EGMR Bsw12556/03

EGMRBsw12556/0315.11.2007

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Pfeifer gegen Österreich, Urteil vom 15.11.2007, Bsw. 12556/03.

 

Spruch:

Art. 8 EMRK, Art. 10 EMRK - Unzureichender Schutz vor Diffamierung. Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art. 8 EMRK (5:2 Stimmen).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 5.000,- für immateriellen Schaden, € 10.000,- für Kosten und Auslagen (5:2 Stimmen).

Text

Begründung

Sachverhalt:

Anfang 1995 erschien im Jahrbuch der Parteiakademie der FPÖ ein Artikel, in dem der an der Universität Münster tätige Politologe P. die Verbrechen des Nazi-Regimes verharmloste und behauptete, die Juden hätten 1933 Deutschland den Krieg erklärt.

Der Bf. warf Herrn P. daraufhin im Februar 1995 in einem Kommentar in dem von ihm herausgegebenen offiziellen Organ der Israelitischen Kultusgemeinde Wien "Die Gemeinde" vor, "Nazi-Diktion" zu verwenden und "die alte Nazi-Mär von der jüdischen Weltverschwörung aufzuwärmen". Das von Herrn P. wegen dieser Vorwürfe gegen den Bf. angestrengte Verfahren wegen übler Nachrede endete mit einem Freispruch. Das OLG Wien stellte in seiner Rechtsmittelentscheidung vom 4.5.1998 fest, bei der vom Bf. geäußerten Kritik handle es sich um ein Werturteil, das auf einer ausreichenden Tatsachengrundlage beruhe.

Im April 2000 erhob die Staatsanwaltschaft wegen des 1995 im Jahrbuch der Freiheitlichen Parteiakademie erschienenen Artikels Anklage gegen P. wegen nationalsozialistischer Wiederbetätigung. Kurz vor Beginn des Prozesses beging P. Selbstmord.

Im Juni 2000 erschien in der rechten Wochenzeitung "Zur Zeit", deren Herausgeber M. der frühere Leiter der Freiheitlichen Parteiakademie ist, ein Artikel mit der Überschrift "Tödlicher Tugendterror". Darin wurde behauptet, der Bf. habe durch seinen Kommentar zu dem 1995 von P. veröffentlichten Artikel eine "Menschenhatz" ausgelöst, die diesen schließlich in den Selbstmord getrieben hätte. Der Artikel war mit Fotos von Politikern, Journalisten und Wissenschaftlern illustriert, die als Mitglieder der "Jagdgesellschaft" bezeichnet wurden, deren Kampagne ein Menschenleben gefordert hätte. Auch der Bf. war auf einem der Fotos abgebildet.

Auf Antrag des Bf. verurteilte das LG für Strafsachen Wien die Medieninhaberin der Zeitschrift „Zur Zeit" am 20.3.2001 zur Zahlung einer Entschädigung nach § 6 MedienG an den Bf., da der Artikel den Tatbestand der üblen Nachrede erfüllte. Aufgrund einer Berufung der beklagten Partei wurde dieses Urteil am 15.10.2001 vom OLG Wien aufgehoben. Nach Ansicht des OLG enthielt der umstrittene Artikel ein Werturteil, das nicht exzessiv war. Die Verwendung des Begriffs "Jagdgesellschaft" würde nicht andeuten, dass eine Gruppe von Personen ihre Aktivitäten koordiniert habe, um die Existenz von Herrn P. zu vernichten. Der Artikel könne daher nicht dahingehend verstanden werden, dass er den Vorwurf beinhalte, der Bf. hätte den Tod von P. vorhergesehen oder geplant. Die Tatsachengrundlage reiche aber aus, um dem Bf. und anderen Personen eine moralische Verantwortung für den Tod von P. vorzuwerfen.

