EGMR Bsw59868/08

EGMRBsw59868/0828.8.2018

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Vizgirda gg. Slowenien, Urteil vom 28.8.2018, Bsw. 59868/08.

 

Spruch:

Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. b und lit. c EMRK - Angeklagtem wurde im Strafverfahren Übersetzung ins Russische, nicht aber in Muttersprache Litauisch gewährt.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. b und lit. c EMRK (5:2 Stimmen).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 6.400,– für immateriellen Schaden, € 2.500,– für Kosten und Auslagen (5:2 Stimmen).

 

Begründung:

Sachverhalt:

Beim Bf. handelt es sich um einen litauischen Staatsbürger, der sich am 2.3.2002 nach Slowenien aufmachte. Am 13.3.2002 wurde er wegen des Verdachts festgenommen, dort am selben Tag an einem Bankraub beteiligt gewesen zu sein. Er wurde daraufhin in Polizeigewahrsam genommen und laut der Entscheidung zur Genehmigung dieser Maßnahme sofort auf Russisch über die Gründe für seine Festnahme sowie seine Rechte informiert. Aus der Entscheidung geht hervor, dass er dabei durch einen beeideten Dolmetscher (A. G.) unterstützt wurde, der für ihn ins Russische übersetzte, und er keinen Anwalt verlangte.

Am 15.3.2002 wurde der Bf. vom Untersuchungsrichter des BG Kranj einvernommen. Dieser informierte ihn über die Anschuldigungen gegen ihn und über seine Rechte. Da der Bf. selbst keinen Anwalt bestellte, bestimmte das Gericht D. V. als Rechtsbeistand. Der Dolmetscher A. G. übersetzte während der Befragung vom Slowenischen ins Russische und zurück.

Der Untersuchungsrichter ordnete nach der Befragung die Haft des Bf. an. Am 8.4.2002 erging eine Entscheidung zur Eröffnung eines strafgerichtlichen Verfahrens gegen den Bf. Am 28.5.2002 erhob der Bezirksstaatsanwalt gegen den Bf. und drei andere Personen Anklage wegen insbesondere Raub. Alle Entscheidungen wurden ebenso wie zwischenzeitlich aufgenommene Zeugenaussagen ins Russische übersetzt und dem Bf. zugestellt.

Das BG Kranj hielt am 10. und 11.7.2002 eine Verhandlung ab, an der auch zwei Russischdolmetscher teilnahmen. Das Protokoll zeigt, dass dort gegenüber den Beschuldigten die Anklagepunkte verlesen und sie über ihre Rechte informiert wurden. Laut dem Protokoll äußerten die Betroffenen explizit, dass sie den Inhalt der Anklage sowie die Belehrung über ihre Rechte verstanden hätten. In der Verhandlung schilderte der Bf. zudem die Ereignisse aus seiner Sicht, beantwortete Fragen des Staatsanwalts, des vorsitzenden Richters, seines Anwalts sowie des Anwalts eines der Mitangeklagten. Er stellte weiters Fragen an die Zeugen und kommentierte deren Aussagen zum Teil. Wie aus dem Protokoll hervorgeht, hatte der Bf. Probleme mit der Übersetzung einer der Zeugenaussagen und konnte diese erst verstehen, nachdem er sie nochmal gelesen hatte. In der Verhandlung vom 16.7.2002 gab der Bf. eine Schlusserklärung ab, in der er darauf hinwies, nicht an dem Raub beteiligt gewesen zu sein. Am selben Tag wurde er vom BG Kranj wegen unter anderem Raub zu einer Haftstrafe von acht Jahren und vier Monaten verurteilt und seine Haft verlängert. Das Urteil und die Entscheidung zur Verlängerung der Haft wurden ins Russische übersetzt und dem Bf. zugestellt. Berufungen des Bf. gegen das Urteil des BG wurden vom Obergericht Ljubljana am 14.11.2002 abgewiesen.

