EGMR Bsw77/07

EGMRBsw77/077.1.2014

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache Cusan und Fazzo gg. Italien, Urteil vom 7.1.2014, Bsw. 77/07.

 

Spruch:

Art. 8, 14, 46 EMRK - »Patriarchalisches« Namensrecht konventionswidrig.

Zulässigkeit der Beschwerde (mehrheitlich).

Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 8 EMRK (6:1 Stimmen).

Keine Notwendigkeit, die Beschwerde unter Art. 8 EMRK und die Beschwerde unter Art. 5 7. Prot. EMRK alleine oder iVm. Art. 14 EMRK gesondert zu untersuchen (einstimmig).

Text

Begründung

Sachverhalt:

Die beiden Bf. – Alessandra Cusan und Luigi Fazzo – sind miteinander verheiratet. Ende April 1999 kam ihr erstes Kind, ein Mädchen, zur Welt. Der Bf. stellte bei der zuständigen Personenstandsbehörde den Antrag, seine Tochter auf den Geburtsnamen seiner Gattin (Cusan) einzutragen, was jedoch abgelehnt wurde.

Die Bf. riefen hierauf das Zivilgericht Mailand an, welches ihrem Rechtsmittel mit Urteil vom 6.6.2001 keine Folge gab: Zwar sei dem italienischen Recht keine Verpflichtung zu entnehmen, Kinder eines verheirateten Paares nach der Geburt unter dem Nachnamen des Vaters einzutragen, jedoch entspreche diese Praxis einem Prinzip, das im sozialen Bewusstsein und in der Geschichte Italiens fest verwurzelt sei. Gemäß Art. 144 Zivilgesetz aF würden verheiratete Frauen den Namen ihres Ehemannes annehmen, sodass auch die Kinder auf den gemeinsamen Nachnamen (der Eltern) einzutragen wären.

Das Gericht zweiter Instanz bestätigte diese Entscheidung. Es hielt fest, dass der Verfassungsgerichtshof wiederholt bekräftigt habe, dass die fehlende Möglichkeit von Müttern, ihren Geburtsnamen auf ihre ehelichen Kinder zu übertragen, weder Art. 29 (Gleichstellung der Ehegatten) noch Art. 3 (Gleichheit vor dem Gesetz) der Verfassung verletze. Es sei Sache des Gesetzgebers, über die Einführung eines anderen Familiennamenmodells zu entscheiden. Die – ungeschriebene – Regel der Übernahme des väterlichen Nachnamens sei daher nach wie vor gültig. Würde man diese nicht anwenden, hätte dies zur Folge, dass bei Kindern, welche den Geburtsnamen ihrer Mutter tragen würden, vermutet werden könnte, dass sie unehelicher Abstammung wären.

Die Bf. wandten sich sodann an den Kassationshof, der ihre Bedenken hinsichtlich der gegenständlichen Regelung teilte. Er setzte daher das Verfahren aus und verwies die Sache an den Verfassungsgerichtshof zwecks Einholung von dessen Meinung zu dieser speziellen Frage.

Mit Urteil vom 16.2.2006 befand dieser die ihm vorgelegte Frage einer allfälligen Verfassungswidrigkeit der geltenden Namensregelung für unzulässig. Zwar gehe das derzeitige System von einem im Römischen Recht wurzelnden patriarchalischen Verständnis betreffend die Familie und die Befugnisse des Ehemannes aus, welches mit der verfassungsgesetzlich festgelegten Gleichstellung von Mann und Frau nicht mehr vereinbar sei. Ungeachtet des »UN-Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau« und einschlägiger Empfehlungen des Europarats bzw. Urteile des EGMR erachte er sich jedoch für die vom Kassationshof aufgeworfene Frage nicht für zuständig, da deren Lösung allein dem Parlament vorbehalten sei.

Mit Urteil vom 29.5.2006 wies der Kassationshof die Beschwerde der Bf. mit dem Hinweis auf die Rechtsansicht des Verfassungsgerichtshofes ab.

Am 31.3.2011 stellten die Bf. einen Antrag an den Innenminister, ihnen zu gestatten, dem Familiennamen ihrer jetzigen und zukünftigen Kinder den Nachnamen der Mutter beizufügen. Mit Dekret vom 14.12.2012 genehmigte der Mailänder Präfekt die Änderung von deren Nachnamen auf »Fazzo Cusan«.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupten eine Verletzung von Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) und von Art. 5 7. Prot. EMRK (Gleichberechtigung der Ehegatten) jeweils alleine und in Verbindung mit Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 EMRK alleine und iVm. Art. 8 EMRK

Die Bf. beklagen sich über die Weigerung der Behörden, ihrem Antrag auf Verleihung des Geburtsnamens der Mutter an die Tochter Folge zu leisten, und über die Tatsache, dass eheliche Kinder nach italienischem Recht automatisch und ausnahmslos den Nachnamen des Vaters erhalten würden. Sie vertreten die Ansicht, dass das Gesetz es Eltern freistellen sollte, welchen Familiennamen sie für ihre Kinder auswählen wollen.

Zur Zulässigkeit

Die Regierung bringt Einreden zur Opfereigenschaft und zum Vorliegen eines »erheblichen Nachteils« vor.

Laut der Regierung fehle den Bf. die Opfereigenschaft, da der Präfekt von Mailand es ihnen gestattet hätte, dass alle ihre minderjährigen Kinder den Geburtsnamen der Mutter hintangestellt führen dürften. Im vorliegenden Fall beanstanden die Bf. aber, dass sie ihrer Tochter nach deren Geburt nicht den Geburtsnamen der Mutter geben konnten. Die italienischen Behörden haben sich geweigert, diesem Wunsch nachzukommen und 13 Jahre später – auf der Basis des erst nach der Geburt der Tochter in Kraft tretenden Präsidentialdekrets Nr. 396/2000(Anm: Art. 84 des Dekrets zufolge müssen Personen, die ihren Familiennamen wechseln oder ihm einen anderen Familiennamen hinzufügen wollen, dies beim Innenminister beantragen und die Gründe dafür ausreichend darlegen.) – lediglich eine Änderung des Namens in »Fazzo Cusan« gestattet. Letztere bestand jedoch nicht in der Zuweisung ausschließlich des Familiennamens der Mutter, wie von den Bf. gewünscht, sondern in der simplen Hinzufügung des Geburtsnamens der Mutter zu jenem des Vaters. Unter diesen Umständen ist der Einwand der Regierung zurückzuweisen. Die Regierung legt zudem dar, die Bf. hätten keinen erheblichen Nachteil iSv. Art. 35 Abs. 3 lit. b EMRK erlitten. Der Begriff »erheblicher Nachteil« spiegelt die Idee wider, dass die Verletzung eines Rechts einen Mindestgrad an Schwere aufweisen muss, um eine Prüfung durch einen internationalen Gerichtshof rechtfertigen zu können. Die Beurteilung dieses Mindestgrads ist von Natur aus relativ und hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Die subjektive Einschätzung des Bf. ist ebenso von Bedeutung wie das, was für ihn in der Angelegenheit auf dem Spiel steht. Auch die finanziellen Auswirkungen der Streitsachen können ein Kriterium sein.

Der gegenständliche Fall scheint keine finanziellen Fragen zu betreffen. Jedenfalls scheint aber gesichert, dass die Bf. ein subjektives Interesse an einer Entscheidung über ihre Angelegenheit haben, haben sie doch gegen die Entscheidung, ihrer Tochter den Geburtsnamen der Mutter zu geben, Einspruch bis zur letzten In­stanz erhoben. Der GH kommt daher zu dem Schluss, dass die erste Voraussetzung der Anwendung von Art. 35 Abs. 3 lit. b EMRK, nämlich das Nichtvorliegen eines erheblichen Nachteils, nicht erfüllt ist. Der diesbezügliche Einwand der Regierung ist daher zurückzuweisen.

Der GH legt zudem Wert auf die Feststellung, dass auch »die Achtung der Menschenrechte« es erfordert, die vorliegende Beschwerde weiter zu prüfen. Letztere wirft die bis dato in Bezug auf Italien von ihm noch nicht entschiedene Frage der Unmöglichkeit für ein verheiratetes Paar auf, ihren Kindern nach der Geburt den Geburtsnamen der Mutter zu übertragen. Eine Entscheidung des GH über diese Grundsatzfrage würde letztlich auch die nationalen Gerichte leiten. Diese Frage wurde bereits im Parlament – bis dato ohne Ergebnis – behandelt, auch der Verfassungsgerichtshof befand eine Intervention des Gesetzgebers als dringend notwendig.

Die vorliegende Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig und folglich für zulässig zu erklären (mehrstimmig).

In der Sache

Zur Frage, ob Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK anwendbar ist, hält der GH fest, dass die Bf. im vorliegenden Fall in ihrer Eigenschaft als Eltern einer Tochter ein offenkundiges Interesse an der Angelegenheit besaßen und sich auf ein ausschließlich persönliches Recht stützten, aufgrund dessen sie hinsichtlich des Familiennamens ihres Neugeborenen intervenierten. Von den nationalen In­stanzen wurde ihnen im Zuge der Anfechtung der Weigerung, ihrer Tochter den Geburtsnamen der Mutter zu geben, locus standi eingeräumt. Der GH hat bereits festgehalten, dass die Wahl des Vornamens eines Kindes durch die Eltern deren Privatsphäre betrifft. Dies gilt auch für den Familiennamen. Da der Gegenstand der Beschwerde in den Anwendungsbereich von Art. 8 EMRK fällt, ist folglich auch Art. 14 EMRK anwendbar.

Es stellt sich letztlich die Frage, ob eine Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK vorliegt. In seinem Beschluss vom 26.2.2004 auf Aussetzung der Angelegenheit und Verweisung des Akts an den Verfassungsgerichtshof begründete der Kassationshof sein Vorgehen damit, dass die Regel, wonach eheliche Kinder nach der Geburt den Familiennamen des Vaters zu tragen hätten, nicht gewohnheitsrechtlicher Natur sei, sondern sich aus verschiedenen Artikeln des Zivilgesetzes ableiten lasse. Der GH stellt fest, dass die italienischen Gesetze eine Ausnahme zu dieser Regel nicht vorsehen.

Zwar ist der Regierung darin beizupflichten, dass Art. 84 des Präsidentialdekrets Nr. 396/2000 die Möglichkeit eines Namenswechsels vorsieht und dass der Mailänder Präfekt es den Bf. im gegenständlichen Fall gestattete, dem Familiennamen ihrer Tochter den Geburtsnamen der Mutter hinzuzufügen. Dennoch liegt ein Unterschied zwischen der Wahl des Familiennamens anlässlich der Geburt und der Möglichkeit eines Namenswechsels im Verlauf des Lebens vor. Der GH erinnert in diesem Zusammenhang an seine Schlussfolgerungen betreffend die Opfereigenschaft der Bf.

Er ist daher der Ansicht, dass sich beide Bf., was die Festlegung des Familiennamens ihres ehelichen Kindes betraf, in einer gleichartigen Situation als Vater und Mutter befanden und sie unterschiedlich behandelt wurden. Im Unterschied zum Vater vermochte nämlich die Mutter ihrem Neugeborenen nicht ihren Geburtsnamen zu geben – trotz Einverständnisses ihres Gatten. Zu prüfen ist, ob für diese unterschiedliche Behandlung eine objektive und angemessene Rechtfertigung bestand.

Der GH hatte bereits Gelegenheit, sich mit ähnlichen Fragen in den Fällen Burghartz/CH, Ünal Tekeli/TR und Losonci Rose und Rose/CH zu befassen. In all diesen Fällen hat er eine Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK festgestellt. Er hob dabei die Bedeutung von Fortschritten bei der Gleichstellung der Geschlechter und der Beseitigung jeglicher Diskriminierung fußend auf dem Geschlecht, was die Wahl des Familiennamens angehe, hervor. Die traditionelle Gepflogenheit, der Einheit der Familie durch Übertragung des Nachnamens des Gatten an alle Mitglieder Ausdruck zu verleihen, könne die Diskriminierung von Frauen in keiner Weise rechtfertigen.

Der GH vermag im gegenständlichen Fall, der ausschließlich auf einer auf dem Geschlecht der Eltern beruhenden Diskriminierung, was die Bestimmung des Familiennamens von ehelichen Kindern betrifft, beruht, zu keiner anderen Schlussfolgerung zu gelangen. Die strittige Regelung sieht in der Tat vor, dass ausnahmslos der Nachname des Vaters zum Familiennamen erkoren wird, auch wenn die Gatten etwas anderes wünschen. Der italienische Verfassungsgerichtshof selbst hat hervorgehoben, dass das geltende System von einem patriarchalischen Familienverständnis ausgehe, welches mit dem Verfassungsprinzip der Gleichstellung von Mann und Frau nicht mehr vereinbar sei. Der Kassationshof hat sich dieser Meinung angeschlossen. Wenn die gegenständliche Regelung sich auch in der Praxis als notwendig erweisen kann und nicht zwangsläufig im Widerspruch zur Konvention steht, so ist die Unmöglichkeit, von dieser im Zuge der Eintragung des Neugeborenen in das Geburtsregister abgehen zu können, extrem rigide und überdies diskrimierend gegenüber Frauen. Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 8 EMRK (6:1 Stimmen; Sondervotum von Richter Popovic).

Angesichts dieses Ergebnisses ist die Prüfung einer Verletzung von Art. 8 EMRK alleine entbehrlich (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 7. Prot. EMRK alleine oder iVm. Art. 14 EMRK

Die Bf. bringen vor, die geltenden namensrechtlichen Bestimmungen für eheliche Kinder würden die Gleichstellung unter Ehegatten nicht sicherstellen.

Dieser Beschwerdepunkt ist zwar für zulässig zu erklären, jedoch hält der GH angesichts seiner Schlussfolgerungen zu Art. 14 EMRK iVm. Art. 8 EMRK eine gesonderte Prüfung nicht für notwendig (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

Die Bf. verlangen weder eine Entschädigung noch einen Ersatz der Kosten und Auslagen, da die Feststellung einer Konventionsverletzung für sie bereits eine ausreichende Genugtuung darstelle. Der GH sieht daher von einer Anwendung des Art. 41 EMRK ab (einstimmig).

Zur Anwendung von Art. 46 EMRK

Laut den Bf. würden die von ihnen angeprangerten Konventionsverletzungen eine Lücke im innerstaatlichen Recht offenbaren. Der GH möge die Regierung auffordern, die für die Gleichstellung unter den Geschlechtern bzw. Ehegatten notwendigen Reformen durchzuführen.

Der GH befindet, dass eine Reform der Gesetze und/oder der Praxis in Italien, was die namensrechtlichen Bestimmungen für eheliche Kinder angeht, in Angriff genommen werden sollte, um den Anforderungen von Art. 8 und Art. 14 EMRK gerecht werden zu können.

Vom GH zitierte Judikatur:

Burghartz/CH v. 22.2.1994 = NL 1994, 76 = ÖJZ 1994, 559

Ünal Tekeli/TR v. 16.11.2004 = NL 2004, 294

Adrian Mihai Ionescu/RO v. 1.6.2010 (ZE) = NL 2010, 145 = EuGRZ 2010, 281

Losonci Rose und Rose/CH v. 9.11.2010 = NL 2010, 348

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 7.1.2014, Bsw. 77/07 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2014, 54) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/14_1/Cusan.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

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