In der Zwischenzeit richtete M. als Herausgeber von "Zur Zeit" einen Brief an die Abonnenten der Zeitschrift, in dem er um finanzielle Unterstützung ersuchte. Als Grund für die finanziellen Schwierigkeiten des Blattes nannte er die hohen Verteidigungskosten in Prozessen wegen übler Nachrede, da "Antifaschisten" versuchen würden, "Zur Zeit" durch zahlreiche Prozesse Schaden zuzufügen. In dem Brief wurden die Vorwürfe wiederholt, der Bf. habe "die juristische Lawine gegen P. ausgelöst" und diesen als Mitglied der "Jagdgesellschaft" in den Selbstmord getrieben.

Der Bf. brachte daraufhin eine weitere Privatanklage gegen M. wegen übler Nachrede und einen Antrag auf eine medienrechtliche Entschädigung gegen die Medieninhaberin von "Zur Zeit" ein. Das LG für Strafsachen Wien vertagte das Verfahren bis zur Entscheidung in dem noch anhängigen ersten vom Bf. angestrengten Verfahren. Nach dem Urteil des OLG Wien vom 15.10.2001 sprach das LG für Strafsachen Wien den Angeklagten vom Vorwurf der üblen Nachrede frei und wies den Antrag auf eine medienrechtliche Entschädigung ab. Das LG stellte fest, dass den beiden Verfahren sehr ähnliche Sachverhalte zugrunde liegen würden und daher die vom OLG angeführten Gründe auch in diesem Fall anwendbar wären. Der umstrittene Brief beinhalte ein Werturteil, das auf einer ausreichenden Tatsachengrundlage beruhe und nicht exzessiv sei. Die Äußerung sei daher von Art. 10 EMRK geschützt. Ein dagegen vom Bf. erhobenes Rechtsmittel wurde vom OLG Wien am 1.8.2002 abgewiesen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK:

Der Bf. bringt vor, die österreichischen Gerichte hätten es verabsäumt, seinen guten Ruf gegen die in dem an die Leser von "Zur Zeit" gerichteten Brief enthaltenen Behauptungen zu schützen.

1. Zur Zulässigkeit der Beschwerde:

Der GH stellt fest, dass die Beschwerde weder offensichtlich unbegründet iSv. Art. 35 Abs. 3 EMRK noch aus einem anderen Grund unzulässig ist. Sie ist daher für zulässig zu erklären (einstimmig).

2. In der Sache selbst:

Zur Anwendbarkeit von Art. 8 EMRK erinnert der GH daran, dass sich das Privatleben auf Aspekte der persönlichen Identität, wie den Namen oder das Bild einer Person erstreckt, und auch die physische und psychische Integrität einschließt.

Im vorliegenden Fall geht es um eine den guten Ruf des Bf. beeinträchtigende Veröffentlichung. In der Rechtsprechung der Konventionsorgane wurde bereits anerkannt, dass das Recht einer Person auf Schutz ihres guten Rufs von Art. 8 EMRK umfasst wird. Nach Ansicht des GH bildet der gute Ruf einer Person, selbst wenn diese Person im Kontext einer öffentlichen Debatte kritisiert wird, einen Teil ihrer persönlichen Identität und psychischen Integrität und fällt daher in den Bereich ihres Privatlebens. Art. 8 EMRK ist daher anwendbar, was von den Parteien auch nicht bestritten wurde. Der Bf. beschwert sich nicht über eine Handlung des Staates, sondern eher über ein Versäumnis, seinen guten Ruf gegen Eingriffe seitens Dritter zu schützen. Der GH erinnert daran, dass aus Art. 8 EMRK auch positive Verpflichtungen des Staates erwachsen können. Die Grenzen zwischen den negativen und den positiven Verpflichtungen des Staates unter Art. 8 EMRK lassen sich nicht eindeutig bestimmen, die anwendbaren Grundsätze sind jedoch ähnlich. In beiden Fällen muss ein gerechter Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen des Individuums und der Gesellschaft insgesamt getroffen werden und in beiden Fällen kommt dem Staat ein gewisser Ermessensspielraum zu. Im vorliegenden Fall geht es im Wesentlichen darum, ob der Staat im Zusammenhang mit seinen positiven Verpflichtungen nach Art. 8 EMRK einen gerechten Ausgleich zwischen dem Recht des Bf. auf Schutz seines guten Rufs und dem durch Art. 10 EMRK garantierten Recht der anderen Partei auf freie Meinungsäußerung getroffen hat. Der vorliegende Fall muss vor dem Hintergrund einer anhaltenden Auseinandersetzung gesehen werden, die in den Medien und vor den Gerichten ausgetragen wurde. Sie begann 1995 mit dem Beitrag von P. in dem Jahrbuch der FPÖ und dem Kommentar des Bf. in der Zeitschrift der Israelitischen Kultusgemeinde, in dem er P. dafür kritisierte, "Nazi-Diktion" zu verwenden. Die von P. gegen den Bf. erhobene Privatanklage blieb erfolglos, da die Gerichte die Kritik des Bf. als zulässiges Werturteil qualifizierten. Nach der Einleitung eines Verfahrens gegen P. wegen Wiederbetätigung und dessen Selbstmord setzte sich die Auseinandersetzung mit einer Veröffentlichung in "Zur Zeit" fort, in welcher der Bf. als Mitglied einer "Jagdgesellschaft" bezeichnet wurde, die P. in den Tod getrieben hätte. Die deswegen vom Bf. erhobene Privatanklage blieb erfolglos.

In dem nun in Rede stehenden Verfahren hatten die Gerichte zu entscheiden, ob die Behauptungen von M. in einem an die Bezieher von "Zur Zeit" gerichteten Brief, mit denen er dem Bf. wiederum vorwarf, Mitglied einer "Jagdgesellschaft" zu sein, die P. in den Selbstmord getrieben hätte, den objektiven Tatbestand der üblen Nachrede erfüllten. Die Gerichte folgten dem in dem vorangegangenen Verfahren gewählten Ansatz und qualifizierten die umstrittene Äußerung als Werturteil, das sich auf eine ausreichende Tatsachengrundlage bezog und nicht exzessiv war.

Die staatliche Verpflichtung zum Schutz des guten Rufs des Bf. nach Art. 8 EMRK kann im Fall von Behauptungen eintreten, welche die Grenzen der nach Art. 10 EMRK akzeptablen Kritik überschreiten. Der GH wird daher prüfen, ob es die Gerichte verabsäumten, den Bf. vor exzessiver Kritik zu schützen.

In Hinblick auf die allgemeinen Grundsätze der Meinungsäußerungsfreiheit im Kontext politischer Debatten erinnert der GH an seine bisherige Rechtsprechung, wonach unter Art. 10 Abs. 2 EMRK wenig Spielraum für Einschränkungen von politischen Äußerungen oder von Debatten von öffentlichem Interesse besteht. Überdies stellt der GH fest, dass der Bf. selbst im öffentlichen Blickfeld stand und seine Kritik an der Veröffentlichung von P. in starken Ausdrücken formulierte.

Die Auseinandersetzung der Parteien bezieht sich zu einem großen Teil auf die Qualifikation des umstrittenen Texts als Tatsachenbehauptung oder Werturteil. In diesem Zusammenhang erinnert der GH an seine ständige Rechtsprechung, wonach die Existenz von Tatsachen bewiesen werden kann, die Wahrheit von Werturteilen hingegen keinem Beweis zugänglich ist. Wenn es sich um ein Werturteil handelt, kann die Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs vom Bestehen einer ausreichenden Tatsachengrundlage abhängen, da selbst ein Werturteil exzessiv sein kann, wenn es nicht durch eine ausreichende Tatsachengrundlage unterstützt wird.

Der GH ist von der Einschätzung der innerstaatlichen Gerichte, es handle sich bei den Behauptungen um Werturteile, nicht überzeugt. Die Behauptung "Karl Pfeifer wurde aus Anlass des Todes von Prof. P. in den Reihen jener Jagdgesellschaft geortet, die den konservativen Politikwissenschafter in den Selbstmord getrieben hat." stellt eindeutig einen kausalen Zusammenhang zwischen den Handlungen des Bf. und anderer Personen und dem Selbstmord von P. her. Dies wurde von den innerstaatlichen Gerichten ausdrücklich anerkannt. Ob eine Handlung in kausalem Zusammenhang zu einer anderen steht, ist keine Frage der Spekulation, sondern eine Tatsache, die einem Beweis zugänglich ist. Obwohl unbestritten ist, dass der Bf. 1995 einen kritischen Kommentar über den Artikel von P. geschrieben hat, und dass P. im Jahr 2000 wegen dieses Artikels nach dem Verbotsgesetz angeklagt wurde und Selbstmord beging, hat die beklagte Partei keinen Beweis für den behaupteten kausalen Zusammenhang zwischen dem Kommentar des Bf. und dem Tod von P. angeboten. Es ist richtig, dass auch Äußerungen, welche die Öffentlichkeit oder eine bestimmte Person schockieren oder verletzen, vom Recht auf freie Meinungsäußerung geschützt sind. Die hier zu beurteilende Äußerung ging jedoch darüber hinaus, da behauptet wurde, der Bf. hätte den Tod von Prof. P. verursacht, indem er ihn in den Selbstmord getrieben hätte. Durch diese Behauptung überschritt der Brief von Herrn M. an die Abonnenten von „Zur Zeit" die Grenzen akzeptabler Kritik, weil er dem Bf. damit Handlungen vorwarf, die einem strafbaren Verhalten gleichkommen. Selbst wenn man die Äußerung insofern als Werturteil verstehen müsste, als sie andeutet, der Bf. und andere wären für den Tod von P. moralisch verantwortlich, entbehrte sie nach Ansicht des GH einer ausreichenden Tatsachengrundlage. Die Verwendung des Ausdrucks "Mitglied einer Jagdgesellschaft" deutet an, dass der Bf. mit dem Ziel, P. zu verfolgen und anzugreifen, in Abstimmung mit anderen handelte. Es gibt aber keinen Hinweis dafür, dass der Bf., der lediglich einen Artikel am Beginn einer Reihe von Ereignissen schrieb und danach keine weiteren Handlungen mehr setzte, in einer solchen Weise oder mit einem solchen Ziel gehandelt hätte. Überdies ist zu berücksichtigen, dass der vom Bf. geschriebene Artikel die Grenzen der akzeptablen Kritik nicht überschritt.

Unter diesen Umständen ist der GH nicht davon überzeugt, dass die von den innerstaatlichen Gerichten vorgebrachten Gründe für den Schutz der Meinungsäußerungsfreiheit gegenüber dem Recht des Bf. auf Sicherstellung seines guten Rufs überwogen. Da es die Gerichte somit verabsäumt haben, einen gerechten Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen zu treffen, liegt eine Verletzung von Art. 8 EMRK vor (5:2 Stimmen; Sondervoten der Richter Loucaides und Schäffer).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

€ 5.000,- für immateriellen Schaden, € 10.000,- für Kosten und Auslagen (5:2 Stimmen; Sondervoten der Richter Loucaides und Schäffer).

Vom GH zitierte Judikatur:

Oberschlick/A (Nr. 2) v. 1.7.1997, NL 1997, 213; ÖJZ 1997, 956. Jerusalem/A v. 27.2.2001, NL 2001, 52; ÖJZ 2001, 693. Feldek/SK v. 12.7.2001, NL 2001, 149; ÖJZ 2002, 814. Schüssel/A v. 21.2.2002 (ZE), ÖJZ 2005, 276.

Scharsach und News Verlagsgesellschaft/A v. 13.11.2003, NL 2003, 307; ÖJZ 2004, 512.

Von Hannover/D v. 24.6.2004, NL 2004, 144; EuGRZ 2004, 404; ÖJZ 2005,

588.

Chauvy u.a./F v. 29.6.2004.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 15.11.2007, Bsw. 12556/03, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2007, 307) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/07_6/Pfeifer.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

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