EGMR Bsw33497/07

EGMRBsw33497/0717.1.2012

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesachen Krone Verlag GmbH & Co KG und Krone Multimedia GmbH & Co KG gg. Österreich und Kurier Zeitungsverlag und Druckerei GmbH gg. Österreich, Urteile vom 17.1.2012, Bsw. 33497/07 und Bsw. 3401/07.

 

Spruch:

Art. 10 EMRK, §§ 7, 7a MedienG - Enthüllung der Identität des Opfers von Misshandlungen und sexuellem Missbrauch durch die Eltern.

Zulässigkeit der Beschwerden (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).

Text

Begründung

Sachverhalt:

Im November 2003 wurden wegen des Verdachts der wiederholten und schweren Misshandlung sowie des sexuellen Missbrauchs der zehnjährigen C., der Tochter von A. und Stieftochter von B., strafrechtliche Untersuchungen gegen A. und B. eingeleitet.

Der Prozess gegen A. und B. fand im Februar 2005 statt, womit auch das mediale Interesse an dem Fall wieder geweckt wurde. C. erlitt daraufhin einen Rückfall und bekam erneut psychische Probleme.

Am 21.2.2005 wurden A. und B. wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen, absichtlicher schwerer Körperverletzung und Quälens von Unmündigen verurteilt.

Die Veröffentlichungen in der Krone (erster Fall)

Die ErstBf. des ersten Falls ist Medieninhaberin und Herausgeberin der Tageszeitung Kronen Zeitung, die ZweitBf. Eigentümerin der Online-Zeitung www.krone.at .

Da D., der leiblichen Mutter von C., nicht gestattet wurde, C. zu sehen, nachdem die geschilderten Vorfälle ans Licht gekommen waren, trat sie - in der Hoffnung, dadurch in Kontakt zu ihrer Tochter zu kommen - an die ErstBf. heran. Ein Journalist derselben fotografierte sie daraufhin und fuhr auch mit ihr zu dem Krankenhaus, in dem sich C. befand. Aufgrund dessen wurden in der Kronen Zeitung Ende 2003 mehrere Artikel veröffentlicht.

In der Kronen Zeitung wurden sodann am 16.2. bzw. am 22.2.2005 zwei Artikel veröffentlicht, die den Vornamen von C., die vollen Namen von A. und B. sowie Fotos von A. und B. enthielten. Die ZweitBf. veröffentlichte darüber hinaus auf ihrer Website auch Fotos von C., darunter auch eine Nahaufnahme ihres Gesichts.

Am 9.8.2005 brachte C., vertreten durch den Jugendwohlfahrtsträger des Landes, einen Entschädigungsantrag gegen die ErstBf. nach § 7a MedienG ein, da diese durch die Enthüllung ihrer Identität als Opfer einer strafbaren Handlung ihr gegenüber eine Kränkung verursacht hätte. C. brachte daneben unter den §§ 7 und 7a MedienG auch Anträge gegen die ZweitBf. wegen der Enthüllung ihrer Identität sowie Verletzung ihres Rechts auf Schutz des höchstpersönlichen Lebensbereichs ein.

Am 27.6.2006 gab das LG für Strafsachen beiden Anträgen auf Entschädigung statt und verurteilte die ErstBf. zur Zahlung von insgesamt € 8.000,- sowie die ZweitBf. zur Zahlung von insgesamt € 12.000,-. Bei der Abwägung der Interessen der Bf. gegen jene von C. befand das Gericht, dass die pikanten Details nicht notwendig gewesen wären, selbst um die Leser in allen Einzelheiten über den Fall C. zu unterrichten. Daneben hätte ein minderjähriges Opfer von Verbrechen wie den vorstehenden ein Recht auf einen besonders starken Schutz. Insgesamt sei deshalb eine Missachtung der Interessen von C. nach § 7 MedienG gegeben. Nach Ansicht des Gerichts lag zudem kein überwiegendes öffentliches Interesse nach § 7a MedienG vor, das die Enthüllung der Identität des Opfers gestattet hätte.

Am 11.10.2006 beriefen die Bf. gegen das Urteil. Am 19.2.2007 wies das OLG die Berufung zurück.

Die Veröffentlichungen im Kurier (zweiter Fall)

Die Bf. des zweiten Falls ist Medieninhaberin und Herausgeberin der Tageszeitung Kurier. Sie veröffentlichte im Kurier am 16.2. bzw. 22.2.2005 zwei Artikel, die den Vornamen von C., die vollen Namen von A. und B. sowie Fotos von A. und B. enthielten.