Am 23.2.2003 sandte der Bf. ein außerordentliches Rechtsmittel zur Anfechtung der Rechtmäßigkeit rechtskräftiger Entscheidungen an das BG Kranj, das dieses an das Oberste Gericht weiterleiten sollte. Die Beschwerde war zum größten Teil auf Litauisch verfasst und der Bf. erklärte darin, dass er weder Russisch noch Slowenisch spreche und auch nur ein wenig Russisch verstehe. Zudem rügte er die Beweiswürdigung durch die Gerichte in seinem Fall und dass sein Recht nach § 8 StPO und Art. 62 der Verfassung, im Strafverfahren seine eigene Sprache verwenden zu dürfen, verletzt worden sei. Er hätte daher die Gründe für seine Festnahme nicht verstanden. Trotzdem hätte das BG Kranj ihm keinen litauischen Dolmetscher zur Verfügung gestellt. Das BG Kranj wies den Bf. daraufhin am 24.3.2003 an, seine Beschwerde in Russisch einzubringen, da er diese Sprache während des ganzen Strafverfahrens verwendet habe. Nachdem der Bf. darauf nicht reagierte, wies das BG die Beschwerde zurück.

Am 20.8.2004 erhob der Bf. eine Verfassungsbeschwerde gegen diese Entscheidung. Das Verfassungsgericht hob Letztere auf, da es der Ansicht war, dem Bf. sei im Zusammenhang mit seiner Beschwerde das Recht versagt worden, seine eigene Sprache verwenden zu dürfen. Im zurückverwiesenen Verfahren holte das BG eine slowenische Übersetzung des Rechtsmittels des Bf. ein und überwies es an das Oberste Gericht. Letzteres wies die Beschwerde dann am 26.1.2016 ab. Es begründete dies damit, dass es im Verhandlungsprotokoll keinen Hinweis darauf gebe, dass der Bf. kein Russisch verstanden hätte und weder er selbst noch sein Anwalt eine Frage im Hinblick auf eine fehlende Russischkompetenz aufgeworfen hätten. Dem Bf. wurden das Original des Urteils des Obersten Gerichts sowie eine Übersetzung zugestellt. Die vom Bf. dagegen erhobene Verfassungsbeschwerde wurde vom Verfassungsgericht am 3.7.2008 abgewiesen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. rügte insbesondere eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 (Recht auf ein faires Verfahren) iVm. Abs. 3 (Verteidigungsrechte) EMRK, weil er die Sprache des Verfahrens gegen ihn und der ihm gewährten Verdolmetschung nicht verstanden hätte.

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Zulässigkeit

(63) Die Regierung berief sich auf die Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsmittel durch den Bf. Dieser hätte seine Rüge der Sache nach vor den nationalen Behörden nicht erhoben. [...]

(65) Nach Ansicht des GH ist die Einrede der Regierung [...] so eng mit dem Inhalt der Beschwerde verbunden, dass sie mit der Entscheidung in der Sache verbunden werden muss (einstimmig).

(66) Der GH befindet weiters, dass diese Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet [...] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist und daher für zulässig erklärt werden muss (einstimmig).

In der Sache

Allgemeine Grundsätze

Allgemeine Grundsätze zu Art. 6 Abs. 3 lit. a und lit. e EMRK

(75) [...] Art. 6 Abs. 3 lit. a EMRK [...] weist auf die besondere Aufmerksamkeit hin, die der Unterrichtung des Angeklagten von der Beschuldigung zu widmen ist. Eine Anklage spielt eine entscheidende Rolle im Strafverfahren, da es der Zeitpunkt ihrer Zustellung ist, mit dem der Beschuldigte förmlich über die faktische und rechtliche Grundlage der Anschuldigungen gegen ihn informiert wird. Ein Angeklagter, der mit der vom Gericht verwendeten Sprache nicht vertraut ist, kann sich einem praktischen Nachteil ausgesetzt sehen, wenn die Anklage nicht in eine Sprache übersetzt wird, die er versteht.

