EGMR Bsw60798/10

EGMRBsw60798/1028.6.2018

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache M. L. und W. W. gg. Deutschland, Urteil vom 28.6.2018, Bsw. 60798/10.

 

Spruch:

Art. 8 EMRK - Verfügbarhaltung von Informationen über vergangene Straftaten durch Medien im Internet.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

 

Begründung:

Sachverhalt:

Die Bf. wurden am 21.5.1993 nach einem auf Indizien beruhenden Strafverfahren wegen des Mordes am bekannten Schauspieler W. S. zu Haftstrafen verurteilt. Im Zusammenhang mit einem 2004 gestellten Wiederaufnahmeverfahren wandten sich die Bf. auch an die Presse und übergaben dieser Dokumente im Zusammenhang mit dem Verfahren. Die beiden Bf. wurden im August 2007 bzw. Januar 2008 auf Bewährung entlassen.

Am 14.7.2000 veröffentlichte der Radiosender Deutschlandradio einen Bericht mit dem Titel »W. S. vor zehn Jahren ermordet«. Unter vollständiger Nennung der Namen der Bf. wurde auch deren Verurteilung erwähnt sowie dass sie ihre Unschuld beteuern würden, ihr Antrag auf Wiederaufnahme in diesem Jahr allerdings abgewiesen worden sei. Die Transkription dieses Berichts blieb im Archiv des Senders unter der Rubrik »ältere Informationen« abrufbar. Die Bf. klagten den Sender daraufhin im Jahr 2007 und verlangten die Anonymisierung der personenbezogenen Daten in den sie betreffenden Dossiers auf der Internetseite des Radiosenders. Nachdem sie in den unteren Instanzen obsiegt hatten, hob der BGH die betreffenden Entscheidungen nach einer Abwägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und des Rechts auf Achtung des Privatlebens auf der einen Seite und der Meinungsäußerungs- und Pressefreiheit auf der anderen Seite am 15.12.2009 auf (VI ZR 227/08 und 228/08). Er sah insbesondere eine Gefahr für die verfassungsrechtlich abgesicherte Aufgabe des Radios gegeben, die Öffentlichkeit zu informieren, wenn man es ihm untersagen würde, Internetnutzern die Transkriptionen von früheren Radiosendungen, deren Rechtmäßigkeit nicht in Frage gestellt wurde, zur Verfügung zu stellen. Das BVerfG ließ die Verfassungsbeschwerden der Bf. am 6.7.2010 nicht zu (1 BvR 535/10 und 547/10).

Im Internetportal des Wochenmagazins Der Spiegel fand sich weiters ein Dossier mit dem Titel »W. S. – ein Hammermord«. Das Dossier enthielt fünf Artikel, die zwischen 1991 und 1993 in der Print- und der Onlineversion des Magazins erschienen waren. Der Zugang dazu war von der Zahlung einer Geldsumme abhängig. Die Artikel berichteten im Detail über den Mord an W. S., jener der Ausgabe Nr. 49/1992 vom 30.11.1992 auch über bestimmte Details aus dem Leben der Bf., wobei abermals deren vollständige Name genannt wurde. Zwei der Artikel, die 1992 erschienen waren, beinhalteten auch Fotos, die beide Bf. im Verhandlungssaal des Strafgerichts sowie den ErstBf. in Begleitung eines Strafvollzugsbeamten bzw. den ZweitBf. in Begleitung von W. S. zeigten. Nachdem sich die Bf. an die Gerichte gewandt hatten, um die Löschung der Fotos und ihrer Namen in den Publikationen zu erreichen, wies der BGH ihre Klagen am 9.2.2010 ab (VI ZR 244/08 und 243/08). Was die Artikel anbelangte, folgte der BGH der Begründung in seinen Urteilen vom 15.12.2009. Was die Fotos anging, befand er, dass diese in Anbetracht aller Umstände nicht so stark in die Rechte der Bf. eingriffen, dass sie ein berechtigtes Interesse an einem Verbot der Veröffentlichung gehabt hätten. Das BVerfG ließ die Verfassungsbeschwerden der Bf. wie in den früheren Fällen nicht zu (1 BvR 924/10 und 923/10).