In den folgenden Verfahren nach § 7a MedienG versuchte C., vertreten durch den Jugendwohlfahrtsträger des Landes, von der Bf. Entschädigung für den Schaden zu erlangen, der ihr durch die Veröffentlichung ihres Namens, der Namen und Bilder ihrer Eltern und weiterer Details, in den Artikeln vom 16.2. und 22.2.2005, die sie alle zusammen für die breitere Öffentlichkeit identifizierbar machte, erwachsen war.

Am 24.11.2005 wies das LG für Strafsachen den Antrag von C. auf Entschädigung ab, da der Fall bereits in einem frühen Verfahrensstadium beachtliche Medienaufmerksamkeit auf sich gelenkt hätte und der Fall sowie die Identität der Täter der Öffentlichkeit somit bekannt wären. Es wäre ein öffentliches Interesse gegeben, über die Identität von Personen informiert zu werden, die eine Straftat gegen ein Kind begangen hätten, da eine solche Information dazu dienen könnte, ähnliche Vorfälle in der Zukunft zu verhindern.

Das OLG hob das Urteil des LG für Strafsachen am 28.6.2006 auf und gewährte C. eine Entschädigung in der Höhe von € 5.000,- für jeden der beiden publizierten Artikel. Es führte aus, dass die Identität der Täter A. und B. zwar nicht vom Schutz nach dem MedienG erfasst wäre, die Offenlegung der Identität des Opfers aber davon getrennt und mit der gebotenen Sorgfalt untersucht werden müsste. Im vorliegenden Fall sei kein überwiegendes öffentliches Interesse daran gegeben gewesen, die Identität der Täter offenzulegen, da die Öffentlichkeit über die Verbrechen auch ohne Offenlegung der Identität des Opfers informiert werden hätte können. Es läge somit eine Verletzung von § 7a MedienG vor.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. beider Fälle rügen eine Verletzung von Art. 10 EMRK (Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit) durch die Urteile der österreichischen Gerichte.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK

Zulässigkeit

Da die Beschwerden in beiden Fällen nicht offensichtlich unbegründet und auch aus keinem anderen Grund unzulässig sind, müssen sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).

In der Sache

Die Argumentation der Parteien konzentrierte sich auf die Frage, ob der Eingriff iSd. Art. 10 Abs. 2 EMRK »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig« war.

Dafür ist es erforderlich festzustellen, ob der Eingriff einem »dringenden sozialen Bedürfnis« entsprang, ob er verhältnismäßig zu dem verfolgten legitimen Ziel war und ob die von den nationalen Behörden zur Rechtfertigung angeführten Gründe sachlich und hinreichend waren.

Die gegenständlichen Fälle, in denen es um die Enthüllung der Identität eines Opfers einer strafbaren Handlung in der Presse geht, betreffen zum einen das Recht der Presse nach Art. 10 EMRK, die Öffentlichkeit über Angelegenheiten von öffentlichem Interesse hinsichtlich laufender Strafverfahren zu informieren, zum anderen die positiven Verpflichtungen des Staates nach Art. 8 EMRK zum Schutz der Privatsphäre des Opfers. In solchen Fällen hat der GH stets besonderes Gewicht auf den Beitrag gelegt, den Fotos oder Artikel in der Presse zu einer Debatte von allgemeinem Interesse leisten.

Die vom OLG angeführten Gründe waren ganz unzweifelhaft »sachlich« für die Zwecke der Durchführung der Prüfung der Notwendigkeit gemäß Art. 10 Abs. 2 EMRK. Der GH untersucht nun, ob sie auch »hinreichend« waren.

Der GH stimmt mit den nationalen Gerichten überein, dass es in den Fällen darum geht, das Recht der Bf. auf Meinungsäußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK gegen das Recht von C. auf den Schutz ihrer Identität abzuwägen.

In solchen Fällen war ein Faktor, den der GH in Betracht gezogen hat, die Stellung der von der Veröffentlichung betroffenen Person: nämlich ob sie eine Figur des öffentlichen Lebens war oder auf andere Weise die öffentliche Bühne betreten hatte.

Im vorliegenden Fall handelte es sich bei C. um keine Figur des öffentlichen Lebens. Auch hat sie, indem sie Opfer einer strafbaren Handlung wurde, die beachtliche öffentliche Aufmerksamkeit auf sich lenkte, nicht die öffentliche Bühne betreten.

Die gegenständlichen Artikel behandelten eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse, nämlich ein Verbrechen, das Gewalt gegen ein Kind sowie sexuellen Missbrauch innerhalb der Familie umfasste. Dies war durchaus geeignet, eine öffentliche Debatte auszulösen, wie die Begehung ähnlicher Verbrechen verhindert werden kann.

