EGMR Bsw60818/10

EGMRBsw60818/1025.10.2016

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Verlagsgruppe News GmbH gg. Österreich, Urteil vom 25.10.2016, Bsw. 60818/10.

 

Spruch:

Art. 10 EMRK - Bericht über Verlustgeschäfte der Hypo Alpe-Adria unter Nennung des Namens des verantwortlichen Managers.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 7.873,22– für immateriellen Schaden, € 2.750,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

 

Begründung:

Sachverhalt:

Die bf. Gesellschaft ist Medieninhaberin und Herausgeberin des Wochenmagazins Profil. Dieses berichtete am 10.4.2006 über schwere Verluste der Hypo Alpe-Adria Bank, die bis 2007 zu 50?% im Eigentum des Landes Kärnten stand.

Von 1996 bis 2006 war Christian Rauscher Leiter der Treasury-Abteilung dieser Bank. Anfang 2006 hatte der Vorstand der Bank die Finanzmarktaufsicht (FMA) über Spekulationsverluste in der Höhe von mehreren hundert Millionen Euro informiert. Anfang April berichteten mehrere Tageszeitungen – darunter der Standard – (Anm: Siehe EGMR 10.1.2012, Standard Verlags GmbH/A (Nr. 3), 34.702/07 = NLMR 2012, 3 = ÖJZ 2012, 426.) über die Vorfälle, wobei Herr Rauscher namentlich als Verantwortlicher genannt wurde. Am 5.4.2006 erstattete die FMA Strafanzeige gegen Herrn Rauscher und drei weitere Personen wegen des Verdachts der Untreue im Zusammenhang mit den Spekulationsverlusten.

In dem Artikel vom 10.4.2006 wurde unter der Überschrift »Schwere Hypothek« über die Spekulationsverluste in der Höhe von 324 Millionen Euro berichtet und die Frage nach der Verantwortung dafür sowie nach Fehlern im Risikomanagement der Bank gestellt. Der Bericht enthielt auch ein Interview mit dem damaligen Vorstandsvorsitzenden der Bank, Wolfgang Kulterer. Dieser warf Herrn Rauscher vor, bei seinen Währungstransaktionen interne Richtlinien missachtet zu haben. In dem Artikel wurde berichtet, dass »der für die Transaktionen verantwortlich zeichnende Treasury-Manager Christian Rauscher« von seinem Arbeitsplatz verbannt worden sei und gerichtliche Vorerhebungen gegen ihn laufen würden.

Herr Rauscher beantragte eine Entschädigung nach § 7a MedienG wegen der Bekanntgabe seiner Identität. Das LG für Strafsachen Wien wies den Antrag am 19.8.2008 ab. Der dagegen erhobenen Berufung wegen Nichtigkeit gab das OLG Wien am 20.4.2009 statt. Es sprach dem Antragsteller eine Entschädigung in der Höhe von € 3.000,– zu, weil durch die Bekanntgabe seiner Identität seine schutzwürdigen Interessen verletzt worden seien. Das OLG bejahte zwar das Bestehen eines öffentlichen Interesses an der Information darüber, wer für die Verluste der Hypo Alpe-Adria verantwortlich war. Allerdings hätte sich der Artikel darauf beschränken sollen, die Funktion des Leiters der Treasury-Abteilung zu nennen, ohne dessen Namen zu enthüllen. Aufgrund der Tatsache, dass Herr Rauscher bloß die Funktion eines dem Vorstand untergeordneten Managers innehatte und sich das Strafverfahren erst im frühesten Erhebungsstadium befunden hatte, habe kein überwiegendes öffentliches Interesse an der identifizierenden Berichterstattung bestanden.

Ein Antrag der bf. Gesellschaft auf Erneuerung des Strafverfahrens gemäß § 363a StPO wurde vom OGH am 17.3.2010 zurückgewiesen (Anm: OGH 17.3.2010, 15 Os 95/09y = MR 2010, 123.).

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behauptete eine Verletzung von Art. 10 EMRK (Meinungsäußerungsfreiheit).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK

Zulässigkeit

(25) Der GH stellt fest, dass die Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet [...] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

In der Sache

(26) [...] Es steht außer Streit, dass das Urteil des OLG Wien vom 20.4.2009 [...] einen Eingriff in das Recht der bf. Gesellschaft auf freie Meinungsäußerung [...] begründete.

(27) [...] Einigkeit besteht zwischen den Parteien auch darüber, dass der Eingriff gesetzlich vorgesehen war, nämlich durch § 7a MedienG, und einem legitimen Ziel diente, nämlich dem Schutz der Rechte und des Ansehens anderer. Der GH sieht keinen Grund, das Gegenteil anzunehmen.