(76) Zusätzlich hält Art. 6 Abs. 3 lit. e EMRK fest, dass jeder Angeklagte das Recht auf kostenlose Unterstützung durch einen Dolmetscher hat. Dieses Recht findet nicht nur auf mündliche Äußerungen in der Verhandlung Anwendung, sondern auch auf schriftliches Material und das Vorverfahren. Was Letzteres betrifft, ist die Unterstützung durch einen Dolmetscher [...] ab dem Ermittlungsstadium zu gewähren, außer es kann die Existenz zwingender Gründe aufgezeigt werden, um dieses Recht zu beschränken.

(77) Ein Beschuldigter, der die vor Gericht verwendete Sprache nicht verstehen oder sprechen kann, hat daher das Recht auf die kostenlose Unterstützung durch einen Dolmetscher für die Übersetzung bzw. Verdolmetschung all jener Dokumente bzw. Äußerungen im Verfahren gegen ihn, von denen es für ihn notwendig ist, dass er sie versteht oder dass sie in die Sprache des Gerichts übertragen werden, so dass er in den Genuss eines fairen Verfahrens kommen kann.

(79) [...] Die Verpflichtung der zuständigen Behörden ist nicht darauf beschränkt, einen Dolmetscher zu bestellen, sondern kann sich, wenn sie unter den besonderen Umständen darauf aufmerksam gemacht werden, auch auf eine gewisse nachfolgende Kontrolle der Angemessenheit der Verdolmetschung erstrecken.

Beurteilung des Gegebenseins eines Bedürfnisses für eine Verdolmetschung

(81) Wie [...] Beispiele aus der Rechtsprechung des GH zeigen, obliegt es den am Verfahren beteiligten Behörden und insbesondere den innerstaatlichen Gerichten zu ermitteln, ob die Fairness des Verfahrens die Bestellung eines Dolmetschers zur Unterstützung des Beschuldigten verlangt oder verlangte. Nach Ansicht des GH ist diese Pflicht nicht auf Situationen beschränkt, in denen der Beschuldigte einen expliziten Antrag auf Verdolmetschung stellt. Angesichts des herausragenden Platzes, den das Recht auf ein faires Verfahren in einer demokratischen Gesellschaft einnimmt, entsteht sie immer dann, wenn es Gründe für die Vermutung gibt, dass der Beschuldigte in der Verfahrenssprache keine ausreichende Kompetenz besitzt, etwa wenn er weder ein Staatsangehöriger des Landes ist, in dem das Verfahren durchgeführt wird, noch dort ansässig ist. Sie entsteht auch, wenn beabsichtigt ist, eine Drittsprache für die Verdolmetschung zur verwenden. Unter solchen Umständen muss die Kompetenz des Beschuldigten in der Drittsprache ermittelt werden, bevor die Entscheidung getroffen wird, sie für das Dolmetschen zu verwenden.

(83) Der GH [...] möchte in diesem Zusammenhang hinzufügen, dass der Umstand, dass der Beschuldigte die Verfahrenssprache oder gegebenenfalls eine Drittsprache, in welche eine Verdolmetschung problemlos verfügbar ist, elementar beherrscht, diesen nicht für sich daran hindern darf, in den Genuss einer Verdolmetschung in eine Sprache zu kommen, die er ausreichend gut versteht, um sein Recht auf Verteidigung vollständig auszuüben. Das folgt aus dem Erfordernis, dass der Beschuldigte von der Anklage in einer Sprache zu informieren ist, »die er versteht«, sowie aus dem Erfordernis, dass die gebotene Dolmetschunterstützung es dem Beschuldigten ermöglichen muss, Kenntnis von dem gegen ihn anhängigen Fall zu erlangen und sich zu verteidigen. Erwägungsgrund 22 der RL 2010/64/EU (Anm: Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren, ABl. L 280, 1.) sieht noch spezieller vor, dass die Verdolmetschung und Übersetzung entweder in der Muttersprache der Beschuldigten oder in irgendeiner anderen Sprache, die sie sprechen oder verstehen, zur Verfügung gestellt werden soll, um es ihnen zu erlauben, ihre Verteidigungsrechte in vollem Umfang wahrnehmen zu können, und um die Fairness des Verfahrens zu gewährleisten.

(84) Die Konvention belässt den Vertragsstaaten im Hinblick auf die Wahl der Mittel, die sicherstellen sollen, dass ihre Rechtssysteme im Einklang mit den Anforderungen nach Art. 6 EMRK stehen, ein weites Ermessen. Es obliegt dem GH daher nicht, die Maßnahmen im Detail darzulegen, welche von den innerstaatlichen Behörden gesetzt werden sollten, um die Sprachkenntnisse eines Beschuldigten zu überprüfen, der die Verfahrenssprache nicht ausreichend beherrscht. Abhängig von verschiedenen Faktoren wie der Natur der Straftat und der Kommunikation der innerstaatlichen Behörden mit dem Beschuldigten kann eine Reihe von offenen Fragen ausreichen, um die sprachlichen Bedürfnisse des Beschuldigten festzustellen. [...]

(85) Zuletzt lenkt der GH die Aufmerksamkeit auf die Wichtigkeit, in den Aufzeichnungen jedes im Hinblick auf die Überprüfung von Dolmetscherfordernissen, die Information über das Recht auf einen Dolmetscher und die vom Dolmetscher gewährte Unterstützung (wie die mündliche Übersetzung oder mündliche Zusammenfassung von Dokumenten) verwendete Verfahren und jede diesbezüglich getroffene Entscheidung festzuhalten, um es zu vermeiden, dass in dieser Hinsicht später im Verfahren irgendwelche Zweifel auftreten.

Information über das Recht auf Verdolmetschung

(86) Der GH hat bereits Gelegenheit gehabt, im Zusammenhang mit dem Recht auf einen Anwalt und dem Recht zu schweigen und sich nicht selbst belasten zu müssen darauf hinzuweisen, dass es für die praktische und wirksame Gewährleistung dieser Rechte wesentlich ist, dass die Verdächtigen sich dieser bewusst sind. Aus genau dem gleichen Grund ist es wichtig, dass der Verdächtige Kenntnis des Rechts auf Verdolmetschung hat. Das bedeutet, dass er über ein solches Recht informiert werden muss, wenn er »einer Straftat angeklagt« ist [...].

(87) Um sinnvoll zu sein, muss die Information über das Recht auf Verdolmetschung ebenso wie über die anderen oben genannten grundlegenden Verteidigungsrechte in einer Sprache erfolgen, die der Bf. versteht. [...]

Anwendung der oben ausgeführten Grundsätze auf den vorliegenden Fall

Zu den Gründen für die Bestellung eines Russischdolmetschers

(88) Der GH beobachtet zunächst, dass das BG Kranj sich über die Verfügbarkeit von Dolmetschern in der Muttersprache des Bf. (Litauisch) erkundigt zu haben scheint und feststellte, dass zur damaligen Zeit in Slowenien keine derartigen Dolmetscher eingetragen waren. [Es kam daher zu dem Schluss, dass] eine Übersetzung aus dieser Sprache und in diese die Unterstützung der nächstgelegenen litauischen Botschaft erfordert hätte. Diese Erkundigungen wurden jedoch erst im Verfahren nach dem zweitinstanzlichen Gerichtsurteil vorgenommen und ohne dass weitere Schritte gesetzt worden wären. Es gibt in der Akte keinen Hinweis darauf, dass von den Behörden während des Verfahrens oder der Ermittlungen irgendwelche Möglichkeiten in Betracht gezogen worden wären, um eine litauische Übersetzung sicherzustellen. Jedoch scheint es, dass später im Verfahren, etwa vor dem Obersten Gericht, eine Übersetzung vom Litauischen ins Slowenische und umgekehrt erfolgte.

(89) Jedenfalls brachte die Regierung nicht vor, dass es zwingende Gründe gab, welche die Behörden daran gehindert hätten, einen litauischen Dolmetscher zu bestellen, um den Bf. zu unterstützen. [...] In der Tat waren die Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte im Hinblick auf die vorliegende Beschwerde auf die Vermutung gestützt, dass der Bf. Russisch verstand und in der Lage war, dem Verfahren in dieser Sprache zu folgen.

(90) Angesichts des Vorgesagten kann der GH nicht mutmaßen, ob und zu welchem Zeitpunkt für den Bf. eine litauische Übersetzung verfügbar gewesen wäre, wenn sich die Behörden aktiv darum bemüht hätten. Unter Berücksichtigung dessen, dass Art. 6 EMRK nicht notwendig verlangt, dass der Beschuldigte dem Verfahren in seiner Muttersprache folgen kann, wird er damit fortsetzen, als Hauptfrage zu prüfen, ob der Bf. die Übersetzung in eine Sprache erhielt, deren er für die Zwecke seiner Verteidigung ausreichend mächtig war, und falls nicht, ob dies die Fairness des Verfahrens insgesamt untergrub.

Zur Beurteilung des Bedürfnisses für eine Übersetzung

(91) Im vorliegenden Fall waren sich die Behörden eindeutig bewusst, dass der Bf., der litauischer Staatsbürger war und erst kurz vor seiner Festnahme in Slowenien angekommen war, die Sprache des Strafverfahrens gegen ihn (Slowenisch) nicht verstand. Nachdem die Polizei den Bf. in Gewahrsam genommen hatte, informierte sie ihn mit der Hilfe eines Russischdolmetschers über die Gründe für seine Festnahme und das Recht auf einen Anwalt. Als er vom Untersuchungsrichter befragt wurde, wurde der Bf. ebenfalls von dem Russischdolmetscher unterstützt. Er erhielt auch während des Verfahrens und der Konsultationen mit seinem vom Gericht bestellten Anwalt die Hilfe dieses Dolmetschers und er wurde mit einer russischen Übersetzung der relevanten gerichtlichen Dokumente versorgt. Obwohl die Aufzeichnungen der Ermittlungen und das Verhandlungsprotokoll ziemlich detailliert sind, kann der GH allerdings keinen Hinweis darauf finden, dass mit dem Bf. je dahingehend Rücksprache gehalten wurde, ob er die Verdolmetschung und die schriftliche Übersetzung ins Russische gut genug verstand, um seine Verteidigung wirksam in dieser Sprache führen zu können.

(92) In diesem Zusammenhang kann der GH den Hinweis der Regierung nicht akzeptieren, dass auf der Basis der litauischen Staatsangehörigkeit des Bf. irgendeine allgemeine Annahme über dessen Russischkenntnisse getroffen werden konnte, und weist die Argumente der Regierung betreffend die Verwendung des Russischen in Litauen zurück, da er feststellt, dass die Richtigkeit dieses Vorbringens auf keine Weise bewiesen wurde. Er hält ferner fest, dass von der Regierung keine andere Erklärung geliefert wurde, was die Behörden dazu führte zu glauben, dass der Bf. das Russische ausreichend beherrschte, als sie einen Dolmetscher in dieser Sprache zur Unterstützung des Bf. bestellten [...].

(93) Der GH muss daher zum Schluss kommen, dass die Behörden die Russischkompetenz des Bf. nicht explizit prüften. Das Fehlen einer solchen Prüfung ist ein wichtiges Element bei der Betrachtung des Falles durch den GH, da der wirksame Schutz der Rechte nach Art. 6 Abs. 3 lit. a und lit. e EMRK verlangt, dass der Angeklagte die Übersetzung in eine Sprache bekommt, deren er ausreichend mächtig ist.

Zu anderen Hinweisen auf die Russischkenntnisse des Bf.

(94) Der GH muss damit fortsetzen festzustellen, ob es irgendwelche anderen klaren Hinweise auf die Russischkompetenz des Bf. gibt. In diesem Zusammenhang bemerkt er, dass es von der Befragung durch den Untersuchungsrichter oder der Verhandlung keine Audioaufzeichnungen gibt und von der Regierung keine anderen Beweise vorgelegt wurden, um das tatsächliche Niveau des vom Bf. gesprochenen Russisch zu bestimmen. Was Hinweise auf sein Verstehen der Dolmetschsprache in der Prozessakte oder anderswo anbelangt, hält der GH erstens fest, dass aufgrund des Fehlens irgendeiner Überprüfung seine mangelnde Kooperation während des polizeilichen Verfahrens und während der Befragung durch den Ermittlungsrichter zumindest teilweise dem geschuldet sein könnte, dass er Schwierigkeiten hatte, sich auszudrücken und dem Verfahren in Russisch zu folgen.

(95) Zweitens können die wenigen eher grundlegenden Äußerungen des Bf. während der Verhandlung, die mutmaßlich in Russisch erfolgten, nicht als ausreichend angesehen werden um zu zeigen, dass er tatsächlich in der Lage war, seine Verteidigung wirksam in dieser Sprache vorzunehmen.

(96) Drittens stellte das Verfassungsgericht zwar fest, dass der Bf. mit seinem Anwalt » erfolgreich kommuniziert« habe, doch erläuterte es diese Feststellung nicht mit Bezugnahme auf die Fakten. Bedauernswerterweise scheint seine Schlussfolgerung mehr auf eine Vermutung gestützt zu sein als auf einen Nachweis der Sprachkenntnisse des Bf. oder der tatsächlichen Kommunikation mit seinem Anwalt.

(97) Im Ergebnis erachtet es der GH – auch wenn der Bf. in der Lage zu sein gewesen scheint, etwas Russisch zu sprechen und zu verstehen (was von ihm auch nicht bestritten wird) – nicht als erwiesen, dass dessen Kompetenz in dieser Sprache ausreichend war, um die Fairness des Verfahrens zu garantieren.

Zum Fehlen einer Beschwerde oder eines Antrags hinsichtlich der Bestellung eines anderen Dolmetschers während des Verfahrens

(98) Es bleibt, das Argument der Regierung zu untersuchen, wonach weder der Bf. noch sein Anwalt während der Ermittlungen, bei den Verhandlungen oder in Berufung irgendwelche Äußerungen betreffend die Bestellung des Russischdolmetschers getätigt hätten.

(99) Was den Bf. anbelangt, erachtet es der GH für wichtig festzuhalten, dass es in der Akte keinen Hinweis darauf gibt, wonach die Behörden Ersteren über sein Recht auf Übersetzung in seine Muttersprache oder sein grundlegendes Recht auf Übersetzung in eine Sprache, die er verstand, informierten. Die Regierung lieferte keine Rechtfertigung für dieses Versäumnis. Der GH betont in diesem Zusammenhang, dass die Information über das Recht auf Verdolmetschung ein integraler Bestandteil der Verpflichtungen der Behörden war, dem Bf. eine angemessene sprachliche Unterstützung zu gewähren, um das Recht auf ein faires Verfahren sicherzustellen – eine Verpflichtung, die im Zentrum der Rechtsberufung und der Verfassungsbeschwerde des Bf. stand. Außerdem kam dem Bf. innerstaatlich ein Recht auf Verdolmetschung in seine Muttersprache zu und die Behörden waren nach dem nationalen Verfahrensrecht verpflichtet, ihn über dieses Recht zu informieren und Aufzeichnungen über eine solche Information sowie die Reaktion des Bf. darauf zu führen.

(100) Nach Ansicht des GH konnte das Fehlen der genannten Information über das Recht auf Verdolmetschung zusammen mit der Verwundbarkeit des Bf. als Ausländer, der erst kurze Zeit vor der Verhaftung in Slowenien angekommen und während des Verfahrens inhaftiert war, und seiner eingeschränkten Beherrschung des Russischen das Fehlen eines Antrags auf einen anderen Dolmetscher oder einer diesbezüglichen Beschwerde bis zu einem späteren Verfahrenszeitpunkt, als er seine Muttersprache verwenden konnte, gut erklären. Der GH beobachtet zudem, dass das Verfassungsgericht die Situation des Bf. als außergewöhnlich erachtete, was zur Folge hatte, dass von diesem nicht verlangt wurde, gewöhnliche Rechtsbehelfe zu erschöpfen.