Im Jahr 2007 klagten die Bf. zudem die Tageszeitung Mannheimer Morgen, auf deren Internetportal sich bis 2007 ebenfalls ein Bericht über die Bf. vom 22.5.2001 fand. Während zum vollständigen Bericht vor allem Abonnenten Zugang hatten, war auch ein Teaser abrufbar, der für alle Internetnutzer zugänglich war. Dieser erwähnte die vollständigen Namen der Bf. und verwies darauf, dass ein Antrag der beiden auf Wiederaufnahme des Verfahrens abgewiesen worden wäre. Die unterinstanzlichen Gerichte gaben der Klage der Bf. wiederum statt, der BGH wies sie hingegen am 20.4.2010 ab (VI ZR 245/08 und 246/08). Das BVerfG ließ die Verfassungsbeschwerden der Bf. ebenfalls nicht zu (1 BvR 1316/10 und 1315/10).

Der BGH hat seine Rechtsprechung sodann in weiteren von den Bf. angestrengten Verfahren bestätigt (VI ZR 345/09 und 347/09 vom 1.2.2011, VI ZR 114/09 und 115/09 vom 22.2.2011 und VI ZR 217/08 vom 8.5.2012 betreffend den ZweitBf.).

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. rügten eine Verletzung von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens) durch die Weigerung des BGH, den genannten Medien zu untersagen, die Berichte auf ihren Internetportalen verfügbar zu halten.

Zur Verbindung der Beschwerden

(64) Unter Berücksichtigung der Ähnlichkeit der vorliegenden Beschwerden im Hinblick auf den Sachverhalt und die inhaltlichen Frage [...] erachtet es der GH für angebracht, sie [...] zu verbinden (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK

(67) Da die Beschwerden nicht offensichtlich unbegründet [...] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig sind, sind sie für zulässig zu erklären (einstimmig).

Allgemeine Grundsätze

(88) [...] Auf Art. 8 EMRK kann man sich nicht stützen, um sich über einen Eingriff in seinen guten Ruf zu beschweren, der vorhersehbarerweise aus seinen eigenen Handlungen wie etwa einer Straftat resultiert.

(89) Der GH betont, dass Beschwerden wie die vorliegenden eine Prüfung des gerechten Ausgleichs verlangen, der zwischen dem durch Art. 8 EMRK garantierten Recht auf Achtung des Privatlebens der Bf. einerseits und der Meinungsäußerungsfreiheit des Radiosenders und der Verlage sowie der Informationsfreiheit der Öffentlichkeit, die durch Art. 10 EMRK gewährt werden, andererseits zu schaffen ist. [...]

(94) Wenn die von den nationalen Behörden vorgenommene Abwägung unter Achtung der in der Rechtsprechung des GH festgelegten Kriterien erfolgt, bedarf es schwerwiegender Gründe, damit dieser seine Sicht der Dinge an die Stelle jener [...] setzt. Mit anderen Worten erkennt der GH dem Staat allgemein einen weiten Ermessensspielraum zu, wenn dieser einen Ausgleich zwischen privaten Interessen oder verschiedenen von der Konvention geschützten Rechten schaffen muss.

(95) Der GH hatte bereits Gelegenheit, die einschlägigen Grundsätze zu formulieren, die seine Beurteilung der Notwendigkeit und vor allem jene der nationalen Gerichte leiten müssen. Er hat daher im Hinblick auf die Abwägung der betroffenen Rechte eine Reihe von Kriterien aufgestellt [...]: der Beitrag zu einer Debatte von allgemeinem Interesse; die Bekanntheit der betroffenen Person; der Gegenstand der Berichterstattung; das frühere Verhalten der betroffenen Person; der Inhalt, die Form und die Auswirkungen der Veröffentlichung; sowie gegebenenfalls die Umstände bei der Aufnahme eines Fotos [...].

(96) Der GH befindet, dass die festgelegten Kriterien auf den vorliegenden Fall übertragen werden können, auch wenn einige von ihnen angesichts seiner besonderen Umstände mehr oder weniger relevant sein können.

