EGMR Bsw19710/02

EGMRBsw19710/022.11.2006

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Standard Verlags GmbH und Krawagna-Pfeifer gegen Österreich, Urteil vom 2.11.2006, Bsw. 19710/02.

 

Spruch:

Art. 10 EMRK, § 6 MedienG, § 111 StGB - Ausreichende Tatsachengrundlage für ein Werturteil.

Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 16.000,- an die ErstBf. für materiellen Schaden, € 2.000,- an die ZweitBf. für immateriellen Schaden, € 16.000,- für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung

Sachverhalt:

Die ZweitBf. veröffentlichte am 9.10.1998 in der Tageszeitung „Der Standard" einen Kommentar über die FPÖ. Unter dem Titel „Opfer der Anständigen" kritisierte die Journalistin den Führungsstil Jörg Haiders und die Art und Weise, wie er mit seinen Gegnern umging. Im Zusammenhang mit dem Ausschluss eines Mandatars, gegen den ein Verfahren wegen Betrugsverdachts eingeleitet worden war, meinte sie, der Ausschluss sei nicht wegen dieses Strafverfahrens erfolgt. Dieses sei „Jörg Haider ziemlich egal, zumal er sich dann auch selbst aus der FPÖ ausschließen müsste." Immerhin sei Haider selbst „in erster Instanz in einem Strafverfahren verurteilt" worden, „weil er den guten Ruf eines Menschen und damit dessen Zukunftschancen ruiniert" habe.

Dieser Hinweis bezog sich auf eine Verurteilung Haiders durch das LG für Strafsachen Wien, das ihn am 1.10.1998 der versuchten üblen Nachrede für schuldig befunden hatte. Dieser Hintergrund fand zwar in dem Kommentar der ZweitBf. keine Erwähnung, war jedoch Gegenstand eines Berichts im „Standard" vom 2.10.1998. Darin wurde über die Verurteilung Haiders und seines Anwalts Dieter Böhmdorfer berichtet, die ehrenrührige Vorwürfe gegen einen Professor für Finanzrecht erhoben hatten. Haider hatte diesen Professor 1992 in die Nähe eines Autobahnskandals gerückt und so dessen Kandidatur für das Amt des Rechnungshofpräsidenten verhindert. Aufgrund zivilrechtlicher Klagen war Haider verpflichtet worden, seine Vorwürfe im Fernsehen zu widerrufen. Das zu diesem Zweck angefertigte Videoband enthielt jedoch wiederum ehrenrührige Vorwürfe, weshalb es nicht gesendet wurde. Dieses Videoband war der Grund für die Verurteilung Haiders und Böhmdorfers wegen versuchter übler Nachrede.

Aufgrund eines Antrags Jörg Haiders nach § 6 MedienG verurteilte das LG St. Pölten die ErstBf. am 24.3.2000 zur Zahlung einer Entschädigung von ATS 20.000,- (€ 1.453,-) und zur Urteilsveröffentlichung. Nach Ansicht des LG erfüllte der Vorwurf, Haider sei verurteilt worden, weil er den guten Ruf eines Menschen und damit dessen Zukunftschancen ruiniert habe, den objektiven Tatbestand der üblen Nachrede nach § 111 StGB. Die ErstBf. habe die Wahrheit dieser Behauptung nicht bewiesen, da Haider nur wegen des Versuchs der üblen Nachrede verurteilt worden sei. Die ZweitBf. wurde freigesprochen.

Beide Parteien erhoben Berufung gegen dieses Urteil. Die ErstBf. brachte unter anderem vor, das LG St. Pölten habe ihre Beweisanträge - insbesondere auf Befragung einiger Mitarbeiter des ORF, die das Band gesehen hatten - nicht behandelt. Das OLG Wien verurteilte die ZweitBf. am 10.10.2001 wegen übler Nachrede zu einer bedingt nachgesehenen Geldstrafe von ATS 15.000,- (€ 1.090,-). Die Berufung der ErstBf. wurde abgewiesen. In Hinblick auf die Beweisanträge stellte das OLG fest, diese seien irrelevant gewesen, da in dem Artikel die Vernichtung des guten Rufs gegenüber der allgemeinen Öffentlichkeit und nicht gegenüber Mitarbeitern des ORF behauptet worden sei.