Allerdings kann angesichts der Tatsache, dass weder die Täter noch das Opfer Figuren des öffentlichen Lebens waren oder zuvor die öffentliche Bühne betreten hatten, nicht behauptet werden, dass die Kenntnis der Identität dieser Personen wesentlich für das Verständnis der Einzelheiten des Falls war. In diesem Zusammenhang bemerkt der GH, dass die Bf. nicht daran gehindert waren, über alle Details des Falls C. zu berichten, sondern lediglich daran, die Identität von C. offenzulegen bzw. - im ersten Fall - ein Foto von ihr zu veröffentlichen, auf dem sie erkannt werden konnte.

Auf der anderen Seite besteht kein Zweifel daran, dass die Identität des Opfers eines Verbrechens angesichts seiner verwundbaren Position besonderen Schutz verdient. Dies gilt umso mehr im gegenständlichen Fall, da C. zum Zeitpunkt der Vorfälle noch ein Kind war und Opfer von Gewalt und sexuellem Missbrauch wurde. In diesem Zusammenhang nimmt der GH insbesondere auf Art. 31 des Übereinkommens des Europarats zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch Bezug, der die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet »die notwendigen gesetzgeberischen oder sonstigen Maßnahmen zu ergreifen, um die Rechte und Interessen von Opfern zu wahren, indem sie ihre ... Identität schützen und ... indem sie Maßnahmen in Übereinklang mit dem Völkerrecht setzen, um die öffentliche Verbreitung von Informationen zu verhindern, die zu ihrer Identifikation führen können«.

Die Bf. des ersten Falls brachten vor, dass sie im Jahr 2003 von D. dazu autorisiert worden waren, über den Fall auf die Art und Weise zu berichten wie sie es taten. Die österreichischen Gerichte haben diese Frage allerdings sorgfältig untersucht und sind nach Anhörung verschiedener Zeugen zu der Schlussfolgerung gelangt, dass zur Zeit der gegenständlichen Veröffentlichung keine gültige Zustimmung dazu vorgelegen hatte, da D. ihre 2003 erteilte Zustimmung 2005 explizit widerrufen hatte. Diese Feststellungen erscheinen nicht abwegig. Die Tatsache, dass eine Person bei einer früheren Gelegenheit mit der Presse zusammengearbeitet hat, kann nicht als Argument dafür verwendet werden, dieser Person den Schutz gegen die Veröffentlichung von Fotos durch die Presse, die ihre Identität offenlegen, zu entziehen.

Letztlich war der Eingriff in das Recht der Bf. auf die Weitergabe von Informationen verhältnismäßig. Den Bf. wurden keine Geldstrafen auferlegt, sie wurden nur dazu verpflichtet, Entschädigungen für das Unrecht gegenüber den Personen zu zahlen, deren Identität durch sie gegenüber der Öffentlichkeit enthüllt wurde. Wenn die Höhe der Entschädigungen auch beträchtlich war, so erscheint sie nicht abwegig, wenn man die Länge der Artikel, ihren Inhalt - der aufgrund der gelieferten Details einen besonders schweren Eingriff begründete -, den besonderen Einfluss auf C., die nach dem detaillierten Bericht über das Verfahren gegen A. und B. einen Rückfall erlitt und wegen ihrer ernsten psychischen Probleme wieder ins Krankenhaus musste, und - im ersten Fall - die besonders große Reichweite der Medien der Bf. berücksichtigt.

Insgesamt stellt der GH fest, dass der belangte Staat durch die Zuerkennung einer Entschädigung an C. für die Enthüllung ihrer Identität als Opfer eines Verbrechens bei der Beurteilung des Bedarfs des Schutzes ihrer Privatsphäre innerhalb seines Beurteilungsspielraumes gehandelt hat. Die Einschränkungen hinsichtlich des Rechts der Bf. auf freie Meinungsäußerung durch das Urteil des OLG wurden von Gründen getragen, die sachlich und hinreichend und verhältnismäßig zum verfolgten legitimen Ziel waren. Keine Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Wirtschafts-Trend Zeitschriften-Verlagsgesellschaft mbH/A (Nr. 2) v. 14.11.2002 (ZE) = NL 2002, 247 = ÖJZ 2003, 155

Eerikäinen u.a./FIN v. 10.2.2009

Egeland und Hanseid/N v. 16.4.2009 = NL 2009, 104

Standard Verlags GmbH/A (Nr. 2) v. 4.6.2009 = NL 2009, 151 = ÖJZ 2009, 926

Flinkkilä u.a./FIN v. 6.4.2010

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über die Urteile des EGMR vom 17.1.2012, Bsw. 33497/07 und Bsw. 3401/07 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2012, 28) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Die Urteile im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/12_1/Krone.pdf

www.menschenrechte.ac.at/orig/12_1/Kurier.pdf

Die Originale der Urteile sind auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

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