(101) Was das Fehlen von Beschwerden von Seiten des Anwalts des Bf. angeht, wiederholt der GH, dass die Gestaltung der Verteidigung zwar im Wesentlichen eine Sache zwischen dem Beschuldigten und seinem Anwalt ist [...], es jedoch letztendlich bei den innerstaatlichen Gerichten liegt, die Fairness des Verfahrens (die unter anderem das mögliche Fehlen von Übersetzung oder Verdolmetschung für einen Beschuldigten umfasst, der nicht Staatsangehöriger ist) zu gewährleisten. Das Versäumnis des rechtlichen Vertreters des Bf., die Frage der Verdolmetschung aufzuwerfen, befreite das innerstaatliche Gericht deshalb nicht von seiner Verantwortlichkeit nach Art. 6 EMRK.

Ergebnis

(102) Angesichts des oben Gesagten befindet der GH, dass im vorliegenden Fall nicht nachgewiesen werden konnte, dass der Bf. eine sprachliche Unterstützung erhielt, die es ihm erlaubt hätte, aktiv am Verfahren gegen ihn teilzunehmen. Das reicht nach Ansicht des GH aus, um das Verfahren als Ganzes unfair zu machen.

(103) Es erfolgte daher eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 EMRK. Angesichts dieser Schlussfolgerung muss die Einrede der Regierung betreffend die Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe zurückgewiesen werden (5:2 Stimmen; gemeinsames abweichendes Sondervotum der Richterin Kucsko-Stadlmayer und des Richters Bošnjak).

Weitere behauptete Verletzungen der Konvention

(104) Der Bf. rügte unter Art. 5 Abs. 2 EMRK, dass er nicht rasch in einer Sprache, die er verstehen konnte, über die Gründe für seine Festnahme informiert worden sei. Er beschwerte sich ebenso unter Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. a und lit. e EMRK, dass es nicht genug Russischdolmetscher gegeben habe. Er rügte darüber hinaus eine Verletzung von Art. 13 und Art. 14 EMRK iVm. Art. 6 EMRK.

(105) Was die Rügen unter Art. 5 Abs. 2 EMRK und/oder Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. a und lit. e EMRK [...] betrifft, erhob die Regierung eine Einrede wegen Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe. Der Bf. hätte diese Rügen im innerstaatlichen Verfahren nicht erhoben und insbesondere in seiner Verfassungsbeschwerde keinen Bezug darauf genommen.

(107) Der GH stellt fest, dass der Bf. in seiner Verfassungsbeschwerde, die er in seiner Muttersprache einreichen durfte, keine Rüge vorbrachte, wonach er nicht rasch und in einer Sprache, die er verstehen konnte, über die Gründe für seine Festnahme informiert worden sei. Der Bf. verabsäumte es ebenso, sich auf der innerstaatlichen Ebene über die unzureichende Zahl an verfügbaren Dolmetschern zu beschweren. Deshalb [...] muss die Einrede der Regierung aufrechterhalten und dieser Teil der Beschwerde [...] als unzulässig zurückgewiesen werden (einstimmig).

(109) Die Rügen [unter Art. 13 und Art. 14 iVm. Art. 6 EMRK] sind mit jener unter Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 EMRK betreffend die behauptete Versagung des Rechts des Bf. verbunden, im Strafverfahren gegen ihn eine Sprache zu verwenden, die er ausreichend beherrschte. Sie müssen daher ebenfalls für zulässig erklärt werden (einstimmig).

(110) Unter Berücksichtigung seiner Schlussfolgerung im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 EMRK kommt der GH zum Schluss, dass unter diesem Gesichtspunkt keine separate Frage aufgeworfen wird (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 6.400,– für den erlittenen immateriellen Schaden; € 2.500,– für Kosten und Auslagen (5:2 Stimmen).

Vom GH zitierte Judikatur:

Kamasinski/A v. 19.12.1989 = ÖJZ 1990, 412

Brozicek/I v. 19.12.1989

Cuscani/GB v. 24.9.2002 = NL 2002, 197

Hermi/I v. 18.10.2006 (GK) = NL 2006, 248

Amer/TR v. 13.1.2009

Diallo/S v. 5.1.2010 (ZE)

Katritsch/F v. 4.11.2010

Ibrahim u.a./GB v. 13.9.2016 (GK) = NLMR 2016, 423

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 28.8.2018, Bsw. 59868/08, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2018, 347) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/18_4/Vizgirda.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

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