Anwendung der Grundsätze auf den

vorliegenden Fall

(97) Der GH hält zunächst fest, dass die Informationen über die Bf., die von den betreffenden Medien zur Verfügung gestellt wurden, von den Internetnutzern vor allem aufgrund der Suchmaschinen leicht gefunden werden konnten. Dennoch resultierte der ursprüngliche Eingriff in die Ausübung des Rechts der Bf. auf Achtung ihres Privatlebens aus der Entscheidung der Medien, diese Informationen zu veröffentlichen und sie vor allem auf ihren Webseiten verfügbar zu halten – sei es auch ohne Absicht, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu erregen –, während die Suchmaschinen lediglich die Reichweite des Eingriffs verstärkten. Aufgrund dieses verstärkenden Effekts im Hinblick auf den Grad der Verbreitung der Informationen und der Natur der Aktivität, mit der die Veröffentlichung der Information über die betroffene Person in Verbindung steht, können die Verpflichtungen der Suchmaschinen im Hinblick auf die von der Information betroffene Person deshalb von jenen des Herausgebers der Information verschieden sein. Folglich kann die Abwägung der auf dem Spiel stehenden Interessen zu unterschiedlichen Ergebnissen führen, je nachdem ob ein Löschungsantrag gegen den ursprünglichen Herausgeber in Frage steht, dessen Aktivität sich allgemein im Kern des durch die Meinungsäußerungsfreiheit geschützten Bereiches bewegt, oder gegen eine Suchmaschine, deren Hauptinteresse nicht darin besteht, die ursprüngliche Information über die betreffende Person zu veröffentlichen, sondern es insbesondere einerseits zu erlauben, jede im Hinblick auf diese Person verfügbare Information zu finden, und andererseits, ein Profil selbiger zu erstellen.

Der Beitrag zu einer Debatte von allgemeinem Interesse

(98) Was die Frage des Vorliegens einer Debatte von allgemeinem Interesse betrifft, beobachtet der GH, dass der BGH das beträchtliche Interesse betont hat, welches das Verbrechen und das Strafverfahren aufgrund des schwerwiegenden Charakters der Ereignisse und der Bekanntheit des Opfers zur damaligen Zeit auslösten. Er hat auch festgehalten, dass die Bf. über das Jahr 2000 hinaus versucht haben, die Wiederaufnahme ihres Verfahrens zu erlangen. Das Höchstgericht betonte zudem den wahrheitsgetreuen und objektiven Charakter der Berichterstattungen. Der GH kann sich dieser Analyse anschließen, berücksichtigt man den Umstand, dass die Öffentlichkeit grundsätzlich ein Interesse daran hat, von Strafverfahren informiert zu werden und sich diesbezüglich informieren zu können, vor allem, wenn sie sich auf eine besonders schwerwiegende Tat beziehen, die beträchtliche Aufmerksamkeit ausgelöst hat. Dies betrifft nicht nur die Berichterstattungen, die während des fraglichen Strafverfahrens erschienen sind, sondern kann je nach den Umständen des Falles auch Reportagen einschließen, die einige Jahre nach der Verurteilung über eine Wiederaufnahme dieses Verfahrens berichten.

(99) Der GH betont, dass die vorliegenden Beschwerden insofern besonders sind, als die Bf. nicht die Rechtmäßigkeit der Berichterstattungen anlässlich des ersten Erscheinens oder der Verfügbarmachung auf den Internetportalen der betreffenden Medien in Frage stellen, sondern die Möglichkeit des Zugangs zu diesen Berichten lange Zeit später und im Zusammenhang mit dem Herannahen des Zeitpunkts ihrer voraussichtlichen Entlassung aus dem Gefängnis. Er muss daher prüfen, ob die Verfügbarmachung der strittigen Berichte weiterhin zu einer Debatte von allgemeinem Interesse beigetragen hat.

(100) Der GH erinnert daran, dass es nach Ablauf einer gewissen Zeit und insbesondere bei der bevorstehenden Entlassung aus dem Gefängnis das Interesse eines Verurteilten ist, im Hinblick auf seine Wiedereingliederung in die Gesellschaft nicht mehr mit seiner Tat konfrontiert zu werden. Dies kann nach der endgültigen Freilassung einer solchen Person umso mehr zutreffen. Ebenso ist der Grad des Interesses der Öffentlichkeit an Strafverfahren variabel, da es sich im Laufe des Verfahrens unter anderem je nach den Umständen des Falles wandeln kann.

