EGMR Bsw66298/01 (Bsw15653/02)

EGMRBsw66298/01 (Bsw15653/02)13.12.2005

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Wirtschafts-Trend Zeitschriften-Verlags GmbH (Nr. 3) gegen Österreich, Urteil vom 13.12.2005, Bsw. 66298/01 und 15653/02.

 

Spruch:

Art. 10 EMRK, § 6 MedG, § 111 StGB, § 78 UrhG - Untersagung der Veröffentlichung eines Bildes.

Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 11.355,64 für materiellen Schaden, € 20.060,51 für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung

Sachverhalt:

Die Bf. ist Medieninhaberin und Herausgeberin des Wochenmagazins „profil", in der am 15.6.1998 ein Artikel über den Nationalratsabgeordneten R. und seine Lebensgefährtin G. erschien. Unter dem Titel „Tagebuch einer Flucht" wurde geschildert, wie sich das Paar im April 1998 nach Brasilien abgesetzt hatte, nachdem gegen Herrn R. ein Strafverfahren wegen des Verdachts der Untreue und des Betrugs eingeleitet worden war. In dem Artikel, der mit einem Foto des Paares illustriert war, wurden die beiden wiederholt als „Bonnie und Clyde" bezeichnet. Im Zusammenhang mit der Schilderung der am 5.6.1998 in Brasilien erfolgten Festnahme von Herrn R. enthielt der Artikel folgenden Satz: „Zurück bleibt C.G., gegen die nichts vorliegt."

Frau G. strengte am 20.11.1998 ein medienrechtliches Entschädigungsverfahren nach § 6 MedG an. Sie behauptete, die Bf. habe durch den Artikel den objektiven Tatbestand der üblen Nachrede erfüllt. Der Vergleich mit den Straftätern „Bonnie und Clyde" hätte den Eindruck erweckt, sie sei an den von Herrn R. begangenen Straftaten beteiligt gewesen.

Das LG Wiener Neustadt wies den Antrag am 7.4.1999 ab, da aus dem Vergleich von Frau G. mit „Bonnie" kein Vorwurf der Beteiligung an den Herrn R. vorgeworfenen strafbaren Handlungen abgeleitet werden könne.

Dieses Urteil wurde am 4.11.1999 vom OLG Wien aufgehoben. „Bonnie und Clyde" seien gewalttätige Verbrecher gewesen, das Herstellen einer Verbindung zwischen diesen und Frau R. habe daher den objektiven Tatbestand der üblen Nachrede erfüllt. Das OLG verwies die Sache daher an das LG Wiener Neustadt zurück, das die Bf. am 3.2.2000 zur Zahlung einer Entschädigung in der Höhe von ATS 20.000,- (€ 1.453,46) verurteilte und ihr die Urteilsveröffentlichung auferlegte. Die dagegen erhobene Berufung wurde vom OLG Wien am 9.8.2000 abgewiesen. Parallel zu dem medienrechtlichen Entschädigungsverfahren erhob Frau G. am 9.2.1999 beim LG Wiener Neustadt Klage nach § 78 UrhG und begehrte, dass der Bf. die Veröffentlichung ihres Bildnisses im Zusammenhang mit der Berichterstattung über das Strafverfahren gegen R. oder im Zusammenhang mit der Bezeichnung als „Bonnie und Clyde" untersagt werde.

Am 19.2.1999 erließ das LG Wiener Neustadt eine einstweilige Verfügung. Das OLG Wien gab dem Rekurs der Bf. statt und wies den Sicherungsantrag ab.

Der OGH gab dem Revisionsrekurs von Frau R. teilweise Folge und untersagte der Bf. mittels einstweiliger Verfügung, Bildnisse von Frau R. zu veröffentlichen, wenn gleichzeitig sie und Herr R. als „Bonnie und Clyde" bezeichnet würden. Der OGH stellte fest, dass durch die Gleichsetzung von Herrn R. und Frau G. mit dem Verbrecherpaar „Bonnie und Clyde" der Klägerin unterstellt werde, in die kriminellen Machenschaften von Herrn R. verwickelt zu sein. Das LG Wiener Neustadt gab der Klage von Frau G. am 2.2.2001 statt und untersagte der Bf. die Veröffentlichung von Bildnissen der Klägerin unter gleichzeitiger Bezeichnung von ihr und Herrn R. als „Bonnie und Clyde". Das OLG Wien wies eine dagegen erhobene Berufung ab, der OGH wies die außerordentliche Revision der Bf. am 12.9.2001 zurück.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 10 EMRK (Freiheit der Meinungsäußerung) durch ihre Verurteilung nach dem MedG und die Untersagung der Veröffentlichung von Bildern von Frau R. nach § 78 UrhG.

Zur behaupteten Verletzung von Art 10 EMRK:

Es ist unbestritten, dass die Verurteilung der Bf. nach dem MedG und der auf § 78 UrhG gestützte Unterlassungsauftrag einen Eingriff in das Recht der Bf. auf freie Meinungsäußerung darstellen. Außer Streit steht auch, dass der Eingriff in § 6 MedG iVm. § 111 StGB bzw. in § 78 UrhG gesetzlich vorgesehen war und dem legitimen Ziel des Schutzes des guten Rufes und der Rechte anderer diente.

