EGMR Bsw36109/03

EGMRBsw36109/032.10.2008

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Leroy gegen Frankreich, Urteil vom 2.10.2008, Bsw. 36109/03.

 

Spruch:

Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 10 EMRK - Partei nehmende Karikatur über Ereignisse des 11.9.2001.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK und von Art. 6 Abs. 1 EMRK hinsichtlich der fehlenden Übermittlung des Berichts des berichterstattenden Richters (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK durch die unterlassene Übermittlung der Stellungnahme des Generalanwalts und hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 10 EMRK (einstimmig). Keine Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK hinsichtlich der fehlenden Übermittlung des Berichts des berichterstattenden Richters (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Die Feststellung einer Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK stellt für sich eine ausreichende gerechte Entschädigung für immateriellen Schaden dar. € 1.000,- für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung

Sachverhalt:

Der Bf. ist baskischer Abstammung und von Beruf Karikaturist. Er ist unter anderem für das baskische Wochenmagazin Ekaitza tätig. Am 11.9.2001 fanden in den USA die Anschläge auf das World Trade Center statt. Zwei Tage später erschien in Ekaitza eine vom Bf. gezeichnete Karikatur, welche vier Wolkenkratzer von einer dichten Rauchwolke umhüllt zeigte. Begleitet war sie von einem - der Werbung einer bekannten Elektronikmarke nachgestellten - Text „Wir haben alle davon geträumt ... Hamas tat es!".

Die Staatsanwaltschaft leitete daraufhin gemäß Art. 24 Abs. 6 Pressegesetz 1881 ein Strafverfahren gegen den Redaktionsleiter von Ekaitza und den Bf. wegen Verherrlichung des Terrorismus bzw. Mittäterschaft ein.

In seiner nächsten Ausgabe brachte besagte Wochenzeitung eine Stellungnahme des Bf., wonach er mit der Karikatur lediglich bezweckt habe, den Niedergang des amerikanischen Imperialismus symbolhaft zu skizzieren, ohne dabei jedoch das den Opfern und ihren Familien zugefügte Leid zu vergessen.

Mit Urteil vom 8.1.2002 sprach das Strafgericht Bayonne den Bf. und den Redaktionsleiter von Ekaitza im Sinne der Anklage schuldig und verhängte eine Geldstrafe in Höhe von jeweils € 1.500,- über sie. Die Genannten wurden ferner zur Veröffentlichung des Urteils sowie zum Ersatz der Kosten verpflichtet. Begründend führte das Gericht aus, die Angeklagten hätten, indem sie die gewaltsame Zerstörung der Zwillingstürme gezeigt und sie explizit als Verwirklichung eines gemeinsamen Traumes angepriesen hätten, eine Tötungshandlung verherrlicht. Außerdem habe die geahndete Handlung die öffentliche Ordnung gerade in einer Region gefährdet, die besonders sensibel auf Terrorismus reagiere.

Der Bf. erhob dagegen ein Rechtsmittel an das Gericht zweiter Instanz, das dieses am 24.9.2002 mit der Begründung abwies, er habe sich dadurch, dass er die tödlichen Anschläge auf das World Trade Center einer bekannten Terrororganisation zugeschrieben und die Verwendung der Pluralform erster Person „Wir" gebraucht hätte, mit der Erfüllung eines gemeinschaftlichen Traums gleichsam identifiziert und somit die Begehung terroristischer Akte gerechtfertigt, was Leser indirekt zur positiven Bewertung einer terroristischen Handlung veranlassen könnte.

Der Bf. wandte sich daraufhin mit einer Nichtigkeitsbeschwerde an den Cour de cassation. Mit Schreiben vom 21.2.2003 teilte ihm der Generalanwalt mit, dass er dem Cour de cassation die Abweisung der Beschwerde empfehlen werde. Der Bf. ersuchte den Generalanwalt daraufhin erfolglos um Bekanntgabe seiner Gründe hierfür. Mit Urteil vom 25.3.2003 verwarf der Cour de cassation die Nichtigkeitsbeschwerde, ohne den Bf. über die mittlerweile ergangene mündliche Verhandlung zu verständigen bzw. ihm Gelegenheit zur Stellungnahme einzuräumen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. rügt Verletzungen von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) und von Art. 10 EMRK (Recht auf freie Meinungsäußerung) alleine und in Verbindung mit Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK:

Der Bf. behauptet, seine Verurteilung wegen Verherrlichung des Terrorismus habe ihn in seiner Meinungsäußerungsfreiheit verletzt.

1. Zur Zulässigkeit der Beschwerde:

Die Regierung bringt vor, die Beschwerde stelle einen Missbrauch des Beschwerderechts gemäß Art. 17 EMRK dar, weil das Wochenmagazin sein Recht auf freie Meinungsäußerung im Wege der Verharmlosung terroristischer Akte missbraucht habe.

Der GH ist der Auffassung, dass die vorliegende Meinungsäußerung dem Anwendungsbereich von Art. 17 EMRK entzogen ist. Die vom Bf. in humoristischer Art und Weise (hier: in Form einer umstrittenen Karikatur) übermittelte Grundbotschaft, nämlich der Niedergang des amerikanischen Imperialismus, war nicht auf die Negierung fundamentaler Rechte gerichtet und ist auch nicht mit Äußerungen gleichzusetzen, die gegen die der Konvention zugrunde liegenden Werte verstoßen - wie etwa der Rassismus, der Antisemitismus und die Islamophobie. Ferner ist der GH - unbeschadet der von den nationalen Gerichten aufrecht erhaltenen Einstufung der gegenständlichen Äußerungen als Verherrlichung des Terrorismus - nicht der Ansicht, dass die Karikatur und der Begleittext dazu eine unmissverständliche Rechtfertigung terroristischer Akte darstellen, wodurch sie der von Art. 10 EMRK geschützten Pressefreiheit nicht mehr unterliegen würden.

Die vom Bf. in Anspruch genommene Meinungsäußerungsfreiheit ist daher von Art. 10 EMRK gedeckt. Dieser Beschwerdepunkt ist daher nicht unvereinbar mit der Konvention ratione materiae iSv. Art. 35 Abs. 3 EMRK und muss - da er ernste Sach- und Rechtsfragen aufwirft, die eine meritorische Erledigung erfordern und auch sonst kein Unzulässigkeitsgrund ersichtlich ist - für zulässig erklärt werden (einstimmig).

2. In der Sache selbst:

Es besteht kein Zweifel, dass die Verurteilung des Bf. einen Eingriff in seine Meinungsäußerungsfreiheit darstellt, der in Art. 24 Pressegesetz 1881 vorgesehen war und legitime Ziele verfolgte, nämlich die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit, die Verteidigung der Ordnung sowie die Verhinderung von strafbaren Handlungen. Zu prüfen bleibt, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war.

Vor den nationalen Gerichten brachte der Bf. vor, sie hätten bei der Beurteilung seines Falles seine wahren Absichten außer Acht gelassen, die darin bestanden hätten, der Öffentlichkeit seine antiamerikanische Einstellung im Rahmen einer satirischen Zeichnung mitzuteilen und damit den Niedergang des amerikanischen Imperialismus zu veranschaulichen.

Der GH vermag die Ansicht des Bf. nicht zu teilen. Zwar ist die Darstellung von vier Wolkenkratzern, die sich in einer dichten Rauchwolke befinden, an und für sich geeignet, die wahren Absichten des Urhebers der Zeichnung zu offenbaren. Zusammen mit dem Begleittext gesehen kritisiert das Werk in Wahrheit jedoch nicht den amerikanischen Imperialismus, sondern befürwortet und preist seine Zerstörung mittels Anwendung von Gewalt. In dieser Hinsicht ist auf den Text, der der Karikatur nachgestellt war, hinzuweisen. Darin kommt klar zum Ausdruck, dass der Bf. den mutmaßlichen Drahtziehern des Anschlags seine moralische Unterstützung bzw. Solidarität zusichern wollte. Auch aus der Wortwahl geht klar hervor, dass der Genannte die Anwendung von Gewalt gegenüber tausenden von Zivilisten guthieß und damit die Würde der Opfer beschnitt.

Der GH teilt insofern die Ansicht des Gerichts zweiter Instanz, wonach die vom Bf. verfolgten Absichten für die Strafverfolgung ohne Belang gewesen wären.

Zwar ist einzuräumen, dass die gegenständliche Provokation im Wege einer Satire erfolgte, die - wie bereits im Fall Vereinigung Bildender Künstler/A hervorgehoben wurde - „eine Form des künstlerischen Ausdrucks und des gesellschaftlichen Kommentars darstellt, die durch die ihr innewohnende Übertreibung und Verzerrung der Realität naturgemäß darauf abzielt, zu provozieren und aufzuregen." Jeder Eingriff in das Recht eines Künstlers, sich einer bestimmten Ausdrucksform zu bedienen, muss daher mit besonderer Sorgfalt geprüft werden. Dennoch ist unbestritten, dass ein Autor, der sich für politische bzw. militante Äußerungen entscheidet, von den Einschränkungen des Art. 10 Abs. 2 EMRK nicht ausgenommen ist. Zwar wurden von den nationalen Gerichten die wahren Absichten des Bf. nicht berücksichtigt, jedoch prüften sie im Gegenzug unter Art. 10 EMRK, ob der Kontext des Falles und das öffentliche Interesse den eventuellen Rückgriff auf einen gewissen Grad an Provokation oder Übertreibung rechtfertigten. Dass der Karikatur unter den gegebenen Umständen besondere Bedeutung zukam, konnte auch dem Bf. nicht verborgen bleiben. Sie erschien zwei Tage nach dem 11.9.2001 zu einem Zeitpunkt, zu dem die ganze Welt noch unter dem Schock der Nachricht von den Anschlägen stand - ohne dass seitens des Bf. Vorsorge hinsichtlich seiner Wortwahl getroffen worden wäre. Dieser zeitliche Faktor musste die Verantwortung des Bf. für seine satirische Würdigung - ja sogar Gutheißung - eines tragischen Ereignisses notwendigerweise erhöhen, egal ob man es von einem künstlerischen oder journalistischen Blickwinkel aus betrachtet.

Darüber hinaus dürfen die Auswirkungen einer derartigen Botschaft in einer politisch sensiblen Region wie dem Baskenland nicht übersehen werden. Ungeachtet der geringen Auflagezahl von Ekaitza zog die Veröffentlichung der Karikatur Reaktionen nach sich, die zur Anwendung von Gewalt aufstacheln und die öffentliche Ordnung in dieser Gegend gefährden konnten.

Der GH kommt daher zu dem Ergebnis, dass die von den Gerichten für die Verurteilung des Bf. gelieferte Begründung zutreffend und ausreichend war. Angesichts des moderaten Charakters der Geldstrafe und den Gegebenheiten, unter denen die umstrittene Zeichnung veröffentlicht wurde, waren die von den Gerichten getroffenen Maßnahmen verhältnismäßig gegenüber dem gesetzlich verfolgten Ziel und somit in einer demokratischen Gesellschaft notwendig. Keine Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK:

Der Bf. rügt, ihm sei weder Einblick in den nicht geheimen Teil des Berichts des berichterstattenden Richters gewährt noch sei ihm die Stellungnahme des Generalanwalts dazu offenbart bzw. übermittelt worden. Letzterer habe ihn auch nicht über das Datum der Verhandlung vor dem Cour de cassation verständigt.

1. Zur fehlenden Übermittlung des Berichts des berichterstattenden Richters und zur unterlassenen Verständigung über die Verhandlung:

Dieser Beschwerdepunkt ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig. Er muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Der GH erinnert an seine ständige Rechtsprechung, wonach die Übermittlung des nicht geheimen Teils der Stellungnahme des berichterstattenden Richters an den Generalanwalt, nicht jedoch an den Bf. oder seinen Anwalt, das Gebot der Waffengleichheit verletzt. Im vorliegenden Fall wurde der Bf. von der Gerichtskanzlei weder über das Datum der Abgabe der Stellungnahme des berichterstattenden Richters noch über die Möglichkeit, darin Einsicht zu nehmen, informiert. Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig). Was die unterlassene Verständigung des Bf. über das Datum der Gerichtsverhandlung anlangt, sieht der GH keinen Anlass zu einer gesonderten Behandlung dieses Beschwerdepunktes.

2. Zur fehlenden Übermittlung der Stellungnahme des Generalanwalts an den Bf.:

Angesichts der Tatsache, dass dem Bf. vor der Verhandlung ein Schreiben des Generalanwalts zuging, in dem dieser seine Schlussfolgerungen präsentierte und der Möglichkeit, darauf schriftlich zu antworten, sieht der GH die Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK als erfüllt an. Der Bf. kam daher in den Genuss einer fairen Behandlung seines Falles durch den Cour de cassation. Dieser Beschwerdepunkt ist daher wegen offensichtlicher Unbegründetheit gemäß Art. 35 Abs. 3 und Abs. 4 EMRK zurückzuweisen (einstimmig). Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 EMRK in Verbindung mit Art. 10

EMRK:

Der Bf. behauptet, er sei wegen seiner Zugehörigkeit zur baskischen Minderheit benachteiligt worden, da zum Zeitpunkt der strittigen Ereignisse eine Informationssendung des französischen Fernsehens das Thema mit annähernd gleichem Inhalt behandelt hätte und die Verantwortlichen im Gegensatz zu ihm strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen worden wären.

Der GH vermag keinen Anschein einer Konventionsverletzung zu erkennen. Dieser Beschwerdepunkt ist offensichtlich unbegründet und daher gemäß Art. 35 Abs. 3 und Abs. 4 EMRK zurückzuweisen (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

Die Feststellung einer Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK stellt für sich eine ausreichende gerechte Entschädigung für immateriellen Schaden dar. € 1.000,- für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Lawless/IRL v. 1.7.1961, A/3.

Zana/TR v. 25.11.1997 , ÖJZ 1998, 715.

Vereinigung Ekin/F v. 17.7.2001.

Ledru/F v. 6.12.2007.

Vereinigung Bildender Künstler/A v. 25.1.2007, NL 2007, 19; ÖJZ 2007,

618.

Kern/D v. 29.5.2007 (ZE).

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 2.10.2008, Bsw. 36109/03, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2008, 273) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/08_5/Leroy.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

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