(101) Im Hinblick auf den vorliegenden Fall hält der GH fest, dass der BGH – obwohl er den Bf. ein verstärktes Interesse einräumte, nicht mehr mit ihrer Verurteilung konfrontiert zu werden – betonte, dass die Öffentlichkeit nicht nur ein Interesse daran habe, über ein aktuelles Ereignis informiert zu werden, sondern auch daran, Recherchen über vergangene Ereignisse vornehmen zu können. Das Höchstgericht hat ebenfalls in Erinnerung gerufen, dass es Aufgabe der Medien ist, sich an der demokratischen Meinungsbildung zu beteiligen, indem sie der Öffentlichkeit alte Informationen zur Verfügung stellen, die in ihren Archiven aufbewahrt sind.

(102) Der GH stimmt dieser Schlussfolgerung vollkommen zu. Tatsächlich hat er ständig die wesentliche Rolle betont, welche die Presse in einer demokratischen Gesellschaft spielt, und zwar auch über ihre Internetseiten und die Erstellung digitaler Archive, die entscheidend dazu beitragen, den Zugang der Öffentlichkeit zu Informationen und deren Verbreitung zu verbessern. Im Übrigen ist das legitime Interesse der Öffentlichkeit, Zugang zu öffentlichen elektronischen Archiven der Presse haben zu können, laut der Rechtsprechung des GH von Art. 10 EMRK geschützt. Daher muss jede Maßnahme, die den Zugang zu Informationen einschränkt, auf deren Empfang die Öffentlichkeit ein Recht hat, durch besonders dringende Gründe gerechtfertigt werden.

(103) In diesem Zusammenhang hat der BGH die Gefahr einer abschreckenden Wirkung auf die Meinungsäußerungsfreiheit der Presse aufgezeigt, wenn Anträgen wie jenen der Bf. stattgegeben würde – insbesondere die Gefahr, dass die Medien mangels ausreichender personeller und zeitlicher Ressourcen zur Prüfung vergleichbarer Anträge dazu gebracht werden, in ihre Berichterstattungen keine identifizierenden Elemente mehr aufzunehmen, die später unrechtmäßig werden könnten.

(104) Der GH stellt fest, dass die Bf. nicht verlangen, dass die Medien ihre Archive systematisch und andauernd kontrollieren, sondern nur, dass sie eine solche Kontrolle im Falle eines ausdrücklichen individuellen Verlangens vornehmen. Allerdings kann er das Vorliegen des Risikos für die Presse, auf das der BGH verwiesen hat, nicht einfach beiseiteschieben. Tatsächlich würde die Verpflichtung, in einem späteren Stadium nach einer Klage der betroffenen Person die Rechtmäßigkeit einer Berichterstattung zu prüfen, was [...] eine Abwägung aller auf dem Spiel stehenden Interessen impliziert, die Gefahr mit sich bringen, dass die Presse davon Abstand nimmt, Berichterstattungen in ihren Online-Archiven aufzubewahren, oder in ihren Berichten individuelle Elemente weglässt, die geeignet sind, Gegenstand einer solchen Klage zu sein. Auch wenn man die Wichtigkeit der Rechte einer Person anerkennt, über die in einer im Internet verfügbaren Veröffentlichung berichtet wird, müssen diese Rechte auch gegen das Recht der Öffentlichkeit, sich insbesondere mit Hilfe der digitalen Pressearchive über Ereignisse der Vergangenheit und der Zeitgeschichte zu informieren, abgewogen werden. Der GH erinnert diesbezüglich daran, dass er die größte Vorsicht walten lassen muss, wenn er dazu aufgerufen ist, unter Art. 10 EMRK gegenüber der Presse verhängte Maßnahmen oder Sanktionen zu untersuchen, die diese davon abschrecken, an der Diskussion von Problemen von legitimem Allgemeininteresse teilzunehmen.

(105) Soweit die Bf. unterstreichen, dass sie nicht verlangen, die strittigen Berichterstattungen zu löschen, sondern nur, dass ihre Namen darin nicht mehr aufscheinen, bemerkt der GH, dass die Anonymisierung einer Berichterstattung gewiss eine weniger in die Meinungsäußerungsfreiheit eingreifende Maßnahme darstellt als eine Löschung der ganzen Reportage. Er erinnert dennoch daran, dass die Art und Weise, wie ein Gegenstand behandelt wird, der journalistischen Freiheit unterfällt, und dass Art. 10 EMRK es den Journalisten überlässt zu entscheiden, welche Details veröffentlicht werden müssen, um die Glaubwürdigkeit einer Publikation sicherzustellen – unter der Voraussetzung, dass sich die diesbezüglich getroffenen Entscheidungen auf ihre berufsethischen Regeln gründen. Der GH befindet [...], dass die Aufnahme von identifizierenden Elementen in eine Berichterstattung, wie des kompletten Namens der betroffenen Person, einen wesentlichen Aspekt der Arbeit der Presse darstellt, und dies umso mehr, wenn es um Berichterstattungen über Strafverfahren geht, die ein beträchtliches Interesse ausgelöst haben. Er kommt im vorliegenden Fall zum Schluss, dass die Verfügbarkeit der strittigen Berichterstattungen auf den Webseiten der Medien zum Zeitpunkt der Klagen der Bf. immer noch zu einer Debatte von allgemeinem Interesse beitrug, die durch das Verstreichen einer Zeit von mehreren Jahren nicht erlosch.

Die Bekanntheit der betroffenen Person und der Gegenstand der Berichterstattung

(106) Was die Bekanntheit der Bf. betrifft, betont der GH, dass die deutschen Gerichte sich dazu nicht ausdrücklich geäußert haben. Er hält dennoch fest, dass die Bekanntheit der Betroffenen eng mit der Begehung des Mordes durch sie und dem darauffolgenden Strafverfahren in Verbindung stand. Wenn daher auch nichts darauf hinweist, dass die Bf. der Öffentlichkeit vor ihrem Verbrechen bekannt waren, so erlangten sie doch während des Prozesses, der laut den Feststellungen der Zivilgerichte angesichts der Natur und der Umstände des Verbrechens sowie der Berühmtheit des Opfers in der Öffentlichkeit ein beträchtliches Interesse hervorgerufen hat, eine gewisse Bekanntheit. Auch wenn das Interesse der Öffentlichkeit an diesem Verbrechen und daher die Bekanntheit der Bf. in der Folge und mit der Zeit zurückgegangen sind, hält der GH fest, dass die Bekanntheit der Bf. wieder stieg, nachdem sie mehrfach versucht hatten, die Wiederaufnahme ihres Strafverfahrens zu erlangen, und sie sich zu diesem Zweck an die Presse gewandt hatten. Der GH schließt daraus, dass es sich bei den Bf. um keine einfachen Privatpersonen handelte, die der Öffentlichkeit zum Zeitpunkt ihrer Anträge auf Anonymisierung unbekannt waren.

(107) Was den Gegenstand der Berichterstattungen betrifft, so bezogen sich diese entweder auf das damalige Strafverfahren oder auf einen der Anträge der Bf. auf Wiederaufnahme des Verfahrens – lauter Elemente, die geeignet sind, in einer demokratischen Gesellschaft zu einer Debatte beizutragen. Er verweist diesbezüglich auf seine Schlussfolgerungen (siehe Rn. 111 unten).

Das frühere Verhalten der betroffenen Person gegenüber den Medien

(108) Was das Verhalten der Bf. seit ihrer Verurteilung betrifft, hält der GH fest, dass sie – wie der BGH betont hat – alle »möglichen und erdenklichen« Rechtsbehelfe erhoben haben, um die Wiederaufnahme ihres Strafverfahrens zu erlangen. Außerdem haben sich die Bf. [...] im Zuge ihres letzten Antrags auf Wiederaufnahme 2004, also zweieinhalb bzw. drei Jahre vor ihrer Freilassung, an die Presse gewandt, der sie eine bestimmte Zahl an Dokumenten übermittelten, die zum Teil mit ihrem Wiederaufnahmeantrag in Verbindung standen, wobei sie dazu einluden, die Öffentlichkeit darüber auf dem Laufenden zu halten. Im Übrigen [...] konnte man [...] auf der Webseite des Strafverteidigers des ZweitBf. bis 2006 zahlreiche Berichte über seinen Klienten finden.