In dem Verfahren nach dem MedG stellten die Gerichte fest, es habe sich bei „Bonnie und Clyde" um gewalttätige Straftäter gehandelt. Daraus schlossen sie, der zwischen Frau G. und „Bonnie" hergestellte Zusammenhang beinhalte die Behauptung, sie sei in strafbare Handlungen verwickelt, was den objektiven Tatbestand der üblen Nachrede erfülle.

Nach Ansicht des GH reicht die bloße Tatsache, dass Frau G. in dem Artikel wiederholt als „Bonnie" bezeichnet wurde, nicht aus, um beim Leser den falschen Eindruck zu erwecken, sie wäre an den von Herrn R. begangenen Straftaten beteiligt gewesen. Das Strafverfahren gegen den Nationalratsabgeordneten R. hatte großes öffentliches Interesse hervorgerufen und die Art und Umstände der ihm vorgeworfenen Straftaten waren allgemein bekannt. Der umstrittene Artikel bezog sich allerdings nicht auf das anhängige Verfahren gegen Herrn R., sondern nur auf seine Flucht und anschließende Festnahme. In diesem Zusammenhang wurde auch seine Lebensgefährtin G. erwähnt, die ihn auf seiner Flucht begleitet hatte.

Die beiden hatten Österreich im April 1998 verlassen und Herr R. wurde am 5.6.1998 in Brasilien verhaftet. Der am 15.6.1998 erschienene Artikel beabsichtigte nicht, die Öffentlichkeit über diese Ereignisse zu informieren, die als bekannt vorausgesetzt wurden. Er zielte vielmehr darauf ab, die jüngeren Umstände der Flucht und der Verhaftung zu beschreiben. Dies geschah in einer ironischen Art, um den Leser davon zu überzeugen, dass die Flucht - entgegen manchen Gerüchten - in Wirklichkeit banal war. Bezüglich Frau G. wurde ausdrücklich festgehalten, dass kein Verdacht gegen sie bestehe.

Dem GH erscheint daher die Schlussfolgerung, dass der Vergleich von Frau G. mit „Bonnie" den Vorwurf einer Beteiligung an strafbaren Handlungen beinhalte, weit hergeholt. Angesichts des Inhalts des Artikels und seines ironischen Stils ist der GH eher der Ansicht, dass der durchschnittliche Leser „Bonnie und Clyde" als Synonym für ein Pärchen auf der Flucht verstanden hätte. Durch diese Anspielung hat die Bf. die Grenzen des zulässigen Journalismus nicht überschritten. Der GH wird in dieser Ansicht dadurch bestärkt, dass Frau G. durch ihre Flucht mit Herrn R. und die Interviews, die sie darüber gegeben hat, die öffentliche Arena betreten hat und daher einen höheren Grad der Toleranz an den Tag legen musste. Was den Unterlassungsauftrag nach § 78 UrhG betrifft, stellt der GH fest, dass der OGH die Veröffentlichung des Fotos von Frau G. nicht generell untersagte, sondern nur im Zusammenhang mit der Bezeichnung von ihr und Herrn R. als „Bonnie und Clyde".

Frau G. hat, indem sie Herrn R., der Nationalratsabgeordneter war und dessen Strafverfahren großes öffentliches Interesse fand, auf der Flucht begleitete, die öffentliche Arena betreten und musste daher die Konsequenzen ihrer Entscheidung tragen. Durch das umstrittene Foto wurde keine Details über ihr Privatleben preisgegeben und sie hatte der Aufnahme auch nicht widersprochen. Überdies fand sich die umstrittene Bezeichnung von Frau G. und Herrn R. als „Bonnie und Clyde" nicht in einer Überschrift oder einer Bildunterschrift, sondern auf einer anderen Seite im Text des oben erwähnten Artikels. Aus den oben ausgeführten Gründen teilt der GH nicht die Ansicht der Regierung, dieser Artikel habe beim Leser den Eindruck erweckt, Frau G. sei in die Herrn R. vorgeworfenen Straftaten verwickelt gewesen. Der Zusammenhang zu diesem Text stellt daher keine maßgeblichen und ausreichenden Gründe dar, welche die angefochtene Untersagung der Veröffentlichung des Fotos von Frau G. gerechtfertigt hätten. Im Ergebnis stellt der GH fest, dass die Gerichte durch die Verurteilung der Bf. nach dem MedG und den Unterlassungsauftrag nach dem UrhG ihren Ermessensspielraum überschritten haben und diese Maßnahmen nicht in einer demokratischen Gesellschaft notwendig waren. Daher liegt eine Verletzung von Art. 10 EMRK vor (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

€ 11.355,64 für materiellen Schaden, € 20.060,51 für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Tammer/EST v. 6.2.2001, NL 2001, 29.

Jerusalem/A v. 27.2.2001, NL 2001, 52; ÖJZ 2001, 693.

Krone Verlag GmbH/A v. 26.2.2002, ÖJZ 2002, 466.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 13.12.2005, Bsw. 66298/01 und 15653/02, entstammt der Zeitschrift „Newsletter Menschenrechte" (NL 2005,298) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/05_6/Wirtschafts-Trend.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte