Normen
Reichsversicherungsordnung §898
Reichsversicherungsordnung §899
Reichsversicherungsordnung §898
Reichsversicherungsordnung §899
Spruch:
Die Haftungsbeschränkung des Betriebs- oder Arbeiteraufsehers besteht nur, wenn er im gleichen Betrieb wie der Verletzte beschäftigt ist, andernfalls auch dann nicht, wenn die beiden Betriebe dem gleichen Unternehmer gehören.
Entscheidung vom 29. Juli 1953, 2 Ob 203/53.
I. Instanz: Kreisgericht Leoben; II. Instanz: Oberlandesgericht Graz.
Text
Am Abend des 27. Dezember 1948 luden Bedienstete der Österreichischen Postverwaltung einen auf einem Geleise des Bundesbahnhofes in X. abgestellten Postwagen aus. Zwischen diesem und einem anderen Geleise war von den Postbediensteten ein vierrädriger Handkarren zur Aufnahme der Postpakete aufgestellt worden. Der Kläger, der ebenfalls Postbediensteter ist, stand zwischen dem Handkarren und dem Postwagen und erkundigte sich, ob man seiner Hilfe bedürfe. Der Handkarren wurde in diesem Augenblicke von zwei auf dem Geleise vorbeirollenden Wagen erfaßt und der Kläger niedergestoßen. Er erlitt schwere Verletzungen. Mit der vorliegenden Klage macht er gegen den Beklagten, der im Zeitpunkt des Unfalls als Verschubaufseher der Österreichischen Bundesbahnen tätig war Ansprüche auf Zahlung von Schmerzengeld sowie auf Ersatz von Sachschaden und Heilungskosten geltend.
Das Erstgericht erkannte mit Zwischenurteil, daß der Anspruch des Klägers gegen den Beklagten zu 20% zu Recht und zu 80% nicht zu Recht bestehe.
Das Berufungsgericht hob das erstinstanzliche Urteil mit Rechtskraftvorbehalt auf. Es beschränkte sich auf die Erörterung der Frage, ob die Haftung des Beklagten gemäß den §§ 898, 899 der Reichsversicherungsordnung ausgeschlossen sein könne. Der Kläger habe nicht behauptet, daß strafrechtlich festgestellt worden sei, daß der Beklagte den Unfall vorsätzlich herbeigeführt habe. Er habe den Unfall in Ausübung seines Dienstes als Angestellter der Österreichischen Postverwaltung erlitten. Da die Republik Österreich Unternehmer der Betriebe der Österreichischen Bundesbahnen und der Postverwaltung sei, hafte der Beklagte für sein allfälliges Verschulden nur dann, wenn er nicht als Betriebs- oder Arbeiteraufseher des Unternehmens "Österreichische Republik" zu gelten habe. Der Erstrichter habe daher zunächst zu untersuchen, ob ihm eine solche Stellung zukomme. Eine Haftung des Beklagten nach dem Gesetze vom 12. Juli 1943 über die erweiterte Zulassung von Schadenersatzansprüchen bei Dienst- und Arbeitsunfällen, DRGBl. I S. 674, komme nicht in Betracht, weil sich der Unfall nicht bei einer Teilnahme des Klägers am allgemeinen Verkehr ereignet habe.
Der Oberste Gerichtshof gab dem Rekurs des Klägers Folge, hob den Beschluß des Berufungsgerichtes auf und verwies die Sache an dieses zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung zurück.
Rechtliche Beurteilung
Aus der Begründung:
Die Auffassung des Berufungsgerichtes, daß die Haftung des Beklagten im Sinne der §§ 898, 899 der Reichsversicherungsordnung beschränkt sein könne, weil er als Angestellter des Unternehmens "Österreichische Republik" zu gelten habe, ist rechtsirrig. Post und Eisenbahn sind verschiedene Betriebe (§ 537 Z. 5 RVO.; vgl. auch die Begriffsbestimmung der Eisenbahn in der von Mitgliedern des Reichsversicherungsamtes herausgegebenen RVO., Band III, S. 14, Anm. 24). Hat ein Unternehmer mehrere Betriebe, so muß der dem Unternehmer nach § 899 RVO. Gleichgestellte in demselben Betrieb angestellt sein, aus welchem sich die Versicherungspflicht der Genossenschaft ergibt (Geigel, Der Haftpflichtprozeß, 6. Aufl., S. 375). Die Haftung gegenüber Genossenschaften, Krankenkassen usw. gemäß § 903 RVO. setzt voraus, daß der dem Unternehmer Gleichgestellte in dem Betrieb als Aufseher angestellt ist, aus dem sich die Versicherungsleistung der Genossenschaft ergibt (Deutsche Justiz, 1942, S. 687). Der Beklagte hat sich darauf berufen, daß der Kläger von seiner Versicherungsanstalt entschädigt wurde. Versicherungsrechtlich ist es nicht denkbar, daß der Betriebsunfall eines Versicherten gleichzeitig in zwei verschiedene Betriebe zu rechnen ist (Geigel S. 368). In der Entscheidung vom 10. September 1951, 2 Ob 530/51, hat es der Oberste Gerichtshof im Falle des Ineinandergreifens zweier selbständiger Betriebe für maßgebend erklärt, ob der Betriebs- oder Arbeitsaufseher im gleichen Betrieb wie der Verletzte beschäftigt ist. Wenn auch der Unternehmer der beiden Betriebe derselbe ist, so kann der Aufseher des einen Betriebes nicht der Haftungsbeschränkung des Arbeitsaufsehers des anderen Betriebes teilhaftig werden. Der Kläger ist in seinen Schadenersatzansprüchen nur gegen Aufseher seines eigenen Betriebes beschränkt. Für betriebsfremde Aufseher gelten die allgemeinen Vorschriften. Die deutsche Rechtsprechung hat den Umfang der Ausnahmsbestimmungen der §§ 898, 899 der Reichsversicherungsordnung möglichst eingeengt. Der Oberste Gerichtshof hat sich dieser einschränkenden Auslegung in der Erwägung angeschlossen, daß die durch einen Arbeitsunfall Geschädigten in der Geltendmachung ihrer Ansprüche über die vom Gesetz angeführten Fälle hinaus nicht behindert werden sollen. Derselbe rechtspolitische Gedanke liegt auch dem Gesetz über die erweiterte Zulassung von Schadenersatzansprüchen bei Dienst- und Arbeitsunfällen zugrunde, dessenAnwendbarkeit im übrigen nicht mehr zu erörtern ist.
Es geht bereits aus dem unbestrittenen Sachverhalt hervor, daß die Ausnahmebestimmungen der §§ 898, 899 der Reichsversicherungsordnung für den Beklagten nicht gelten, weil er gegenüber dem Kläger als ein Betriebsfremder anzusehen ist. Da das Berufungsgericht, von seiner Rechtsansicht ausgehend, das Berufungsverfahren auf die Erörterung der Haftungsbeschränkung nach den §§ 898, 899 RVO. beschränkt hat, war die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Sache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an die zweite Instanz zurückzuverweisen.
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