(109) Auch wenn man einer verurteilten Person – die zudem ihre Unschuld beteuert – nicht vorwerfen kann, von den im nationalen Recht verfügbaren Rechtsbehelfen Gebrauch zu machen, um ihre Verurteilung anzufechten, betont der GH in diesem Zusammenhang, dass die Versuche der Bf. weit über die einfache Verwendung der im deutschen Strafrecht verfügbaren Rechtsbehelfe hinausgingen. Insbesondere war das Interesse der Bf. daran, über die auf den Internetportalen einiger Medien archivierten Informationen nicht mehr mit ihren Verurteilungen konfrontiert zu werden, angesichts ihres Verhaltens insbesondere der Presse gegenüber im vorliegenden Fall von geringerer Bedeutung. Der GH kommt zum Schluss, dass die Bf. deshalb auch angesichts ihrer bevorstehenden Freilassung nur noch eine eingeschränkte legitime Erwartung auf Anonymisierung der Berichterstattungen und folglich ein Recht auf digitales Vergessen hatten.

Der Inhalt, die Form und die Auswirkungen der Veröffentlichung

(110) Der GH erinnert daran, dass die Art und Weise, auf die ein Bericht oder ein Foto veröffentlicht werden und auf die die betroffene Person darin dargestellt wird, ebenfalls berücksichtigt werden kann. Ebenso kann die Reichweite der Verbreitung der Berichterstattung oder des Fotos von Bedeutung sein, je nachdem, ob es sich um eine landesweit oder lokal verbreitete Zeitung und eine solche mit hoher oder schwacher Auflage handelt.

(111) Was den Gegenstand, den Inhalt und die Form der strittigen Dossiers betrifft, befindet der GH, dass die Art und Weise, auf welche der BGH die Berichterstattungen von Deutschlandradio und des Mannheimer Morgen beurteilt hat, nicht zu kritisieren ist. Es handelt sich nämlich um Texte, die von Medien in Ausübung ihrer Meinungsäußerungsfreiheit verfasst wurden, die auf objektive Weise über eine Justizentscheidung berichteten und deren Richtigkeit und Rechtmäßigkeit ursprünglich zu keinem Zeitpunkt in Frage gestellt wurde. Was das Dossier von Spiegel online betrifft, gesteht der GH zu, dass bestimmte Artikel, insbesondere die in der Ausgabe vom 30.11.1992 erschienenen, aufgrund der Natur der gelieferten Informationen Anlass für Fragen geben können. Dennoch hält er fest, dass die Details betreffend das Leben der Beschuldigten [...] Teil der Informationen sind, die ein Strafrichter regelmäßig berücksichtigen muss, um die Umstände des Verbrechens und die Elemente der individuellen Schuld zu beurteilen, und die deshalb allgemein Gegenstand von Erörterungen bei den öffentlichen Verhandlungen sind. Im Übrigen spiegeln diese Artikel keine Absicht wider, die Bf. auf eine abwertende Weise darzustellen oder ihrem Ruf zu schaden.

(112) Im Hinblick auf den Verbreitungsgrad der strittigen Veröffentlichungen hält der GH fest, dass der BGH befunden hat, dass die strittigen Informationen im Unterschied zu einem Gegenstand, der über das Fernsehen zur besten Zeit gesendet wird, eine bloß begrenzte Verbreitung erreichten – und zwar aufgrund ihrer begrenzten Zugänglichkeit und ihrer Platzierung nicht auf den den aktuellen Ereignissen gewidmeten Seiten der Internetportale der betroffenen Medien, sondern in den Rubriken, die klar darauf hinwiesen, dass es sich um ältere Berichte handelte. Die Bf. zweifelten diese Begründung an und warfen dem BGH insbesondere vor, die Realitäten der Internetära verkannt und die Gefahren unterschätzt zu haben, die mit dem Fortbestehen von Informationen in diesem Medium verbunden und die vor allem der Existenz von mächtigen und wirksamen Suchmaschinen geschuldet sind.