(35) Der GH bemerkt eingangs, dass der dem vorliegenden Fall zu Grunde liegende Sachverhalt jenem des Falls Standard Verlags GmbH/A (Nr. 3) ähnelt, der ebenfalls einen Artikel über die enormen Spekulationsverluste der Hypo Alpe-Adria betraf. [...]

(36) In seinem Urteil vom 10.1.2012 stellte der GH eine Verletzung der durch Art. 10 EMRK garantierten Rechte der bf. Gesellschaft fest. [...]

(37) [...] Der GH betont jedoch, dass eine Prüfung des Falls zu anderen Schlussfolgerungen führen kann, da bestimmte der in der Judikatur des GH definierte Prüfungskriterien sehr stark von der Beurteilung der spezifischen Veröffentlichung und dem Verhalten ihres Autors abhängen.

(38) Was den Gegenstand des Berichts betrifft, bemerkt der GH, dass die Veröffentlichung darauf abzielte, die Ereignisse zu beschreiben, die im November 2004 zu massiven Spekulationsverlusten einer Bank führten, die zu beinahe 50?% im Eigentum des Landes Kärnten stand, sowie das Verhalten des Vorstands bei der Bewältigung dieser und vorangegangener Krisen. [...]

(39) Was das Kriterium des »Beitrags zu einer Debatte von allgemeinem Interesse« betrifft, erinnert der GH daran, dass der Ermessensspielraum, der den Staaten bei der Entscheidung über die Notwendigkeit eines Eingriffs nach Art. 10 Abs. 2 EMRK eingeräumt wird, verringert ist, wenn es um eine Debatte von öffentlichem Interesse geht. [...]

(41) Im vorliegenden Fall stimmt der GH darin mit der Regierung überein, dass der umstrittene Artikel nicht im selben Maße wie jener in Standard Verlags GmbH/A (Nr. 3) die Verbindungen zwischen der Politik und den Ereignissen, die zu den Verlusten führten, behandelte. Die bf. Gesellschaft kann daher nicht behaupten, dass der fragliche Artikel zu einer Debatte über eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse beitrug, weil er die Verflechtungen zwischen der Politik und den Verlusten der Bank behandelte. Der GH muss folglich prüfen, ob der fragliche Artikel aus anderen Gründen zu einer Debatte über eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse beitrug.

(42) In früheren Fällen hat der GH unter strikter Beachtung der Unschuldsvermutung festgestellt, dass die Öffentlichkeit grundsätzlich ein Interesse daran hat, über Strafverfahren informiert zu werden und sich darüber informieren zu können. Dieses Interesse kann allerdings unterschiedlich groß sein, da es sich im Laufe eines Verfahrens anhand verschiedener Faktoren entwickeln kann, wie etwa dem Bekanntheitsgrad der betroffenen Person, den Umständen des Falls und weiteren Entwicklungen, die sich im Zuge des Verfahrens ergeben. In diesem Zusammenhang hat der GH festgehalten, dass die Enthüllung der Identität eines Verdächtigen vor allem in der frühen Phase eines Strafverfahrens besonders problematisch sein kann und die innerstaatlichen Gerichte Maßnahmen ergreifen können, um ihn vor einer medialen Vorverurteilung zu schützen und der Unschuldsvermutung nach Art. 6 Abs. 2 EMRK Wirksamkeit zu verleihen.

(43) Der GH anerkennt, dass das OLG in seinem Urteil vom 20.4.2009 diesen flexiblen Ansatz anwendete. Dennoch ist er nicht von den Feststellungen des OLG und des OGH überzeugt, wonach sich der Antragsteller als Leiter der Treasury-Abteilung nur in einer untergeordneten Managementposition befunden hätte. Es ist klar, dass der Antragsteller Verträge genehmigen konnte, die zu Transaktionen im Wert von vielen Millionen Euro führten. Selbst wenn er nicht Mitglied des Vorstands war, hatte er eine der führenden Managementpositionen in der Bank inne. Da beinahe 50?% der Bank im Eigentum des Landes Kärnten standen, wurde ein großer Teil der Verluste letztendlich vom Steuerzahler getragen. Selbst wenn die FMA nicht für die Ermittlung strafbaren Verhaltens zuständig war, handelte es sich doch um die wichtigste Behörde zur Überwachung des Bankensektors in Österreich. Diese Behörde sah ausreichende Gründe für die Erstattung einer Strafanzeige. Die Öffentlichkeit hatte daher ein Recht, über die Verluste und die verantwortlichen Personen informiert zu werden. Selbst wenn die ordentlichen Gerichte formal noch keine Vorerhebungen eingeleitet hatten, liefen bereits strafrechtliche Ermittlungen. Der GH ist daher der Ansicht, dass der fragliche Artikel zu einer Debatte von allgemeinem Interesse beitrug, wobei die Frage, in welchem Stadium sich das Strafverfahren befand, zwar ein Beurteilungskriterium ist, aber nicht das einzige. Da die umstrittene Veröffentlichung somit zu einer Debatte von allgemeinem Interesse beitrug, besteht nach Art. 10 Abs. 2 EMRK wenig Raum für Einschränkungen.