Inzwischen hatte Jörg Haider auch eine Klage nach § 1330 ABGB eingebracht. Das LG St. Pölten ordnete mit Urteil vom 28.7.2002 die Unterlassung der umstrittenen Behauptung, deren Widerruf sowie die Urteilsveröffentlichung an. Es stellte fest, dass eine in einem Strafverfahren verurteilte Person sich in einem Nachfolgeprozess nicht darauf berufen könne, die Tat nicht begangen zu haben. Das LG St. Pölten erachtete sich daher an das medienrechtliche Urteil des OLG Wien vom 10.10.2001 gebunden. Das OLG Wien bestätigte dieses Urteil. Die außerordentliche Revision der Bf. wurde vom OGH am 26.6.2003 zurückgewiesen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupten eine Verletzung von Art. 10 EMRK (Recht auf freie Meinungsäußerung) und Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK:

Die Bf. behaupten, die Entscheidungen der Gerichte im medien- und im zivilrechtlichen Verfahren hätten ihr Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt. Außerdem bringen sie vor, die Gerichte hätten ihre Anträge auf Befragung einiger Zeugen zu Unrecht abgewiesen.

Der GH stellt fest, dass die Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet ist. Da sie auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist, muss sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Der vorliegende Fall betrifft zwei verschiedene von Jörg Haider wegen des Kommentars im „Standard" vom 9.10.1998 angestrengte Verfahren gegen die Bf. Es ist unbestritten, dass die Urteile in beiden Verfahren einen Eingriff in das Recht der Bf. auf freie Meinungsäußerung darstellen. Es steht auch außer Streit, dass der Eingriff gesetzlich vorgesehen war und mit dem Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer einem legitimen Ziel diente. Daher ist zu prüfen, ob der Eingriff auf ausreichenden Gründen beruhte und verhältnismäßig zum verfolgten Ziel war. Die beiden Verfahren stehen in sehr engem Zusammenhang zueinander, da sie den gleichen Sachverhalt und ähnliche Rechtsfragen betrafen. Der GH wird sie daher gemeinsam prüfen.

Der GH wird dabei die Stellung der Bf. und jene von Jörg Haider sowie Charakter und Gegenstand des umstrittenen Artikels berücksichtigen. Die ErstBf. ist Medieninhaberin einer der führenden Tageszeitungen Österreichs, die ZweitBf. war zur gegenständlichen Zeit Leiterin des Ressorts Innenpolitik. In diesem Zusammenhang erinnert der GH an die Aufgabe der Presse, Informationen und Meinungen über alle Angelegenheiten von öffentlichem Interesse zu verbreiten. Herr Haider ist ein bekannter Politiker, der damals Parteichef der FPÖ war. Nach ständiger Rechtsprechung des GH sind die Grenzen zulässiger Kritik in Bezug auf Politiker weiter als bei Privatpersonen.

Bei dem umstrittenen Artikel handelte es sich um einen Kommentar, der den Führungsstil Jörg Haiders kritisierte und ihm vorwarf, Parteimitglieder nach eigenem Gutdünken fallen zu lassen und zugleich andere trotz ihrer strafrechtlichen Verurteilung weiterhin zu unterstützen. Der Hinweis auf die Verurteilung Haiders erfolgte in diesem Zusammenhang.

Die österreichischen Gerichte qualifizierten die umstrittene Äußerung „immerhin wurde Haider in erster Instanz in einem Strafverfahren verurteilt, weil er den guten Ruf eines Menschen und damit dessen Zukunftschancen ruiniert hat" als Tatsachenbehauptung, deren Wahrheit nicht bewiesen worden sei. Dabei maßen sie der Tatsache großes Gewicht bei, dass Herr Haider nur wegen des Versuchs der üblen Nachrede verurteilt worden war und stellten fest, dass dies nicht den Schluss zulasse, er habe den guten Ruf und die Zukunftschancen eines Menschen ruiniert. Der GH ist von diesem Ansatz der innerstaatlichen Gerichte nicht überzeugt, da er den Charakter des Artikels als politischer Kommentar und den Zusammenhang zu dem eine Woche zuvor im „Standard" veröffentlichten Bericht über die Verurteilung Haiders außer Acht lässt.

Nach Ansicht des GH enthielt die umstrittene Phrase eine Tatsachenbehauptung und ein Werturteil. Der erste Teil des Satzes bezog sich auf die Verurteilung Jörg Haiders und erwähnte damit ein faktisches Element, während sein zweiter Teil ein Werturteil enthielt, nämlich die Einschätzung der Journalistin, Haider habe den guten Ruf und die Zukunftschancen eines Menschen ruiniert. Während das Bestehen von Tatsachen bewiesen werden kann, ist die Wahrheit eines Werturteils nach der ständigen Rechtsprechung des GH einem Beweis nicht zugänglich. Wenn eine Äußerung ein Werturteil darstellt, kann die Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs vom Bestehen einer ausreichenden faktischen Grundlage abhängen, da auch ein Werturteil exzessiv sein kann, wenn es jeder faktischen Grundlage entbehrt. Es bleibt daher zu prüfen, ob die Tatsachenbehauptung der Wahrheit entsprach und ob sie - möglicherweise in Verbindung mit dem eine Woche vorher im „Standard" veröffentlichten Artikel - eine ausreichende faktische Grundlage für das Werturteil bildete. Die Tatsache der Verurteilung Jörg Haiders ist unbestritten. Der Kommentar selbst erwähnte keine Details über diese Verurteilung, sondern nannte nur die erstinstanzliche Verurteilung, ohne das Delikt zu erwähnen, wegen dem Haider verurteilt worden war. Die Notwendigkeit einer Verbindung zwischen einem Werturteil und den es stützenden Fakten hängt jedoch von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls ab. Die Notwendigkeit, auf diese Fakten hinzuweisen, ist weniger zwingend, wenn sie der allgemeinen Öffentlichkeit bereits bekannt sind.

Im vorliegenden Fall hatte der „Standard" eine Woche zuvor über den Hintergrund der Verurteilung von Herrn Haider wegen übler Nachrede berichtet. Der Artikel bezog sich auf den jahrelangen Rechtsstreit zwischen Haider und einem Professor für Finanzrecht, dessen Kandidatur für das Amt des Rechnungshofpräsidenten Haider durch falsche Beschuldigungen verhindert hatte. Haider war in diesem Verfahren zum Widerruf der Vorwürfe im Fernsehen verpflichtet worden. Das zu diesem Zweck angefertigte Videoband hatte wiederum ehrenrührige Vorwürfe enthalten. Nach Ansicht des GH lag unter diesen Umständen eine ausreichende faktische Grundlage für die umstrittene Behauptung vor. Das öffentliche Interesse am Empfang von Informationen über die persönliche Glaubwürdigkeit eines führenden Politikers überwog nach Ansicht des GH gegenüber dessen Interesse am Schutz seines guten Rufs.