(113) Die strittigen Berichterstattungen konnten aufgrund ihrer Platzierung auf den Internetportalen nicht die Aufmerksamkeit jener Internetnutzer auf sich ziehen, die nicht auf der Suche nach Informationen über die Bf. waren. Zugleich erkennt der GH keine Hinweise darauf, dass die Aufrechterhaltung des Zugangs zu diesen Berichten zum Ziel gehabt hätte, erneut Informationen über die Bf. zu verbreiten. Insofern kann der GH den Schlussfolgerungen des BGH folgen, wonach der Grad der Verbreitung der Berichterstattungen begrenzt war, vor allem, da [der Zugang zu] ein[em] Teil der Informationen zusätzlich beschränkt wurde (siehe den gebührenpflichtigen Zugang im Fall von Spiegel online und den den Abonnenten vorbehaltenen Zugang im Fall des Mannheimer Morgen).

(114) Soweit die Bf. behaupten, diese Weise, den Verbreitungsgrad zu bestimmen, würde den verstärkenden und allgegenwärtigen Charakter des Internets und folglich die Möglichkeit, insbesondere über Suchmaschinen unabhängig vom ursprünglichen Verbreitungsgrad dauerhaft Informationen über sie zu finden, nicht berücksichtigen, stellt der GH – in dem Bewusstsein, dass jede einmal im Internet veröffentlichte Information dauerhaft zugänglich ist – fest, dass die Bf. keine Versuche erwähnten, die sie unternommen hätten, sich an den Suchmaschinenbetreiber zu wenden, um die Aufspürbarkeit der Informationen über ihre Personen zu vermindern. [...]

Die Umstände bei der Aufnahme der Fotos

(115) Was schließlich die fraglichen Fotos anbelangt, bemerkt der GH, dass weder die Bf. noch die Zivilgerichte sich zu den Umständen ihrer Aufnahme geäußert haben. Er erkennt auf diesen Fotos dennoch kein kompromittierendes Element und hält im Übrigen fest, dass die Bilder  – wie vom BGH zurecht betont – die Bf. mit ihrem Aussehen von 1994 zeigten, also 13 Jahre vor ihrer Freilassung, was die Wahrscheinlichkeit der Wiedererkennung durch Dritte auf Basis der Fotos verminderte.

Ergebnis

(116) Unter Berücksichtigung des Ermessensspielraums der Behörden, wenn sie divergierende Interessen abwägen, der Bedeutung, Berichterstattungen, deren Rechtmäßigkeit bei ihrem Erscheinen nicht bestritten wird, verfügbar zu halten, und des Verhaltens der Bf. gegenüber der Presse befindet der GH, dass es keine schwerwiegenden Gründe gibt, die es rechtfertigen würden, seine Ansicht an die Stelle jener des BGH zu setzen. Man kann daher nicht sagen, dass der BGH, indem er sich weigerte, dem Antrag der Bf. stattzugeben, die positiven Verpflichtungen des deutschen Staates verletzt hätte, das Recht der Bf. auf Achtung ihres Privatlebens iSd. Art. 8 EMRK zu schützen. Deshalb erfolgte keine Verletzung dieser Bestimmung (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Österreichischer Rundfunk/A v. 7.12.2006 = NL 2006, 308 = ÖJZ 2007, 472

Times Newspapers Ltd./GB (Nr. 1 und 2) v. 10.3.2009 = NL 2009, 84

Von Hannover/D (Nr. 2) v. 7.2.2012 (GK) = NLMR 2012, 45 = EuGRZ 2012, 278

Axel Springer AG/D v. 7.2.2012 (GK) = NLMR 2012, 42 = EuGRZ 2012, 294

Wegrzynowski und Smolczewski/PL v. 16.7.2013 = NLMR 2013, 268

Satakunnan Markkinapörssi Oy und Satamedia Oy/FIN v. 27.6.2017 (GK) = NLMR 2017, 264

Fuchsmann/D v. 19.10.2017 = NLMR 2017, 442

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 28.6.2018, Bsw. 60798/10, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2018, 257) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/18_3/M.L . und W.W..pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte