Normen
ZPO §75
ZPO §84
ZPO §226
ZPO §471 Z5
ZPO §473
ZPO §477
ZPO §478
ZPO §75
ZPO §84
ZPO §226
ZPO §471 Z5
ZPO §473
ZPO §477
ZPO §478
Spruch:
Wurde namens des Klägers ohne sein Wissen eine Klage eingebracht, aber von ihm nicht unterschrieben und weigert er sich, die Unterschrift im Zuge des Verfahrens nachzutragen, so ist das Verfahren als nichtig aufzuheben.
Entscheidung vom 11. Juni 1947, 1 Ob 315/47.
I. Instanz: Bezirksgericht Innere Stadt; II. Instanz: Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien.
Text
Am 21. November 1946 wurde beim Bezirksgericht Innere Stadt, eine Klage der Anna Marie W. eingebracht, in der diese die Räumung der Wohnung Wien, IX., N....gasse begehrt. Die Klage trug keine Unterschrift. Da die Klägerin bei der mündlichen Verhandlung nicht erschienen ist, wurde über Antrag des Beklagten die Klage mit Versäumungsurteil abgewiesen. In der Berufung machte die Klägerin geltend, daß die Klage ohne ihr Wissen und gegen ihren Willen eingebracht worden sei. Das Berufungsgericht hob das Verfahren als nichtig auf und wies die Klage zurück.
Aus der Begründung des Berufungsgerichtes:
Gemäß § 75, Z. 3 und § 226, Abs. 3 ZPO. hat jede Klage die Unterschrift der Partei selbst oder ihres gesetzlichen Vertreters oder Bevollmächtigten zu enthalten. Das Fehlen der Unterschrift ist ein Formgebrechen, dessen Beseitigung gemäß § 84 ZPO. das Gericht von Amts wegen anzuordnen hat. Unterläßt das Erstgericht eine solche Anordnung, dann sind zunächst zwei Fälle möglich: Die klagende Partei erscheint zur mündlichen Verhandlung und trägt die Unterschrift nach, oder das Nachhelfen wird zwar übersehen, aber die klagende Partei läßt sich in das Verfahren ein, ohne den Mangel zu rügen, wodurch sie zu erkennen gibt, daß die Klage tatsächlich von ihr überreicht worden ist. Erscheint die klagende Partei aber nicht, dann kann über die nicht unterschriebene Klage nicht verhandelt und entschieden werden, weil es zunächst zweifelhaft ist, ob sie von der als klagende Partei bezeichneten Person überreicht wurde. Wird dennoch über eine solche Klage verhandelt und entschieden, dann ist die Entscheidung ebenso wie das vorangegangene Verfahren als nichtig aufzuheben, wenn die klagende Partei - wie im vorliegenden Fall - erklärt, daß die Klage gar nicht von ihr, sondern ohne ihr Wissen und gegen ihren Willen von einer anderen Person eingebracht worden sei, weil es dann der Verhandlung und Entscheidung an einer Klage als der Grundlage des streitigen Verfahrens überhaupt gefehlt hat.
Es liegt zwar keiner der von der Klägerin geltend gemachten, ja keiner der im § 477 ZPO. angeführten Nichtigkeitsgrunde vor, aber die Ausführung der Nichtigkeitsgrunde im § 477 ZPO. ist keineswegs - wie allenthalben von Rechtsprechung und Lehre behauptet zu werden pflegt - eine erschöpfende, weil die Erfahrung lehrt, daß im zivilgerichtlichen Verfahren Fälle von zweifellos absoluter Nichtigkeit vorkommen, wie im vorliegenden Fall, die in § 477 ZPO. nicht angeführt sind, weil sie der Gesetzgeber offenbar nicht vorausgesehen hat.
Die Aufhebung des Urteils und des demselben vorangegangenen Verfahrens erfolgte gemäß §§ 471, Z. 5, 473, Abs. 1 ZPO. in nicht öffentlicher Sitzung durch Beschluß. Nach Analogie des § 478, Abs. 1 ZPO. war die Klage vom Berufungsgericht zurückzuweisen, weil das Formgebrechen nicht behebbar ist, die Klage sich aber als zur Anordnung einer Tagsatzung zur mündlichen Verhandlung nicht eignet.
Der Oberste Gerichtshof gab dem gegen diesen Beschluß erhobenen Rekurs keine Folge.
Rechtliche Beurteilung
Aus der Begründung des Obersten Gerichtshofes:
Der Oberste Gerichtshof verweist in erster Linie auf die zutreffende Begründung des angefochtenen Beschlusses, die durch die Ausführungen des Rekurses nicht widerlegt erscheint und der im Hinblick auf diese Ausführungen nur noch folgendes beizufügen ist: Die Rechtsansicht des Berufungsgerichtes, daß die Nichtigkeitsgrunde in dem § 477 ZPO. nicht erschöpfend aufgezählt sind, ist richtig und steht keineswegs im Widerspruch mit allen Lehrmeinungen, insbesondere aber nicht mit der Rechtsprechung. Sie kann sich vielmehr auf Sperl (S. 604) und die neuere Judikatur des Obersten Gerichtshofes (SZ. XIX/74 und SZ. XX/266) stützen. Es ist dem Rekurse zuzugeben, daß der Mangel der Unterschrift der klagenden Partei auf der Klage an sich nicht die Nichtigkeit des Verfahrens nach sich zieht, solange er durch die nachträgliche Unterfertigung der Klage (§ 84 ZPO.) oder auch dadurch, daß sich die klagende Partei in den Rechtsstreit einläßt, saniert werden kann. Wenn aber diese Sanierung nicht möglich ist, entweder weil die in der Klage als Kläger angegebene Person überhaupt nicht existiert oder weil sie sich weigert, das als Klage bezeichnete Schriftstück zu unterfertigen, dann liegt überhaupt keine Klage im Sinne der Zivilprozeßordnung vor, weil die Unterschrift des Klägers ein notwendiger Bestandteil jeder Klage ist (§ 75, Z. 3, § 226, Abs. 3 ZPO.). Es fehlt infolgedessen in dem über diese (vermeintliche) Klage eingeleiteten Zivilprozeß an einem Kläger. Da aber das Wesen des streitigen Verfahrens auf dem Zweiparteienverhältnis beruht, ist ein Verstoß gegen diese elementare Grundlage des Prozeßrechtes als ein Verfahrensmangel anzusehen, der die Nichtigkeit des ganzen Verfahrens und der auf Grund dieses Verfahrens gefällten Entscheidung zur Folge haben muß (Sperl, S. 604, Pollak I, S. 101).
Auch im vorliegenden Falle ergibt sich die Nichtigkeit des Versäumungsurteiles und des vorangegangenen Verfahrens aus dem Mangel einer Klage. Dieser Mangel ist, wie aus dem Verhalten der Anna Maria W. unzweideutig zu erkennen ist, nicht mehr heilbar. Es war daher nicht notwendig, die Nichtigkeit der tatsächlichen Angaben der Berufung zu prüfen. Durch die Unterlassung von Erhebungen hierüber ist das Berufungsverfahren nicht mangelhaft geworden.
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