Was die Verurteilung der ZweitBf. in dem medienrechtlichen Verfahren betrifft, stellt der GH fest, dass sie vom LG freigesprochen worden war, da sie in gutem Glauben gehandelt hätte. Sie sei bei der Verkündung des Urteils gegen Haider anwesend gewesen und habe dabei den Eindruck gewonnen, dass er den guten Ruf und die Zukunftschancen des von ihm angegriffenen Professors ruiniert hätte. Im Gegensatz dazu wurde sie vom OLG Wien verurteilt, da der Beweis des guten Glaubens nach § 111 Abs. 3 StGB in Fällen, in denen wie im vorliegenden eine ehrenrührige Äußerung in einem Medium erfolgte, unzulässig sei. In diesem Zusammenhang erinnert der GH an seine ständige Rechtsprechung, wonach der Journalisten durch Art. 10 EMRK gewährte Schutz in Bezug auf Berichte über Angelegenheiten des öffentlichen Interesses davon abhängt, dass sie in gutem Glauben handeln, um in Übereinstimmung mit der journalistischen Ethik zuverlässige und sachliche Informationen zu liefern. Im vorliegenden Fall hat die ZweitBf. in gutem Glauben gehandelt, konnte ihre Verteidigung aber nicht darauf stützen, da dies nach österreichischem Recht ausgeschlossen ist, wenn eine üble Nachrede in einem Medium begangen wird.

Abschließend wendet sich der GH dem Argument der Bf. zu, die Gerichte hätten es verabsäumt, die von ihnen vorgeschlagenen Beweise aufzunehmen. Das OLG Wien stellte in seinem Urteil vom 10.10.2001 fest, dass diese Beweis­anträge nicht relevant gewesen seien, da sich aus dem Text des Artikels ergebe, dass die Bf. Herrn Haider nicht vorwarfen, den guten Ruf des Professors für Finanzrecht in Bezug auf Mitarbeiter des ORF ruiniert zu haben. Der GH stimmt dieser Auffassung zu. In dem Artikel wurde Herrn Haider vorgeworfen, den guten Ruf und die Zukunftschancen der von ihm angegriffenen Person gegenüber der allgemeinen Öffentlichkeit ruiniert zu haben. Der GH gelangt zu dem Schluss, dass die von den Gerichten vorgebrachten Gründe nicht ausreichend waren, um den Eingriff zu rechtfertigen. Auch das Argument der Regierung, die verhängten Sanktionen wären verhältnismäßig gewesen, vermag nicht zu überzeugen. Insbesondere in Hinblick auf die ZweitBf. ist nicht entscheidend, dass die Geldstrafe relativ moderat war, sondern dass sie überhaupt verurteilt wurde.

Da der Eingriff somit nicht notwendig in einer demokratischen Gesellschaft war, liegt eine Verletzung von Art. 10 EMRK vor (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Jebens).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 EMRK:

Die Bf. beschweren sich über die Weigerung der Gerichte, eine Reihe von Zeugen zu befragen, die von ihnen namhaft gemacht wurden. Angesichts der unter Art. 10 EMRK getroffenen Feststellungen erachtet der GH eine gesonderte Behandlung der behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht für notwendig (4:3 Stimmen; Sondervotum von Richter Rozakis, Richterin Tulkens und Richter Spielmann).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

€ 16.000,- an die ErstBf. für materiellen Schaden, € 2.000,- an die ZweitBf. für immateriellen Schaden, € 16.000,- für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Lingens/A v. 8.7.1986, A/103, EuGRZ 1986, 424.

Prager und Oberschlick/A v. 26.4.1995, A/313, NL 1995, 121; ÖJZ 1995,

675.

Oberschlick/A (Nr. 2) v. 1.7.1997, NL 1997, 213; ÖJZ 1997, 956. Jerusalem/A v. 27.2.2001, NL 2001, 52; ÖJZ 2001, 693. Feldek/SK v. 12.7.2001, NL 2001, 149; ÖJZ 2002, 814. Unabhängige Initiative Informationsvielfalt/A v. 26.2.2002, NL 2002, 29; ÖJZ 2002, 468.

Scharsach und News Verlagsgesellschaft/A v. 13.11.2003, NL 2003, 307;

ÖJZ 2004, 512.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 2.11.2006, Bsw. 19710/02, entstammt der Zeitschrift „Newsletter Menschenrechte" (NL 2006, 291) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/06_6/Krawagna-Pfeifer.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

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