(44) Wie der GH bemerkt, sind sich die Parteien darin einig, dass der Antragsteller weder eine Person des öffentlichen Lebens war noch jemand, der zuvor im Licht der Öffentlichkeit stand. Allerdings ist die Frage, ob eine Person, deren Interessen durch eine mediale Berichterstattung verletzt wurden, eine Person des öffentlichen Lebens ist, nur eines von mehreren zu berücksichtigenden Elementen.

(45) Zum Inhalt des Artikels stellt der GH fest, dass die Wahrheit der darin enthaltenen Informationen nicht in Frage gestellt wurde. Auch die Methoden zur Erlangung der Information waren zwischen den Parteien nicht umstritten. [...] Die Identität des Antragstellers in den innerstaatlichen Verfahren war zur Zeit der Veröffentlichung des umstrittenen Artikels bereits durch andere Veröffentlichungen enthüllt gewesen.

(46) Was die Form des fraglichen Artikels betrifft, stellt der GH fest, dass die verwendete Sprache weder beleidigend noch herausfordernd war. Der Autor verurteilte das Verhalten des Antragstellers nicht. Vielmehr wurden die Äußerungen in dem Bericht eindeutig als jene von Herrn Kulterer und anderen dargestellt. Zudem lag der Fokus des Artikels nicht auf dem Antragsteller, sondern auf dem Vorstand und insbesondere dem Vorstandsvorsitzenden. Der GH kann daher nicht feststellen, dass die Enthüllung der Identität des Antragstellers einer medialen Vorverurteilung gleichgekommen wäre, die die ergriffene Maßnahme gerechtfertigt hätte.

(47) Im gegenständlichen Verfahren brachte der Antragsteller vor, der umstrittene Artikel hätte schwerwiegende Konsequenzen für sein Privat- und Berufsleben gehabt, da er als jemand dargestellt wurde, der bei der Durchführung hochriskanter, spekulativer Transaktionen für die Bank alleine gehandelt hätte. [...] Der GH nimmt an, dass der Artikel irgendeine merkliche Wirkung auf das Leben des Antragstellers und auf sein berufliches Ansehen gehabt haben muss.

(48) Zur Schwere der verhängten Sanktion bemerkt der GH, dass die bf. Gesellschaft in einem Strafverfahren zur Zahlung einer Entschädigung in der Höhe von € 3.000,– und zur Erstattung der Verfahrenskosten verurteilt wurde. Der sich daraus ergebende Betrag ist weder symbolisch noch vernachlässigbar.

(49) Insgesamt stellt der GH fest, dass die von den innerstaatlichen Gerichten angeführten Gründe »relevant« waren, aber nicht »ausreichend«. Nach Ansicht des GH haben die innerstaatlichen Gerichte daher den ihnen [...] zukommenden engen Ermessensspielraum überschritten. Somit war der Eingriff in das Recht der bf. Gesellschaft auf freie Meinungsäußerung nicht »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig«.

(50) Folglich hat eine Verletzung von Art. 10 EMRK stattgefunden (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 7.873,22 für materiellen Schaden; € 2.750,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

»Wirtschafts Trend« Zeitschriften-Verlagsgesellschaft mbH/A (Nr. 2) v. 14.11.2002 (ZE) = NL 2002, 247 = ÖJZ 2003, 155

Standard Verlags GmbH/A (Nr. 3) v. 10.1.2012 = NLMR 2012, 3 = ÖJZ 2012, 426

Axel Springer AG/D v. 7.2.2012 (GK) = NLMR 2012, 42 = EuGRZ 2012, 294

Couderc und Hachette Filipacchi Associés/F v. 10.11.2015 (GK) = NLMR 2015, 537

Bédat/CH v. 29.3.2016 (GK) = NLMR 2016, 152

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 25.10.2016, Bsw. 60818/10, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2016, 449) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/16_5/Verlagsgruppe News GmbH.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte