt.
Text
Mit der vorliegenden Klage begehrt die klagende Partei vom Beklagten, der im Exekutionsverfahren zu E 527/53 des Bezirksgerichtes Völkermarkt als Sachverständiger zwecks Schätzung eines Motorrades eingeschritten ist, die Bezahlung eines Betrages von 1870 S s. A. Zug um Zug gegen Übergabe des erstandenen Motorrades. Die klagende Partei stützt ihr Begehren auf §§ 1229, 1300 ABGB. und behauptet, daß der Beklagte als Sachverständiger bei der Schätzung des Motorrades grob fahrlässig vorgegangen sei und einen viel zu hohen Schätzwert angegeben habe.
Das Erstgericht hat das Klagebegehren mit der Begründung abgewiesen, daß das Schätzungsgutachten des Beklagten objektiv richtig gewesen sei und das auf Leistung Zug um Zug gegen Übergabe des Motorrades gerichtete Klagebegehren auch der gesetzlichen Grundlage entbehre.
Das Berufungsgericht hat aus Anlaß der Berufung der klagenden Partei das erstgerichtliche Urteil und das diesem vorangegangene Verfahren vom Zeitpunkt der Einbringung der Klage an als nichtig aufgehoben, die Klage zurückgewiesen und die Kosten des aufgehobenen und des Berufungsverfahrens gegenseitig aufgehoben.
Es steht auf dem Standpunkt, daß es sich im vorliegenden Falle um einen Anspruch handle, der den Bestimmungen des Amtshaftungsgesetzes unterliege. Nach § 1 Abs. 1 AmtshaftungsG. hafte das Organ dem Geschädigten nicht, gemäß § 9 Abs. 5 AmtshaftungsG. sei es dem Geschädigten verwehrt, den Ersatz seines Schadens im ordentlichen Rechtswege gegen das Organ geltend zu machen, er könne nur den Rechtsträger in Anspruch nehmen. Das Erstgericht hätte daher die Klage schon a limine zurückweisen müssen. Da es das nicht getan habe, sei das gesamte Verfahren einschließlich des Urteils mit Nichtigkeit gem. § 477 Abs. 1 Z. 6 ZPO. behaftet.
Der Oberste Gerichtshof gab dem Rekurs der klagenden Partei Folge, hob den Beschluß des Berufungsgerichtes auf und verwies die Rechtssache an dieses Gericht zurück.
Rechtliche Beurteilung
Aus der Begründung:
Das Berufungsgericht steht auf dem Standpunkt, daß es sich im vorliegenden Falle um das Schätzungsgutachten eines vom Bezirksgerichte Völkermarkt - somit mittelbar vom Bunde - bestellten Organes und um ein Gutachten, das dieses Organ in Vollziehung der Gesetze (§ 1 Abs. 2 AmtshaftungsG.) erstattet habe, handle.
Dieser Rechtsansicht des Berufungsgerichtes kann der Oberste Gerichtshof nicht beitreten.
Die Frage, ob ein gerichtlicher Sachverständiger ein Beweismittel wie jedes andere oder ein Rechtsgehilfe des Richters ist, wird in der juristischen Literatur nicht einheitlich beantwortet.
Neumann führt in seinem Kommentar zu den Zivilprozeßgesetzen, 4. Aufl. II. Band, auf S. 1503 aus, daß der Sachverständige nur ein Beweismittel sei, weil ihm nicht die Entscheidung der Rechtssache zustehe.
Pollak weist in seinem System des österreichischen Zivilprozeßrechtes, 2. Aufl. II. Teil, auf S. 669 darauf hin, daß im Schrifttum Streit darüber bestehe, ob der gerichtliche Sachverständige ein Beweismittel oder ein Richtergehilfe sei. Es handelt sich nach seiner Ansicht um einen müßigen Wortstreit, keinesfalls sei aber der Sachverständige als solcher eine Amtsperson.
Sperl führt in seinem Lehrbuch der bürgerlichen Rechtspflege, I. Band 1. Teil, auf S. 444 ff. aus, der Sachverständige sei ein Helfer des Richters, sein Gehilfe und Mitarbeiter an der Erforschung der Tatumstände, ein Funktionär des öffentlichen Rechtes. Auf Seite 70 desselben Werkes bezeichnet er den Sachverständigen als ein öffentliches Organ.
Aber auch Sperl steht doch wieder auf S. 566 desselben Werkes auf dem Standpunkte, daß der Staat nach dem Syndikatsgesetze vom 12. Juli 1872, RGBl. Nr. 112, nicht für den Schaden hafte, der einer Partei durch ein bewußt oder grob fahrlässig oder unwahr erstattetes Gutachten eines Sachverständigen zugefügt worden sei, sondern daß der Sachverständige selbst der Partei ersatzpflichtig sei.
Wolff steht in Klangs Kommentar zum ABGB., 2. Aufl. VI. Band, auf S. 19 und 50 auf dem Standpunkt, daß auch der gerichtliche Sachverständige gemäß § 1299 ABGB. von den Parteien zum Schadenersatz herangezogen werden könne.
Wenn also auch darüber, ob der Sachverständige ein Beweismittel oder ein Gehilfe des Richters sei, die Meinungen geteilt sind, so besteht doch darüber kein Streit, daß der Staat für ein unrichtiges Gutachten eines Sachverständigen nicht haftet, sondern vielmehr der Sachverständige persönlich gemäß § 1299 ABGB.
Neumann, Pollak und Sperl behandeln diese Frage allerdings noch nach dem damals in Geltung stehenden Syndikatsgesetze vom 12. Juli 1872, Wolff in Klangs Kommentar, 2. Aufl., aber bereits nach Erlassung des Amthaftungsgesetzes vom 18. Dezember 1948, BGBl. Nr. 20/49.
Von entscheidender Bedeutung ist für die Lösung der Frage, ob der gerichtlich bestellte Sachverständige ein Organ im Sinne des § 1 AmthaftungsG. ist, ob er in Ausübung seiner Tätigkeit irgendeine hoheitsrechtliche Entscheidungsbefugnis hat.
Dies ist nach Ansicht des Obersten Gerichtshofes zu verneinen. Der Sachverständigung im Sinne der ZPO. (und gemäß § 78 EO. auch auf dem Gebiete des Exekutionsrechtes) hat dem Gerichte nur die Grundlagen der Entscheidung zu liefern; er hat hiebei selbstverständlich die gesetzlichen Bestimmungen - so wie jeder andere Staatsbürger im Rahmen seiner Tätigkeit - zu berücksichtigen und zu beachten, die Entscheidung selbst trifft aber nur das zuständige Gerichtsorgan.
Wenn das Berufungsgericht darauf verweist, daß der Sachverständige wie eine Gerichtsperson abgelehnt werden könne, so kann dies noch nicht seine Organstellung im Sinne des § 1 AmtshaftungsG. begrunden. Den wenn der Sachverständige auch selbst keine hoheitsrechtliche Entscheidungsbefugnis hat, so erscheint es doch gerechtfertigt, ihn dann, wenn seine Unbefangenheit in Zweifel steht, auch an der Lieferung der Grundlagen für eine gerichtliche Entscheidung nicht mitwirken zu lassen.
Der Hinweis des Berufungsgerichtes, daß der Notar als Gerichtskommissär und der öffentliche Verwalter dem Amtshaftungsgesetze unterliegen und dies daher auch beim gerichtlichen Sachverständigen angenommen werden müsse, kann schon deshalb nicht überzeugen, weil es sich beim Notar als Gerichtskommissär und beim öffentlichen Verwalter um im Gesetz positiv gelöste Fälle handelt und Haftungsbestimmungen grundsätzlich nicht ausdehnend ausgelegt werden können, insbesondere nicht insofern es sich um den Kreis der haftungspflichtigen Personen handelt. Die Tätigkeit des Notars als Gerichtskommissär und des öffentlichen Verwalters ist übrigens im Gegensatz zu der des gerichtlichen Sachverständigen eine solche, die sehr wohl Entscheidungsbefugnisse beinhaltet.
Schließlich kann auch der Hinweis auf SSt. X 85 nicht durchschlagen. Denn wenn jemand zur Mitwirkung an der Verfolgung eines Verbrechensaufgefordert wird, so setzt er Handlungen, die ansonsten nur ein Amtsorgan vollziehen dürfte, und wird nur deshalb den Bestimmungen des Amtshaftungsgesetzes unterstellt. Ein gerichtlicher Sachverständiger hat aber nicht an Stelle eines Amtsorganes zu handeln, sondern nur diesem die Grundlage für seine Entscheidung zu liefern.
Auch der vom Berufungsgericht angeführte Umstand, daß der Vollstreckungsbeamte, unter gewissen Voraussetzungen selbst schätzen darf, beweist noch nicht, daß deshalb der Sachverständige, wenn er schätzt, eine hoheitsrechtliche Entscheidung trifft. Denn die Bestimmungen des Punktes 117 Abs. 8 des Dienstbuches für die Vollstrecker ist nur eine bei Geringfügigkeit der zum Verkauf gelangenden Sachen im Interesse der Ersparung von Kosten getroffene Vorschrift, die aber keinen Rückschluß darauf zuläßt, daß dann, wenn doch ein Sachverständiger beigezogen wird, diesem Aufgaben zukommen, die eine gerichtliche Entscheidungsbefugnis beinhalten. Auch im Zivilprozesse bleibt es ja dem Richter überlassen, ob er sich auf Grund seiner Kenntnisse und Erfahrungen die Grundlagen seiner Entscheidung selbst beschaffen kann oder es für erforderlich hält, einen Sachverständigen beizuziehen. Deswegen kann aber ebensowenig darauf geschlossen werden, daß dem Sachverständigen im Falle seiner Beiziehung eine hoheitsrechtliche Entscheidungsbefugnis zukommt.
Nach Ansicht des Obersten Gerichtshofes unterliegt also der gegen einen gerichtlichen Sachverständigen gemäß § 1299 ABGB. geltend gemachte Anspruch nicht den Bestimmungen des Amtshaftungsgesetzes.
Der angefochtene Beschluß des Berufungsgerichtes war daher aufzuheben und ihm die neuerliche Entscheidung über die Berufung der klagenden Partei gegen das erstgerichtliche Urteil unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrunde aufzutragen. Es bleibt dem Berufungsgerichte überlassen, ob es hiezu eine neuerliche Berufungsverhandlung anzuordnen für erforderlich hält oder ob es ohne eine solche bereits zur Entscheidung gelangen kann.
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